Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theorie
2.1 Die ökonomische Theorie der Familie
2.2 Der lebenslauftheoretische Ansatz
2.3 Ein theoretisches Konzept von Familienleitbildern
3 Einflussfaktoren auf das Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland
3.1 Familienpolitische Rahmenbedingungen vor der Wende
3.2 Kinderbetreuungsinfrastruktur
3.3 Familienleitbilder
3.4 Religion
4 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Deutschland befindet sich mitten im demografischen Wandel, welcher mit einer Schrumpfung sowie Alterung der Gesellschaft verbunden ist. Diese Entwicklungen werden hauptsächlich durch das anhaltend niedrige Geburtenniveau in Deutschland hervorgerufen (Statistisches Bundesamt 2018: 43). Um die Geburtenzahlen in einem Land festzuhalten, bietet sich die Analyse der periodenspezifischen zusammengefassten Geburtenziffer (TFR) an. Diese gibt Aufschluss darüber, wie viele Kinder eine Frau hypothetisch in einem bestimmten Kalenderjahr geboren hätte. Weiterhin kann die Betrachtung der kohortenspezifischen Geburtenziffer (CFR) Aufschluss über die endgültige Kinderzahl eines Geburtenjahrgangs geben, wenn der betreffende Frauenjahrgang das gebärfähige Alter überschritten hat (Erlinghagen & Hank 2013: 81). Im Jahr 2016 betrug die TFR in Deutschland 1,59 Kinder pro Frau (Statistisches Bundesamt 2018: 16). Damit liegt Deutschland weit unter dem Bestandserhaltungsniveau, welches 2,1 Kinder pro Frau vorsieht (Erlinghagen & Hank 2013: 81). Eine differenzierte Betrachtung der Regionen Ost- und Westdeutschland macht deutlich, dass die TFR in Ostdeutschland mit 1,64 höher liegt als in Westdeutschland mit 1,6 (Statistisches Bundesamt 2018: 16). Hinter dieser geringen Differenz verbirgt sich ein unterschiedliches Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland (Goldstein & Kreyenfeld 2011: 9). Dieses stellt auch mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ein aktuelles Phänomen der Familienforschung dar (Schneider et al. 2012: 50). Beide Regionen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich der Kinderlosigkeit, welche ein zentraler Treiber des Geburtenrückgangs in Deutschland ist (Bujard 2015: 293). Weiterhin unterscheiden sich die Regionen in Bezug auf die Erst- und Zweitgeburtenrate, die Mehrkindfamilien sowie die nicht-ehelichen Geburten. Angesichts dieser Differenzen stellt sich die Forschungsfrage, welche Faktoren das unterschiedliche Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland beeinflussen.
Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden im zweiten Kapitel zunächst drei Theorien vorgestellt, welche mögliche Einflussfaktoren auf das Geburtenverhalten beschreiben. Zunächst wird die ökonomische Theorie der Familie nach Becker erläutert. Daraufhin wird der lebenslauftheoretische Ansatz nach Huinink dargelegt. Zuletzt soll ein theoretisches Konzept von Familienleitbildern Aufschluss über den Einfluss dieser auf das Geburtenverhalten geben. Im dritten Kapitel wird der aktuelle Forschungsstand aufgezeigt, welcher anhand der vorgestellten Theorien konkrete Einflussfaktoren auf das Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland aufdeckt. Es werden zunächst die familienpolitischen Rahmenbedingungen vor der Wende in der DDR sowie der früheren BRD dargelegt. Weiterhin soll die unterschiedliche Kinderbetreuungsinfrastruktur in beiden Regionen eine Erklärung bieten. Anschließend werden unterschiedliche Familienleitbilder als Einflussfaktoren aufgeführt. Zuletzt werden religiöse Aspekte als Einflussfaktoren berücksichtigt. Ein Fazit fasst in Kapitel vier alle wichtigen Ergebnisse zusammen und soll neben einer kritischen Reflexion aufzeigen, ob die Politik heute durch familienpolitische Maßnahmen höhere Geburtenziffern in Deutschland erreichen kann.
