Zur Aktualität von Jean-Jacques Rousseaus Kritik der Ungleichheit


Thèse de Bachelor, 2017

62 Pages, Note: 1,2


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ökonomische Ungleichheit - Ein Phänomen in Demokratien des 21. Jahrhunderts?
2.1. Extreme Ungleichheit in den Vereinigten Staaten
2.2. Wachsende Ungleichheit in Europa
2.3. Weshalb die Ungleichheit in Industriestaaten steigt: Einblicke in Kapitalstrukturen des 21. Jahrhundert

3. Das politisches Denken Jean Jacques Rousseaus und seine Kritik der Ungleichheit
3.1. Rousseaus politische Philosophie und die moderne Demokratie
3.2. Rousseaus Kritik der Ungleichheit
3.2.1. Amour propre als Quelle der Ungleichheit
3.2.2. Unter welchen Umständen führt die amour propre zu Ungleichheit?
3.2.3. Voraussetzungen für politische Gleichheit innerhalb einer Gesellschaft
3.2.4. Beschränkung der politischen Gleichheit durch ökonomische Ungleichheit
3.2.5. Rolle des Mitleids

4. Auswirkungen ökonomischer Ungleichheit im 21. Jahrhundert
4.1. Eingeschränkte Freiheit in westlichen Demokratien?
4.1.1. Politische Entscheidungen entsprechen nicht dem Mehrheitswillen
4.1.2. Politische Ohnmacht der weniger Wohlhabenden
4.2. „Frustrierte“ Gesellschaften durch ökonomische Ungleichheit
4.3. Verlust von Vertrauen
4.3.1. „Austritt aus dem Gesellschaftsvertrag“ als Konsequenz?
4.3.2. Mangelnde Partizipation weniger wohlhabender Bevölkerungsgruppen

5. Fazit

Literaturangaben

1. Einleitung

„Can anyone seriously deny that our political system is being warped by the influence of big money, and that the warping is getting worse as the wealth of a few grows ever larger?“

Paul Krugmann1, Wirtschaftsnobelpreisträger 2008 Spitzenlöhne steigen, Kapitalerträge wachsen, Steuern werden gesenkt: Laut Thomas Piketty führen diese Entwicklungen insbesondere in westlichen Demokratien zu einem erhöhten Anteil einzelner Vermögen am staatlichen Gesamtvermögen. Zusammengefasst: Die Reichen werden immer reicher. In der Folge dieser Entwicklungen steigt die ökonomische Ungleichheit innerhalb der einzelnen Staaten.

„To the extent that population growth will slow down in the 21st century, and that after-tax rates of return will rise (due to rising international tax competition to attract capital, and maybe also to changing technology) it is likely that r - g [wealth inequality] will increase again in the 21st century which could lead to a structural rise in wealth concentration.“ (Piketty 2014 (1): 842)1 In seinem Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ zeichnet Piketty 2014 exakte Dynamiken von Kapitalakkumulation im 20. und 21. Jahrhundert nach und kommt schließlich zu dem Schluss, dass eine Besteuerung des Kapitals nötig sei, um die wachsende ökonomische Ungleichheit einzudämmen. (Vgl. Piketty 2014 (2): 627) Warum aber ist es nötig, den steigenden Anteil einiger weniger Vermögen am Gesamtkapital einer Volkswirtschaft zu beschränken?

Im Werk des französischen Philosophen und Aufklärers Jean-Jacques Rousseau findet sich eine mögliche, sehr frühe Antwort auf diese Frage. Große Unterschiede der Besitzverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft wirken sich negativ auf den Zusammenhalt dieser aus und bewirken im Umkehrschluss ein politisches Ungleichgewicht.

Ziel dieser Arbeit soll es nun sein, die Kritik Rousseaus zur Entstehung und zu den Folgen ökonomischer Ungleichheit darzustellen, um sie anschließend mit zeitgenössischen Studien und Kritiken ökonomischer Ungleichheit zu vergleichen. Durch einen solchen Vergleich soll geprüft werden, inwiefern Rousseaus Thesen zur ökonomischen und politischen Ungleichheit auch in Demokratien des 21. Jahrhundert noch relevant sind. Neuhouser2 zufolge ist es notwendig, sich auf die philosophischen Grundlagen von Ungleichheitskritik zu beziehen, um Daten zu gestiegener Ungleichheit angemessen interpretieren zu können. (Vgl. Neuhouser 2014: 3) Insbesondere Rousseau rücke hierbei in den Vordergrund der Analysen, da „no contemporary philosophical treatment of inequality can afford, […] to bypass the explanation and critique of the same phenomenon given by Rousseau more than two and a half centuries ago.“ (Ebd.: 3)

