Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der mündliche Vortrag ohne Schriftstütze
2.1. Die Eingangsinitiale der St. Galler Handschrift
2.1.1. Aufsatz von Christel Meier zur Unterstützung der These von Haferland
2.1.2. Die fehlende Prologstrophe in der St. Galler Handschrift
2.1.3. Persönliche Stellungnahme
2.2. Der Epilog der ‘Klage’
2.2.1. Das in der ‘Klage’ vorgestellte Überlieferungsmodell des ‘Nibelungenlied’
2.2.2. Stellungnahme Haferlands zu diesem Überlieferungsmodell
2.3. Das ‘Nibelungenlied’ als mündlicher Vortrag, im Sinne einer „composition in performance“ (Dichten aus dem Stegreif)
2.3.1. Was sind „Formeln“?
2.3.2. Oral-Formulaic Theory von Parry und Lord
2.3.3. Die Stellungnahme Haferlands zu der Oral-Formulaic Theory
2.3.4. Stellungnahme anderer Forscher
2.3.5. Was blieb von dieser Theorie noch übrig?
2.3.6. Persönliche Stellungnahme
3. Der mündliche Vortrag mit Schriftstütze
3.1. Der auswendig gelernte Vortrag
3.1.1. Die poetische Sprache
3.1.2. Die Funktion von Rhythmus und Reim
3.1.3. Die Funktion von Vers und Strophen
3.1.4. Die Funktion von Melodie und Tanz
3.1.5. Hypothese Haferlands
3.1.6. Die Theorie von Curschmann
3.1.7. Stellungnahme Haferlands zur Theorie von Curschmann
3.2. Der vorgelesene Vortrag
3.2.1. Was spricht für einen vorgelesenen Vortrag?
3.2.2. Was spricht gegen diese zwei Punkte für einen vorgelesenen Vortrag?
4. Die Repräsentivität der Handschriften A, B und C
4.1. Die Münchener Handschrift (A)
4.2. Die St. Galler Handschrift (B)
4.3. Die Hohenems-Lassbergsche ‘Nibelungenlied’-Handschrift (C)
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
6.1. Primärliteratur
6.2. Sekundärliteratur
1. Einleitung
In aller Regel besteht die Vortragsform der höfischen Dichtung im Vorlesen durch den Autor oder einen Vorleser. Selten mag es zu einer einsamen Lektüre gekommen sein. ‘Erec‘, ‘Iwein‘, ‘Parzival‘ usw. sind Buchdichtungen. Das ‘Nibelungenlied’ gliedert sich mit seinem Inhalt über höfische Lebensformen durchaus auch in diese Reihe ein. Doch in seinem Vortrag differenziert es sich auffällig vom neuen höfischen Literaturbetrieb.[1]
Das ‘Nibelungenlied’ stellt ein gewichtiger Bestandteil der deutschsprachigen Literatur um 1200 dar. Das Original des ‘Nibelungenliedes’ ist nicht erhalten, überliefert wurden aber über 35 Handschriften und Handschriftenfragmente.
In den meisten Handschriften ist das ‘Nibelungenlied’ in insgesamt 39 so genannte âventiuren eingeteilt, welche als Kapitel verstanden werden können.[2] Es besteht aus 2379 Strophen, welche jeweils vier Langzeilen aufweist.[3]
Aufgrund des Umfanges des ‘Nibelungenliedes’ ging man bislang davon aus, dass es vor Jahrhunderten als schriftliche Dichtung verfasst und beim Vortrag abgelesen wurde. Doch war dem wirklich so? Harald Haferland, der an der Freien Universität Berlin Altgermanistik lehrt, ist diesem Problem in seinem Aufsatz über die „Mündlichkeit des ‘Nibelungenliedes’ “[4] auf den Grund gegangen.
In meinem Interesse liegt es nun, einen Überblick über diesen Aufsatz und dessen Hypothesen zu verschaffen, kritisch dazu Stellung zu nehmen und einige neue Punkte aufzugreifen.
