Braucht Europa eine Verfassung?


Seminar Paper, 2002

22 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Problemstellung

2 Defintion und Inhalt des Verfassungsbegriffes

3 Eigenarten sowie neuere Entwicklungen der Europäischen Union
3.1 EU als historische Neuheit
3.2 Neuere Entwicklungen der Europäischen Union

4 Hat das Primäre Gemeinschaftsrecht bereits Verfassungscharakter?

5 Argumente gegen eine Europäische Verfassung

6 Argumente für eine Europäische Verfassung
6.1 Demokratiedefizit als Argument für eine Europäische Verfassung
6.2 Erfordernis eines politischen Ausbaus der Union

7 Ansprüche an den Inhalt einer Europäischen Verfassung

8 Fazit

9 Quellen- und Literaturverzeichnis

1 Problemstellung

In Debatten über die Reform der Europäischen Union wird immer wieder der Ruf nach einer Europäischen Verfassung laut. Bereits der Vertrag von Maastricht rückte ins allgemeine Bewusstsein, in welchem Ausmaß politische Entscheidungen mittlerweile von den nationalen Staaten an die Europäische Union abgegeben wurden und wie gering der Einfluss des Europäischen Parlamentes bei diesen Entscheidungen war. Das „europäische Demokratiedefizit“ wurde erstmals breit diskutiert und verschaffte dem Verfassungsthema Aufmerksamkeit. Neu entfacht sind die Debatten vor allem durch die Diskussion über die EU-Osterweiterung. Der Termin für die Erweiterung setzt die EU praktisch unter Reformdruck. Die Konferenz von Nizza schaffte es bisher nicht, die Probleme zu lösen. Interessant an der Forderung einer Europäischen Verfassung ist die Tatsache, dass neue Verfassungen bisher immer auf Krisensituationen folgten. Da stellt sich natürlich die Frage, ob auch die Europäische Union zur Zeit in einer solchen Krise steckt oder ob die Forderung nach einer Verfassung hier andere Ursachen hat. Tatsächlich gibt es momentan einige Krisentendenzen in der Europäischen Union. Die Hauptprobleme sind zum einen im Missverhältnis zwischen der bereits sehr stark fortgeschrittenen ökonomischen Verflechtung der europäischen Staaten bei gleichzeitig eher lockerer politischer Verflechtung zu sehen. Zum anderen stellt das demokratische Defizit der europäischen Entscheidungsprozesse ein ernsthaftes Problem dar, zumal eine Kompetenzverlagerung zugunsten der Union bei gleichbleibender Unionsstruktur dieses Defizit verschärft.

Im Folgenden möchte ich die Möglichkeiten aufzeigen, die sich aus einer Verfassung für Europa ergeben könnten und Argumente sowie Gegenargumente einer Europäischen Verfassung abwägen. Dafür erscheint es zunächst notwendig, den Verfassungsbegriff näher zu bestimmen sowie auf die Eigenarten der Europäischen Union einzugehen. Weiterhin bedarf es der Klärung, ob die Unionsbürger in Form der Gemeinschaftsverträge vielleicht bereits implizit eine Art Verfassung haben – die Forderung nach einer solchen erschiene damit überflüssig.

2 Definition und Inhalt des Verfassungsbegriffes

Laut Duden (1992) bezeichnet der Begriff Verfassung Rechtsnormen, die Zweck, Ein-richtung, Organe und Verwaltung von juristischen Personen und sonstiger organisierter Gemeinschaften regeln. Die Verfassung ist in Gesetzen oder Satzungen (Statuten) enthalten.

Laut Gablers Wirtschaftslexikon (1984) umfasst der Begriff Verfassung die Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Grundregeln über den staatsrechtlichen Aufbau eines Staates, nach denen sich das Verhältnis zwischen den einzelnen Trägern der Staatsgewalt (Exekutive, Legislative, Justiz, bzw. Bund, Länder und Gemeinden) bestimmt.

Man erkennt schon an diesen beiden unterschiedlichen Definitionen die Schwierigkeit der Zuordnung der Europäischen Union zum Verfassungsbegriff. Nimmt man die Definition des Duden, so scheint auch die Regelung einer Staatengemeinschaft als Gegenstand der Verfassung möglich, während sich der zweite Defintionsansatz klar auf einen Staat bezieht. Die Europäische Union scheint hier herauszufallen.