Obwohl sich die Gesellschaft in der westlichen Welt stark verändert habe, sei dies — Neuhouser zufolge — nicht der Fall für ihre Probleme. „When we adopt the self-flattering view that our forebears have nothing to teach us bout the problems that plague contemporary societies, we foolishly deprive ourselves of the advantages of our rich philosophical legacy.“ (Vgl. ebd.: 3)

Durch einen Vergleich von Rousseaus Kritik der Ungleichheit mit der Kritik zeitgenössischer soziologischer Studien und Beobachtungen zu gestiegener ökonomischer Ungleichheit soll gezeigt werden, inwiefern Rousseaus These, dass ökonomische Ungleichheit zu politischer Ungleichheit und somit zu einer Aushöhlung demokratischer Grundwerte führe, auch über zwei Jahrhunderte später belegt bzw. widerlegt werden kann. Seubert3 zufolge könne insbesondere Rousseaus politische Theorie dazu beitragen, „gesellschaftliche Selbstverständigung in ein besonders grelles Licht zu setzen“. Dadurch ließe sich „anhand seiner Schriften ablesen, was in einer jeweiligen Zeit als problematisch gilt“. (Vgl. Seubert 2012: 609)

Zunächst soll in der folgenden Arbeit das Problem wachsender ökonomischer Ungleichheit in OECD-Staaten2 dargestellt werden. Es ist zwar offenkundig, dass ökonomische Ungleichheit nicht nur in westlichen Demokratien wächst, jedoch beschränkt sich diese Arbeit auf OECD-Staaten, die über ein formal demokratisches politisches System verfügen. So soll geprüft werden, ob die Problematik der ökonomischen Ungleichheit trotz formaler Gleichberechtigung von Bürgern innerhalb eines Staates zu ungleichen politischen Machtverhältnissen führen kann. Zur Darstellung dieser wachsenden ökonomischen Ungleichheit wird sich im Folgenden stark auf die Daten Pikettys bezogen. Diese stellen die erste Auswertung von Vermögensverhältnissen unter Einbezug von Erbschaftsvermögen dar und bieten daher eine relevante Datengrundlage für die Rousseau’sche Kritik der Ungleichheit. Darüber hinaus werden die Daten des US Census Bureau berücksichtigt, die relevante Informationen zur aktuellen Einkommensverteilung bieten können. (Vgl. Bartels 2008: 6)

Im Anschluss sollen die Effekte ökonomischer Ungleichheit anhand von verschiedenen Schriften Rousseaus evaluiert werden. Insbesondere Neuhousers Deutung von Rousseaus Kritik der Ungleichheit wird hierbei berücksichtigt, da diese stark auf den Zusammenhang zwischen individueller Ungleichheit und politischer Gleichheit eingeht. (Vgl. Seubert 2012: 612) Es stellt sich bei der Darlegung der Rousseau’schen Annahmen heraus, dass für ihn die Quelle der Ungleichheit in der amour propre liegt. Die amour propre, die eine egoistische Form der Eigenliebe, basierend auf dem Wunsch nach Anerkennung, bezeichnet, könne nach Rousseau — unter bestimmten Voraussetzungen — Ungleichheiten befördern, die sich negativ auf die Gesellschaft auswirken können. So könne die Freiheit der weniger Besitzenden stark eingeschränkt werden. Darüber hinaus könne eine Nichtbefriedigung der amour propre zu einem Mangel an Wohlbefinden benachteiligter Gesellschaftsmitglieder führen.

Im dritten Teil der Arbeit wird die in Rousseaus Werk herausgearbeitete Kritik der Ungleichheit mit aktuelleren Ungleichheitsstudien und Kritiken abgeglichen.