2. Der mündliche Vortrag ohne Schriftstütze
2.1. Die Eingangsinitiale der St. Galler Handschrift
In der Eingangsinitiale der St. Galler Handschrift des ‘Nibelungenliedes’ (Hs. B) wird eine Person mit einer rhetorischen Geste dargestellt. Diese Geste ist eine Variante des so genannten Fingerrings, welcher von Quintilian für den Anfang einer Rede oder für die narratio empfohlen wurde und allgemein formuliert, die Aufmerksamkeit der Zuhörer fokussieren soll.[5]
Für Haferland ist der unmittelbare Zeugniswert der Initiale gering anzusetzen, „da die Geste wohl kaum nördlich der Alpen und wohl schon gar nicht beim Vortrag des ‘Nibelungenliedes’ verwendet wurde.“[6] Trotzdem lässt sich erahnen, wie sich der Illustrator den Vortrag gedacht hat: als einen Vortrag, der ohne unmittelbare Schriftstütze auskam. Haferland ist der Meinung, dass wenn es nicht so gewesen wäre, der Illustrator dem Vortragenden ein Buch zum Vorlesen in die Hand hätte geben können. Für ihn bezeugt die Initiale, dass man das ‘Nibelungenlied’ zur mündlichen Dichtung rechnen kann, mündlich in dem Sinn, dass beim Vortrag kein Vortragsskript Verwendung fand. Der Vortrag kommt so also einer aus dem Gedächtnis abgerufenen Rede gleich.[7]
2.1.1. Aufsatz von Christel Meier zur Unterstützung der These von Haferland
Christel Meier behandelt in ihren Aufsatz „Ecce auctor“ den Autor und die verschiedenen Autorenbilder in der Ikonographie. Im Kapitel 3 schreibt sie über den „Autor mit seinem Buch oder mit dessen Lerninhalten“ folgendes:
Ein Autorenbild, in dem der Autor mit seinem Buch in der Hand […] dargestellt ist, hat man Repräsentationsbild genannt. Es geht offensichtlich darum, das Bewusstsein von einem Urheber des vorliegenden Textes zu bekräftigen, der gezeigt wird, ohne dass dadurch weitere Aussagen zu Autor oder Werk gemacht würden. Aufgrund des Buchs, eines Zeichens oder Attributs, repräsentiert die dargestellte Person den Autor. Er ist damit aber im Bildkontext des hohen Mittelalters auch ein Abbild des in vielen Majestas- und Gottesbildern erscheinenden göttlichen Autors mit dem Buch. Diese Bildformel `der Autor mit seinem Werk`, die recht einfach die Autorinstanz markiert, ist in der Enzyklopädie-Überlieferung nicht oft gewählt worden gegenüber der hohen Zahl solcher Bilder, die Schreibertätigkeit oder Vermittlung der Inhalte an Hörer darstellen.[8]
Christel Meier unterstützt damit die These von Haferland. Sie zeigt auf, dass es wirklich auch Initialen gegeben hat, in denen der Autor mit einem Buch dargestellt wurde. Folglich kann man die Initiale mit dem Fingerring wirklich als Sinnbild eines auswendig gelernten mündlichen Vortrages verstehen.
2.1.2. Die fehlende Prologstrophe in der St. Galler Handschrift
In der St. Galler Handschrift ist die Prologstrophe (Uns ist in alten maeren wunders vil geseit...) nicht vorhanden.
Ein Prolog hat mehrere Aufgaben, welche in drei unterschiedliche Punkte unterteilt werden können: im Bezug auf den Autor (Selbstnennung, Nennung des Auftraggebers), im Bezug auf das Werk (Quellennennung, Nennung der Funktion des Werkes) und im Bezug auf das Publikum (Anweisung zur Rezeptionshaltung).
Wie in Kapitel 2.1 bereits erklärt, stellt die Initiale eine Person dar, die spricht und kein Buch in der Hand hält. Diese Initiale übernimmt nun die Aufgabe des Prologs. Sie stellt den Prolog sozusagen symbolisch dar und zeigt uns im Bezug auf das Publikum die Rezeptionshaltung auf: ein mündlicher, auswendig gelernter Vortrag. Die These Haferlands wird somit ein zweites Mal bestätigt.
2.1.3. Persönliche Stellungnahme
Aufgrund des Aufsatzes von Christel Meier und der Tatsache der fehlenden Prologstrophe kann ich der These von Haferland nur zustimmen. Es scheint einleuchtend, dass die Initiale darstellt, wie das ‘Nibelungenlied’ vorgetragen wurde und da die Person kein Buch in den Händen trägt, ist Haferlands Schlussfolgerung meiner Meinung nach richtig.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Initiale vielleicht nur den Inhalt und nicht die Aufgabe der Prologstrophe symbolisiert Uns ist in alten maeren wunders vil geseit.... Dies würde bedeuten, dass die Initiale nur zeigt, dass der Nibelungenstoff vor der schriftlichen Fixierung bereits mündlich vorhanden war.
Interessant ist auch, dass die Hypothese Haferlands nur an der Handschrift B bestätigt werden kann. Denn weder Handschrift A noch Handschrift C weist eine ähnlich Initiale auf, noch fehlt die Prologstrophe. Es ist also fraglich, ob diese Hypothese auf das ‘Nibelungenlied’ im Allgemeinen zutrifft.