Wenn heute eine Verfassung für Europa gefordert wird, so ist damit eine rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens gemeint, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts in den westlichen Demokratien – allen voran in Frankreich und den USA – entstanden ist. Mit ihrer Entstehung einher ging die Emanzipation vom Glauben sowie von der Monarchie. Es entstand das positive, also auf menschliche Setzung (statt auf göttlicher Wahrheit) gegründete, jederzeit änderbare Recht. Erstmals wurden Begrenzung sowie Voraussetzungen der Herrschaft Gegenstand eines Gesetzes. Politische Herrschaft sollte künftig aus dem Konsens der Herrschaftsunterworfenen heraus legitimiert werden. Der Staat sollte nur noch schützend und koordinierend eingreifen, den Wirtschaftssubjekten dabei relative Freiheit belassen. Dafür benötigte man ein Gewaltmonopol des Staates. Träger der Staatsgewalt sollte von nun an das Volk sein. Ausübung der Staatsgewalt war nunmehr nur noch im Auftrage dieses Volkes zulässig und für genau die Zwecke, für die es das Volk vorgesehen hatte. Diese konsensabhängige und zweckgebundene Herrschaft benötigt verschiedene Einrichtungen und Regulierungen. Man musste sich über Bedingungen legitimer Herrschaft verständigen. Der Verfassung kommt die Aufgabe zu, die Einrichtung und Ausübung der Staatsgewalt zu regeln. Ihr Urheber ist das Volk, Adressat ist die Staatsgewalt. Die Verfassung ist herrschafts-

begründend, sie gilt universal und wirkt umfassend. Sie schreibt der Politik keine festen Handlungsweisen vor, sondern legt lediglich ihre Rahmen fest.

Es gibt keine vorgeschriebenen Inhalte für eine Verfassung. Man kann jedoch wesentliche Bestandteile formulieren: dies sind zum einen die sogenannten Staatsstruktur- und Staatszielbestimmungen, welche das Legitimationsprinzip politischer Herrschaft sowie die grundlegenden Bedingungen ihrer Ausübung festlegen. Des Weiteren enthalten Verfassungen Bestimmungen über die Einrichtung und Ausübung der Staatsgewalt, also Organisations- und Verfahrensregeln; üblicherweise sind dies die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung. Ferner werden in der Verfassung oftmals die Grenzen zwischen staatlicher Gewalt einerseits und individueller Freiheit sowie gesellschaftlicher Autonomie andererseits geregelt. Dieser Teil ist Gegenstand der Grundrechte. Sie sind jedoch kein zwingend notwendiges Element einer Verfassung. Charakteristisch für Verfassungen ist, dass sie aus Kompromissen im Streit von Parteien und Gruppen hervorgehen. Dadurch bildet die Verfassung einen wichtigen Faktor gesellschaftlicher Integration. Sie verbindet Träger unterschiedlicher Überzeugungen und Interessen. Strukturell trennt sie langfristig geltende Handlungsgrundlagen, die in ihr festgeschrieben werden von kurzfristig notwendigen Entscheidungen, die in einfachen Gesetzen geregelt werden. Dadurch schafft sie Stabilität und Orientierungshilfe für alle Akteure bei gleichzeitiger Wandlungsfähigkeit.