So soll gezeigt werden, wie durch ökonomische Ungleichheit die politische Freiheit der formell gleichberechtigten, weniger wohlhabenden Bevölkerungsmitglieder eingeschränkt wird. Aussagekräftig sind hierbei Studien von Bartels und Gilens4 , die eindrücklich zeigen, dass der weniger wohlhabende Teil der Bevölkerung keinerlei Einfluss auf politische Vertreter hat (Vgl. Bartels 2008/ Gilens 2012).5

Darüber hinaus soll gezeigt werden, wie ökonomische Ungleichheit zu einem Gefühl des Unwohlseins in einer Gesellschaft führen kann. Rousseaus Kritik der Ungleichheit sowie aktuellere Studien zeigen, dass ein Mangel an Wohlbefinden negative Auswirkungen auf die Gesellschaft haben kann. So kann allgemeines Unwohlsein etwa zu verringertem Vertrauen in das politische System führen. Dessen Folge kann ein „Austritt“ aus dem politischen Geschehen — etwa durch fehlende politische Beteiligung — sein. So wird im zweiten Teil des vierten Kapitels insbesondere unter Bezugnahme auf Kate Pickett und Richard Wilkinson dargestellt, wie nennenswerte ökonomische Ungleichheiten in westlichen Demokratien negative Konsequenzen auf das Wohlbefinden der Bevölkerung haben. (Vgl. Pickett/Wilkinson 2009) Abschließend kann dann die Frage geklärt werden, ob und wie ökonomische Ungleichheit die politische Gleichheit in formal demokratischen Staaten einschränkt und ob Rousseau hierbei ein sinnvolles Erklärungsmuster liefert.

2. Ökonomische Ungleichheit - Ein Phänomen in Demokratien des 21. Jahrhunderts?

In seinem 2014 erschienenen Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ analysiert der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty die realen Vermögensverteilungen innerhalb ausgesuchter demokratischer Industrienationen (OECD-Staaten). Dabei stellt er eine gestiegene Ungleichheit seit Beginn der 1970er Jahre, mit Tendenz zur weiteren Steigung, fest. (Vgl. Piketty 2014: 313) Dieser Anstieg werde von Reformen begleitet, die „Märkte ausweiteten und zugleich ihre Regulierung abschwächten“. (Schäfer 2015: 51) Auf die detaillierten politischen und gesellschaftlichen Gründe für den Anstieg von ökonomischer Ungleichheit in den letzten vierzig Jahren einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen.3 An dieser Stelle soll lediglich die Struktur der Ungleichheit dargestellt und knapp analysiert werden. So besteht für Piketty ein Unterschied zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen. Während Arbeitseinkommen Einkünfte aus selbstständiger und Lohnarbeit bezeichnen, meint das Kapitaleinkommen Mieten, Dividenden, Zinsen, Gebühren oder Aktiengewinne. Es sei, so Piketty, allgemein zu beobachten, dass die Ungleichheit hinsichtlich des Kapitals einer Art Gesetzmäßigkeit folgend stets größer sei als die Ungleichverteilung der Arbeitseinkommen. So kann durchschnittlich festgestellt werden, dass das oberste Zehntel der Bevölkerung mit den höchsten Arbeitseinkommen im Schnitt über 25-30% des gesamten Arbeitseinkommens verfügt, während das obere Zehntel mit dem höchsten Kapitalanteil über 50-90% am gesamten Gesamtvermögen besitzt. (Vgl. Piketty 2014: 32) Es folgt daraus, dass vererbte Kapitalvermögen ihren Besitzern in der Regel ein höheres Vermögen ermöglichen als die höchsten Arbeitseinkommen.

2.1. Extreme Ungleichheit in den Vereinigten Staaten

Seit den 1970er Jahren herrscht in den USA eine extrem hohe und stetig wachsende Arbeitseinkommensungleichheit. Während die Ungleichheit in den 1950 und 70er Jahren relativ gering war, scheint sie seit den 1970ern nahezu zu explodieren. So stieg der Anteil des obersten Zehntels am gesamten Nationaleinkommen (Kapital und Arbeitseinkommen zusammengefasst) zwischen den 70er und 2000er Jahre um ca. 15 Prozentpunkte an — von 30-35% auf fast 50% zwischen 2000 und 2010.

Die Gründe für diese Entwicklungen lassen sich einerseits auf einen Anstieg der „Supergehälter“, also des Arbeitseinkommens im obersten Zehntel zurückführen4. Im Jahre 2010 verdienten die obersten 10% der arbeitenden Bevölkerung 35% des gesamten Arbeitseinkommens, während die untersten 50% nur 25% des gesamten Einkommens verdienten. Überträgt man diese Zahlen auf konkrete Gehaltshöhen so werde Piketty zufolge deutlich, dass es für die oberen 10% der Arbeitnehmer ein Leichtes sei, mit durchschnittlich 7000€ monatlich die unteren 50% mit etwa 1000€ monatlich als Dienstboten zu beschäftigen. (Vgl. Piketty 2014: 337)

Für ein Drittel des Anstiegs der Einkommensungleichheit in den Vereinigten Staaten sei jedoch die starke und wachsende Ungleichheit der Kapitaleinkommen verantwortlich. (Vgl. ebd.: 396)