2.2. Der Epilog der ‘Klage’
Alle vollständigen Handschriften des ‘Nibelungenliedes’ enthalten auch die ‘Klage’. Der Autor der ‘Klage’ geht vom Inhalt der letzten Strophe des ‘Nibelungenliedes’ aus und berichtet, wie es nach dem blutigen Ende weitergeht.[9]
Im Epilog scheint die ‘Klage’ wichtige Hinweise auf die Quellensituation von ‘Nibelungenlied’ und ‘Klage’ zu geben. Die vielen Fragen, die dabei aufgekommen sind, konnten jedoch bis heute nicht beantwortet werden.[10]
2.2.1. Das in der ‘Klage’ vorgestellte Überlieferungsmodell des ‘Nibelungenlied’
Die ‘Klage’ schildert den anscheinenden Überlieferungsvorgang des ‘Nibelungenlied’: Der Spielmann Swemmel, der Augenzeuge des Nibelungenuntergangs und Bote der Katastrophe, erzählt dem Passauer Bischof Pilgrim alles haargenau. Pilgrim sorgt dafür, dass Swemmels Bericht durch einen Schreiber, meister Kuonrât, aufgeschrieben wird und zwar in lateinischer Sprache. Auf Konrads Text gehen, der ‘Klage’ zufolge, die Dichtungen zurück, die von dem Ereignis überall verbreitet wurden.[11]
2.2.2. Stellungnahme Haferlands zu diesem Überlieferungsmodell
Dieses Überlieferungsmodell liefert uns eigentlich noch keine Kenntnisse über einen schriftgestützten Vortrag des ‘Nibelungenlied’.
In den Versen 44-49 ist es jedoch auffällig, dass der Dichter zwischen rede und maere unterscheidet:
Der rede meister hiez daz
tihten an dem maere,
wie rîch der künic [Etzel] waere.
Diu rede ist genuoc wizzenlîch:
er het aller tegelîch
zwelf ander künige under im. (v. 44-49)[12]
Die rede bezieht sich vorerst auf den Text des ‘Nibelungenliedes’ und seinen Inhalt. Maere wird nun für die aufgezeichnete Geschichte verwendet. Folglich wird der Begriff rede frei für die zusätzliche Konnotation des mündlichen Vortrages.[13]
Haferland zufolge enthielt das ‘Nibelungenlied’ „also ein maere, das in Form eines buoches existierte und doch zugleich als eine rede im Wortsinn, d.h. ohne Buchstützen, zum Vortrag gelangte – wie die Initiale der Handschrift B es zeigt.“[14]
2.2.3 Persönliche Stellungnahme
Es ist richtig, dass die ‘Klage’ bei der Formulierung einer Hypothese mitbeachtet wird, da sie meist mit dem Lied zusammen vorkam. Die ‘Klage’ scheint also für das Verständnis des ‘Nibelungenliedes’ wichtig zu sein.
Die These von Haferland, die sich auf eine unterschiedliche Konnotation von rede und maere stützt, ist gut nachvollziehbar und scheint einleuchtend.
2.3. Das ‘Nibelungenlied’ als mündlicher Vortrag, im Sinne einer „composition in performance“ (Dichten aus dem Stegreif)
Die „composition in performance“ besagt, dass das ‘Nibelungenlied’ aus immer wieder ähnlich aussehenden Einheiten, so genannten Formeln besteht. Der Dichter kann sich also auf diese Formeln stützen und das Übrige frei dazu dichten. Er muss nicht den genauen Wortlaut wiedergeben.
[...]
[1] Vgl. Harald Haferland, Der auswendige Vortrag. Überlegungen zur Mündlichkeit des ´Nibelungenliedes´, in: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. von Ludger Lieb und Stephan Müller, Berlin/New York 2002, S. 245 - 282, hier: S. 280.
[2] Vgl. Lothar Voetz, Einführung in das Nibelungenlied. 23.08.2004. URL: http://www.blb-karlsruhe.de/blb/blbhtml/nib/einfuehrung-voetz.html (21.02.2005).
[3] Vgl. Das Nibelungenlied. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übers. und komm. von Siegfried Grosse (Reclams Universal-Bibliothek 644), Stuttgart 2002.
[4] Harald Haferland, Der auswendige Vortrag. Vgl. ders., Das Nibelungenlied: Eine mündliche oder eine schriftliche Dichtung? Altgermanist analysiert die Memorierbarkeit der deutschen Heldendichtung. 25.11.2004. URL:http://www.fu-berlin.de/presse/wissenschaft/pdw04/pdw_04_034.html (10.02.2005).
[5] Vgl. Harald Haferland, Der auswendige Vortrag. S. 245.
[6] Ebd., S. 246.
[7] Vgl. ebd., S. 247f.
[8] Christel Meier, Ecce auctor: Beiträge zur Ikonographie literarischer Urheberschaft im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 34 (2000), S. 353 - 355.
[9] Vgl. Die Nibelungen’Klage’. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, hg. von Joachim Bumke, Berlin/New York 1999.
[10] Vgl. Das Nibelungenlied. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor. S. 1015 - 1018.
[11] Vgl. Jan-Dirk Müller, Das Nibelungenlied, Berlin 2002, S. 39.
[12] Vgl. Haferland Harald, Der auswendige Vortrag, S. 247.
[13] Vgl. ebd., S. 247f.
[14] Ebd., S. 248.