3 Eigenarten sowie neuere Entwicklungen der Europäischen Union

3.1 EU als Historische Neuheit

Die Europäische Union stellt sich als ein historisch einzigartiges Gebilde dar. Sie ist eine stärkere Gemeinschaft als ein Staatenbund, die Mitgliedsstaaten sind jedoch nicht so fest miteinander verbunden, wie es in einem Bundesstaat der Fall wäre. Mit Gründung der Europäischen Gemeinschaft erlangten völkerrechtliche Verpflichtungen erstmals – auch ohne einen staatlichen Vermittlungsakt – innerstaatliche Geltung. Die Gemeinschaft wurde von den Mitgliedstaaten mit Hoheitsrechten ausgestattet, die sie nun an deren Stelle mit derselben Wirkung, also mit unmittelbarer Geltung für die Unionsbürger, ausübt. Obwohl sie selber kein Staat ist, verfügt sie über Herrschaftsbefugnisse, wie sie traditionell nur Staaten besaßen. Sind Hoheitsrechte von den Mitgliedsstaaten an die Europäische Union übertragen, untersteht ihre Ausübung nicht mehr nationalem Recht.1 Keinesfalls kann nationales Verfassungsrecht Geltung über die Organe der Gemeinschaft verlangen. Beide Rechtskreise haben ihre je eigene Quelle und ihre je eigenen Gültigkeitsbedingungen. Instititutionell hat die Europäische Union kein staatliches Vorbild, sondern ihre Struktur ist durch Übernationalität geprägt. Ihr wichtigstes Organ ist der aus Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten gebildete Rat. Die wichtigsten Akteure sind somit nicht von der Union, sondern von den Mitgliedsstaaten legitimiert. Das Gemeinschaftsinteresse soll hingegen von der Kommission repräsentiert werden. Sie ist für die Ausführung von Gemeinschaftsrecht zuständig und kann die Durchsetzung desselben notfalls mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofes erreichen. Gemeinschaftsinteressen vertritt auch das Europäische Parlament, dem jedoch nur schwach ausbildete Kompetenzen zugewiesen wurden. Einer der markantesten Unterschiede zwischen dem Gemeinschaftsrecht und klassischem Völkerrecht ist die Einrichtung der europäischen Gerichtsbarkeit. Dies ist auch einer der Gründe dafür, dass die Verträge trotz ihres völkerrechtlichen Ursprungs verfassungsähnlich wirken (Vgl. Abschnitt 4).

3.2 Neuere Entwicklungen der Europäischen Union

Mit dem am 26. Februar 2001 unterzeichneten Vertrag von Nizza steht das Recht der europäischen Integration nach der Einheitlichen Europäischen Akte vom 28. Februar 1987, dem Unionsvertag (sogenannter Vertrag von Maastricht) vom 7. Februar 1992 sowie dem Amsterdamer Vertrag vom 2. Oktober 1997 bereits zum vierten Mal innerhalb von knapp 14 Jahren vor teilweise einschneidenden Veränderungen. Dabei besiegelte der Vertrag von Maastricht die wohl bisher umfassendste Reform und Weiterentwicklung des institutionellen und materiellen Gemeinschaftsrechts. Mit der Schaffung einer Europäischen Union wurden die rechtlich selbständigen und unabhängigen drei Europäischen Gemeinschaften (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Euratom, Europäische Gemeinschaft) gemeinsam mit den durch den Unionsvertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres) in einem einheitlichen institutionellen Rahmen zusammengefasst.1 Bildlich wird diese Struktur oft als eine Drei-Säulen-Architektur mit der Union als gemeinsames „Dach” dargestellt. Ob in diesem institutionellen Gefüge der Union auch selbst Rechtspersönlichkeit zukommt, ist dabei noch nicht eindeutig geklärt. In einer Erklärung zur Zukunft der Union hat die Regierungskonferenz im Nach-Nizza-Prozess zu einer eingehenden und breit angelegten Diskussion über die folgenden vier Fragenkomplexe aufgefordert, die bis 2004 entscheidungsreif sein sollen: Zum Ersten soll die genaue Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten festgelegt werden. Zweitens sollen die Verträge formal – nicht inhaltlich – vereinfacht werden. Der dritte Komplex umfasst den Status der EU-Grundrechte Charta. Die vierte Fragestellung befasst sich mit der Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union.

[...]


1 Grundlage für die Verwirklichung der Europäischen Union in Deutschland ist der Artikel 23 des Grundgesetzes.

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Details

Title
Braucht Europa eine Verfassung?
College
University of Lüneburg  (Institut für Politikwissenschaften)
Course
Seminar: Demokratietheorie im Zeitalter der Globalisierung
Grade
1,0
Author
Year
2002
Pages
22
Catalog Number
V5356
ISBN (eBook)
9783638132602
File size
529 KB
Language
German
Keywords
Braucht, Europa, Verfassung, Seminar, Demokratietheorie, Zeitalter, Globalisierung
Quote paper
Gesa Klintworth (Author), 2002, Braucht Europa eine Verfassung?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/5356

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