Vor der deutschen Wiedervereinigung war das Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich. Frauen in der DDR bekamen ihr Kind beispielsweise viel früher und blieben nach der Geburt vollzeiterwerbstätig. In der ehemaligen BRD wurde die Geburt des ersten Kindes aufgeschoben und die Frauen blieben häufiger kinderlos. Mit der Wiedervereinigung wurde das westdeutsche Institutionensystem auf Ostdeutschland übertragen (Buhr et al. 2011: 175). Gleichzeitig kam es unmittelbar nach der Wiedervereinigung zu einem Einbruch der Geburtenzahlen in Ostdeutschland (Kopp & Richter 2015: 402). Dieser ist vor allem einem rasanten Anstieg des Erstgeburtsalters in Ostdeutschland geschuldet, welcher aus ökonomischen Unsicherheiten auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt resultierte (Huinink et al. 2012: 14). Seitdem nähert sich das Erstgeburtsalter in beiden Teilen Deutschlands immer weiter an (Schiefer & Naderi 2015: 157) und betrug im Jahr 2018 in Westdeutschland 30 Jahre und in Ostdeutschland 29 Jahre (Statistisches Bundesamt 2018: 19). Der Aspekt des Erstgeburtsalters ist heute im Hinblick auf das unterschiedliche Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland aufgrund des konvergierenden Trends weniger von Bedeutung (Schiefer & Na- deri 2015: 157) und bleibt daher im weiteren Verlauf der Arbeit außen vor.
2 Theorie
Im Folgenden soll zunächst auf die ökonomische Theorie der Familie genauer eingegangen werden. Anschließend wird der lebenslauftheoretische Ansatz beleuchtet. Zuletzt wird ein theoretisches Konzept von Familienleitbildern dargelegt. Alle drei Theorien ergänzen sich gegenseitig und beschreiben unterschiedliche Faktoren, welche sich auf das Geburtenverhalten auswirken können.
2.1 Die ökonomische Theorie der Familie
Im Allgemeinen beschäftigen sich neoklassische Theorien mit der Abwägung von Kosten und Nutzen des Individuums (Hill & Kopp 2013: 94). Becker (1981) geht in der ökonomischen Theorie der Familie davon aus, dass familiäre Entscheidungen nach dem ökonomischen Kosten-Nutzenkalkül getroffen werden (Blossfeld 2011: 57). Innerhalb der Familienökonomie stehen die Individuen zunächst vor der Frage, mit welchem potenziellen Partner sie ausgehen und wen sie heiraten sollen. Nach der Heirat stehen die Personen vor der Entscheidung, ob sie weiterhin mit dem Ehepartner zusammenleben oder sich scheiden lassen sollen (Hill & Kopp 2013: 94). Nach der Familiengründung stehen Familien vor dem Problem, wie sie knappe Güter, wie die Zeit, einsetzen sollen, um den bestmöglichsten Nutzen zu erhalten. Hier haben die Personen mehrere Handlungsmöglichkeiten. Sie können beispielsweise die Hausarbeit erledigen, die Freizeit genießen oder arbeiten gehen (Hill & Kopp 2013: 94). In der klassischen ökonomischen Theorie wird das Individuum als Konsument betrachtet, währenddessen das Individuum in der Familienökonomie als Produzent von sogenannten commodities angesehen wird, welche den Nutzen maximieren sollen. Unter commodities werden in Beckers Theorie Güter sowie Zustände verstanden, welche direkten Nutzen und Befriedigung erzeugen.
Beispielsweise verweist Becker auf commodities wie: „[...] children, prestige and esteem, health, altruism, envy, and pleasures of the senses [...]“ (Becker 1981: 8). Kinder können hierbei in zweierlei Hinsicht Nutzen stiften. Einerseits stiftet die reine Anwesenheit der Kinder Nutzen, da diese Freude bei den Eltern auslösen. Andererseits können Kinder ihre Eltern in Armut oder Krankheit unterstützen (Blossfeld 2011: 58). Weiterhin besitzen commodities keinen speziellen Marktpreis, jedoch einen Schattenpreis, welcher sich aus der benötigten Produktionszeit und den Investitionen zusammensetzt (Hill & Kopp 2013: 97). So fallen direkte und indirekte Kosten durch Kinder an. Unter direkten Kosten sind Kosten für Kleidung, Nahrung und Ausbildung zu verstehen. Weiterhin fallen indirekte Kosten wie beispielsweise Opportunitätskosten an, welche sich dadurch ausdrücken, dass man aufgrund der Erziehungszeit andere Aktivitäten nicht mehr ausführen kann (Blossfeld 2011: 58). Diese Kostenkategorie soll nun im Weiteren detaillierter erläutert werden.