So besitzen die Reichsten 10% in den Jahren 2010/2011 in den USA 72% des Gesamtkapitals, während die untersten 50% lediglich über 2% verfügen. Diese Erkenntnis sei Hacker und Pierson 6 zufolge der Beweis für ihre These einer „Winner-take-all“-Economy im 21. Jahrhundert. (Vgl. Hacker/Pierson 2010) Neben Piketty stellen viele weitere Wissenschaftler eine „eskalierende“ ökonomische Ungleichheit in den USA seit den 1970er Jahren — einhergehend mit neoliberalen Strukturreformen — fest. (Vgl. Bartels 2008: 6/ Vgl. Schäfer 2015: 51) So beobachtete die „Task Force on Inequality and American Democracy“5 der American Political Science Foundation Association, die im Jahr 2002 gegründet wurde, dass „Disparities of income, wealth and access to opportunity are growing more sharply in the United States than in many other nations“. (Vgl. Jacobs/Skocpol 2005: 1)

Anders als Piketty und Saez7 bezieht sich Larry Bartels zur Bewertung der Ungleichheit auch auf Daten des US Census Bureau. Diese zeigten eine nützliche Übersicht über die Einkommen von Familien auf allen Verteilungsstufen. (Vgl. Bartels 2008: 6) Die aktuellen Daten zu 2014 zeigen, dass der typische amerikanische Haushalt über ein Bruttoeinkommen von 53.657 US-Dollar verfügt. Mehr als 23,6%, also fast jeder vierte Haushalt verfügt über ein Bruttoeinkommen unter 25.000 US-Dollar. Die reichsten 5,6% hingegen verfügen über ein monatliches Bruttoeinkommen von über 200.000 US-Dollar, was mehr als achtmal so viel ist wie das unterste Viertel. (Vgl. U.S. Census Bureau 2015) Auch Bartels zeigt, dass sich das Muster der Einkommensverteilung seit den 1970er Jahren stark geändert habe.

„In the 1950s and 1960s families in every part of the income distribution experienced robust income growth. Since the mid-1970s income growth has been a good deal slower and a good deal less evenly distributed.“ (Bartels 2008: 8)

Während sogar die obersten 10% ein geringeres Einkommenswachstum verzeichnen, zeige sich bei genauer Betrachtung, dass sich lediglich die Superreichen über einen Einkommenszuwachs freuen konnten. (Vgl. ebd.: 10)

„Most of the gains of economic growth since the 1970s have gone precisely to those that the commonly used surveys miss - not just the top 10 percent, but especially the top 1 percent, and especially the highest reaches of the top 1 percent.“ (Hacker/Pierson 2010: 14)

Auch der ehemalige Vorsitzende der Weltbank, Josef Stiglitz, hält fest, dass seit den neoliberalen Wirtschaftsreformen in den 1970ern, Einkommenszuwächse vermehrt dem oberen einen Prozent der Einkommensverteilung zu Gute kommen. Deshalb gehe es Haushalten mit niedrigen und mittleren Einkommen heute finanziell vergleichsweise schlechter als zu Beginn des Jahrhunderts. Wie Piketty stellt auch Stiglitz fest, dass die „Disparitäten in der Vermögensverteilung die in der Einkommensverteilung noch übertreffen“. (Vgl. Stiglitz 2014: 56) Der starke Einkommens- und Vermögenszuwachs der oberen 10 bis 1 Prozent führe darüber hinaus zu einer Erosion der Mittelschicht. Zusammenfassend sagt er: „Die Reichen werden reicher, die Reichsten der Reichen werden noch reicher, die Armen werden ärmer, und ihre Zahl wächst, die Mittelschicht wird ausgehöhlt.“ (Ebd.: 36)

2.2. Wachsende Ungleichheit in Europa

Nicht nur in den USA hat die Ungleichheit seit den 1970er Jahren zugenommen. Auch in den kontinentaleuropäischen und — in etwas geringerem Maße — auch in den skandinavischen Ländern ist der Trend zu beobachten. (Vgl. Schäfer 2015: 67)

Zu Beginn der 2010er Jahre beläuft sich die Ungleichverteilung des Kapitaleigentums in den größten europäischen Volkswirtschaften, namentlich in Frankreich, in Deutschland, in Großbritannien und Italien, auf einen Anteil von 10% der größten Vermögen an etwa 60% des Nationalvermögens. (Vgl. Piketty 2014: 338) Die ärmsten 50% hingegen besitzen laut Piketty beispielsweise in Frankreich 2010 grade einmal 4% des Gesamtvermögens.