Innerhalb von Beckers Theorie spielt das Humankapital der Ehepartner eine signifikante Rolle. Darunter ist beispielsweise die schulische oder berufliche Bildung zu verstehen. Die Produktion der commodities steht immer in Abhängigkeit zu diesen Fähigkeiten der beteiligten Akteure (Becker 1981: 9). Eine Veränderung des Humankapitals hat somit beispielsweise wiederum Konsequenzen für die eheliche Situation. Falls die Frau eine gute Bildung sowie eine Ausbildung hat, erhöht sich ihre Möglichkeit in einem qualifizierten Beruf ein hohes Lohneinkommen zu erlangen. Indirekt betrifft dies auch den Schattenpreis der commodities, da sich die Opportunitätskosten der Haushaltsarbeit und Erziehung erhöhen. In derselben Zeit, in der die Frau im Haushalt arbeitet und die Kinder erzieht, könnte sie ebenfalls einen hohen Lohn auf dem Arbeitsmarkt verdienen. Darum ist davon auszugehen, dass die Frau mehr Zeit auf dem Arbeitsmarkt und weniger Zeit im Haushalt verbringt (Becker 1965: 513). Insgesamt verweist Becker auf einen Bildungsinvestitionseffekt. Dieser besagt, dass die Geburt eines Kindes für Frauen mit höherer Ausbildung und besserer Positionierung im Erwerbsleben teurer ist als für Frauen mit geringer Ausbildung. Vor allem Akademikerinnen sind nach Becker von diesem Effekt betroffen und es ist möglich, dass diese ganz auf eine Geburt verzichten (Blossfeld 2011: 59).
2.2 Der lebenslauftheoretische Ansatz
Die Entscheidung für oder gegen ein Kind vollzieht sich im Lebenslauf der Eltern. Aus diesem Grund ist es unumgänglich die Frage, ob und wann Individuen Kinder bekommen, aus einer lebenslauftheoretischen Perspektive heraus zu analysieren (Huinink 2016: 231). Huinink (1995) geht in Bezug auf den Lebenslauf eines Menschen von drei zentralen Annahmen aus. Individuen handeln zum einen aufgrund von Erfahrungen sowie Ressourcen. Die Lebensgeschichte wird in den Entscheidungs- und Handlungsprozess einbezogen (Vergangenheitsbezug). Weiterhin ist der Lebenslauf ein multidimensionaler Prozess und entwickelt sich in verschiedenen Lebensbereichen. Dabei ist jeder Lebensbereich als ein Teilprozess des Lebenslaufes zu verstehen. Huinink unterscheidet beispielsweise zwischen dem Bildungsverlauf, dem Familienverlauf, dem Erwerbsverlauf und dem Krankheitsverlauf. Diese verschiedenen Bereiche stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander und können in ihrer Relevanz in den verschiedenen Alters- und Lebenssituationen variieren (Huinink 1995: 154). Die dritte Annahme ist, dass der Lebenslauf einerseits von den sozialen Beziehungen des Individuums sowie von den gesellschaftlichen Gegebenheiten abhängig ist. Nach Huinink ist der Lebenslauf Teil eines gesellschaftlichen Mehrebenenprozesses und unterliegt den Einflüssen gesellschaftlicher Institutionen und Hierarchien. Weiterhin entwickelt sich der Lebenslauf unter sozialstrukturellen, politischen, rechtlichen, kulturellen oder ökonomischen Bedingungen (Huinink 1995: 154-155). Huinink hat den Mehrebenenprozess dahingehend spezifiziert, dass er zwischen externen und internen Sachverhalten unterscheidet. Externe Sachverhalte sind familienpolitische Rahmenbedingungen, die Wohn- und Lebensbedingungen sowie die Haltung des Partners zu Kindern (Huinink 2016: 231-232). Interne Sachverhalte sind einerseits religiöse Orientierungen. Andererseits fallen eine subjektive Unzufriedenheit mit der Partnerschaft sowie die Annahme, dass man den Ansprüchen einer Erziehung des Kindes nicht gerecht wird, darunter (Huinink 2016: 232). Huinink bezieht die vorhandenen Ressourcen des Individuums ebenfalls in seine Überlegungen mit ein und stellt die These auf, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen und die Beschäftigung mit Kindern um Ressourcen konkurrieren. Es kann sich hierbei um materielle oder psychische Ressourcen handeln (Huinink 2016: 232).