Umgerechnet bedeute dies, dass die reichsten 10% mit 60% des Gesamtvermögens im Schnitt der europäischen Länder das sechsfache des Durchschnittsvermögens innerhalb des betreffenden Landes besitzen. Läge das Durchschnittsvermögen in einem der untersuchten Industriestaaten also bei 200.000€ pro Erwachsenem, verfügten die reichsten 10% über ein Nettovermögen von 1,2 Mio. pro Erwachsenem. (Vgl. ebd.: 341) Dabei bleibt jedoch zu erwähnen, dass es auch in Europa innerhalb des obersten Zehntels große Vermögensunterschiede gibt und sich hierbei das oberste 1% stark von den unteren 9% abhebt. Zwischen den ärmsten 50% und den reichsten 10% liegen die mittleren 40%, die über etwa 35% des Gesamtvermögens verfügen. (Vgl. ebd.: 342)

Anders als vor den beiden Weltkriegen, eine Zeit in der die europäische Gesellschaft stark von sogenannten „Rentiers“ und Erbdynastien dominiert war, sei beispielsweise die französische Gesellschaft heute an der Spitze ihrer Einkommenshierarchie insgesamt stärker von hoch bezahlten Gehaltsempfängern dominiert. (Vgl. ebd.: 357-365) Nichtsdestotrotz gilt es diese Entwicklung nicht überzubewerten, da sie sich nicht auf sogenannte „Superreiche“ bezieht. Allgemein gilt auch heute: „Je weiter man innerhalb des obersten Dezils aufsteigt, desto deutlicher nimmt der Anteil der Arbeitseinkommen ab, während systematisch der Anteil der Kapitaleinkommen stark zunimmt.“ (Ebd.: 367)

In Frankreich ist seit den 1960 Jahren ein stetiger Anstieg der Ungleichheit zu verzeichnen. Dazu erreichte das Kapital-Einkommensverhältnis bis 2010 das gleiche Niveau wie am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Auch ein starker Anstieg der Spitzengehältern ist zu verzeichnen.

In Bezug auf die Vermögenskonzentration im Vergleich zum Arbeitseinkommen bleibt festzuhalten, dass diese zwar (noch) nicht die Ausmaße erreicht, die sie vor den Weltkriegen hatte. (Vgl. ebd.: 501) Seitdem ist in den europäischen Industrienationen eine vermögende Mittelschicht entstanden, die zwischen einem Drittel und einem Viertel des Vermögens besitzt. Folglich besitzt das reichste Dezil 8 nur noch zwei Drittel dieses Vermögens und nicht mehr neun Zehntel. Nichtsdestotrotz besitzt die Hälfte der Bevölkerung in allen Industrienationen fast nichts (weniger als 5%). Auch bei Betrachtung der Entwicklung des Ginikoeffizienten — also der Entwicklung der Einkommensungleichheit — in 23 OECD-Staaten zeigt sich, dass die Mehrheit dieser Staaten einen Zuwachs an Ungleichheit verzeichnet. (Schäfer 2015: 69)

2.3. Weshalb die Ungleichheit in Industriestaaten steigt: Einblicke in Kapitalstrukturen des 21. Jahrhundert

Thomas Piketty leitet aus den gesammelten Daten zur Vermögensverteilung in westlichen Industrienationen die These ab, dass die bisher beobachtete Zunahme der Ungleichverteilung im Laufe des 21. Jahrhundert noch weiter ansteigen wird.

Er baut seine Theorie auf einer Ungleichung auf. So basieren seine Annahmen auf der Formel r > g, wobei r die Kapitalrendite und g das Wachstum innerhalb eines nationalen Rahmens beschreibt. Piketty geht davon aus, dass, wenn die Kapitalrendite, also die gesammelten Einkünfte durch Kapital ohne zusätzliche Arbeit — ausgedrückt in Prozent des Wertes des investierten Kapitals — in einem Land höher ist als die Wachstumsrate, es automatisch zu einem Anstieg der ungleichen Vermögensverteilung kommt. Dies sei darauf zurückzuführen, dass sich in diesem Fall automatisch die ererbten Vermögen schneller vergrößern als Produktion und Einkommen. (Vgl. Piketty 2014: 46) So müssten „die Erben also nur einen kleinen Teil ihrer Kapitaleinkommen sparen, damit ihr Kapital schneller wächst als die Gesamtwirtschaft.“ (Ebd.: 46)