2.3 Ein theoretisches Konzept von Familienleitbildern
Leitbilder bieten neben ökonomischen und strukturellen Rahmenbedingungen eine Erklärung für familiales Verhalten in Bezug auf die private Lebensführung, die Familiengründung oder -erweiterung (Lück & Diabate 2015: 26). Ein Leitbild ist „[...] ein Bündel aus kollektiv geteilten bildhaften Vorstellungen des ,Normalen‘, das heißt von etwas Erstrebenswertem, sozial Erwünschtem und/oder mutmaßlich weit Verbreitetem, also Selbstverständlichem“ (Diabate & Lück 2014: 56). Die Familienleitbilder beziehen sich auf den Lebensbereich der Familie. Die ideale Vorstellung einer Familie sowie die Ausgestaltung des Familienlebens sind strukturelle Leitbilder. Darüber hinaus gibt es prozessuale Leitbilder, welche von den strukturellen Leitbildern abhängen. Diese beziehen sich beispielsweise auf das ideale Alter beim Übergang zur Elternschaft oder den optimalen Geburtenabstand. Auch eine Heirat fällt in diese Kategorie. Der ideale Zeitpunkt oder das optimale Alter der Familiengründung hängt demnach davon ab, wie die Akteure eine ideale Partnerschaft definieren (Diabate & Lück 2014: 57). Auf gesellschaftlicher Ebene stellen sich durch Familienleitbilder einheitliche Verhaltensmuster ein und verändern sich nur sehr langsam (Diabate & Lück 2014: 61). Familienleitbilder können sich zudem regional unterscheiden. So können ostdeutsche Personen andere Familienleitbilder haben als westdeutsche Personen (Diabate et al. 2017: 9). Insgesamt geben Leitbilder wichtige Indizien hinsichtlich der kulturellen Prägung einer Gesellschaft und können dadurch einen wichtigen Beitrag zur Erklärung des unterschiedlichen Geburtenverhaltens in Ost- und Westdeutschland leisten (Schiefer & Naderi 2015: 157).
3 Einflussfaktoren auf das Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland
Die Einflussfaktoren auf das unterschiedliche Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland sind vielfältig und hängen eng miteinander zusammen. Im Folgenden soll die Forschungsfrage, welche Faktoren das unterschiedliche Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland beeinflussen, anhand von konkreten Befunden beantwortet und den vorgestellten Theorien zugeordnet werden.
3.1 Familienpolitische Rahmenbedingungen vor der Wende
Auf einem Parteitag der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschland) im Jahr 1971 wurde das Ziel einer Zwei- bis Drei-Kind-Familie formuliert, um dem drastischen Rückgang der Geburten ab dem Jahr 1963 in der DDR entgegenzuwirken (Kopp & Diefenbach 1994: 53). Einerseits war es ein Anliegen der Politik, dass Frauen früher und mehr Kinder bekommen. Andererseits sollten Frauen wieder vollständig in den Arbeitsmarkt integriert werden und weniger in Teilzeit arbeiten. Als familienpolitische Maßnahmen sind beispielsweise die Erhöhung der Zahlungsdauer von Schwangerschafts- und Wohngeld zu nennen (Kopp & Diefenbach 1994: 53). Diese Maßnahmen konnten die Geburtenzahlen stabilisieren - jedoch nicht ausreichend erhöhen. Aufgrund dessen wurde ab 1976 eine Verlängerung des Schwangerschafts- und Wochenurlaubs eingeführt. Darüber hinaus wurde das sogenannte Babyjahr etabliert, welches verheirateten Müttern einen einjährigen bezahlten Erziehungsurlaub mit Arbeitsplatzgarantie zusicherte (Kopp & Diefenbach 1994: 54). Einen Unterschied zwischen der DDR und der früheren BRD lässt sich hinsichtlich der Kinderbetreuungsangebote aufzeigen. In der DDR wurde ein flächendeckendes ganztägiges Betreuungssystem für alle Altersklassen etabliert, um die Frauenerwerbstätigkeit zu fördern. In der früheren BRD konnten Kinder hingegen seit 1960 nur halbtags für vier Stunden im Kindergarten bleiben. Durch diese zeitliche Restriktion verbesserte sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Westen kaum (Hank et al. 2004: 231232). Insgesamt wurde dadurch die Erwerbstätigkeit aller Frauen in der DDR unterstützt, währenddessen in der früheren BRD lediglich die Ehen mit einem vollzeiterwerbstätigen Ehemann sowie einer Teilzeit- oder nicht erwerbstätigen Frau gefördert wurden (Goldstein et al. 2010: 11). Die Familienpolitik der früheren BRD hat weiterhin zu keinem Zeitpunkt geburtenfördernde Maßnahmen wie beispielsweise finanzielle oder strukturelle Anreize zur Familienbildung in die Wege geleitet (Arranz et al. 2010: 41).
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- Arbeit zitieren
- Sophia Linten (Autor:in), 2019, Das Geburtenverhalten in Ost- und Westdeutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/535697
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