Besonders wichtig für die Erkenntnisse Pikettys ist das sogenannte Kapital-Einkommensverhältnis. Dieses ergibt sich bei Teilung des Kapitalstocks durch das Einkommensvolumen innerhalb einer Volkswirtschaft. Liegt der Quotient dieser Rechnung etwa bei 6 bzw. bei 600%, dann entspricht der Gesamtwert des Kapitals eines Landes dem Nationaleinkommen von 6 Jahren.9 (Ebd.: 76) Um sodann den Anteil des Kapitaleinkommens am Nationaleinkommen einer Volkswirtschaft zu bestimmen, gilt die Formel α = r x ß, wobei r die durchschnittliche Kapitalrendite und ß das Kapitaleinkommensverhätnis beschreibt.6 (Vgl. ebd.: 79)

Diese Formeln sind wichtig, da sich Pikettys Hauptanalyse der gegenwärtigen Struktur des Nationaleinkommens auf den Anteil von Kapitaleinkommen im Unterschied zum Arbeitseinkommen sowie dessen Konzentration innerhalb der Hände des obersten Bevölkerungszehntels dreht. (Vgl. ebd.: 217 - 263)

Seit den 1970er Jahren sei ein erneuter Anstieg des Kapital-Einkommensverhältnisses zu beobachten. So „ist das nationale Kapital zu Beginn der 2010er Jahre etwa 5 bis 6 mal so hoch wie10 das jährliche Nationaleinkommen, und dieses Niveau ist kaum niedriger als dasjenige, das im 18. und 19. Jahrhundert und bis zum Ersten Weltkrieg zu beobachten war.“ (Ebd.: 217)

Zurückzuführen ist die Entwicklung auf Pikettys „zweites fundamentales Gesetz des Kapitalismus“, welches sich auf die Formel ß = s/g (s= Sparquote, g= Wachstumsrate) bringen lässt. Die Formel zeigt, dass „ein Land, das viel spart und langsam wächst, langfristig einen gewaltigen Kapitalstock akkumuliert“ (Ebd.: 220). Das könne, so Piketty weiter, „erhebliche Auswirkungen auf die Sozialstruktur und die Vermögensverteilung in dem betreffenden Land haben“ (Ebd.: 220). Hierin wird das Grundproblem der zunehmenden Bedeutung des Kapitals und die damit einhergehende Gefahr des Rückfalls in eine Rentiergesellschaft deutlich.

Bei einem steigenden Einfluss der Erbschaft innerhalb des Vermögensakkumulationsprozesses vermehrten „die aus der Vergangenheit stammenden Reichtümer sich ohne Arbeit schneller als die Reichtümer, die durch Arbeit geschaffen und angespart werden können.“ (Ebd.: 502) In allen Industriestaaten stagniere das Wachstum des Nationaleinkommens seit 1970 bei einem Wert von etwa 2-3%. (Vgl. ebd.: 230) Gleichzeitig befindet sich die durchschnittliche Sparquote auf einem Wert zwischen beispielsweise 7,7% in den USA und bis zu 14,6% in Japan. Durch diese Entwicklung wuchs der Gesamtwert des Privatvermögens quasi automatisch von einem zwei- bis dreimal so hohem Wert als das Nationaleinkommen auf einen vier- bis siebenmal so hohen Wert. (Vgl. ebd.: 228) Für Piketty besteht bei diesen Ergebnissen kein Zweifel:

„[…] [So] ist das Privatkapital in den reichen Ländern seit den 1970er Jahren auf breiter Front zurückgekehrt bzw. es hat sich ein auf Vermögen und Erbschaft basierender Kapitalismus herausgebildet, den man als ‚patrimonialen Kapitalismus‘ bezeichnen kann.“ (Ebd.: 229)

In Rekurs auf das „Prinzip der unbegrenzten Akkumulation“, entwickelt von Karl Marx, welches besagt, dass Kapitalisten immer größere Kapitalmengen akkumulierten, was schließlich zum unaufhaltsamen Sinken der Kapitalrendite bzw. Profitrate führe und schließlich den eigenen Untergang der Kapitalisten bedeute, stellt Piketty fest, dass es sich ähnlich mit der Gleichung ß=s / g verhält. Ist nämlich die Nettosparquote S positiv, während das Wachstum bei null liegt, so steigt das Kapital-Einkommensverhältnis unbegrenzt. Ist das der Fall, muss die Kapitalrendite gegen null tendieren, da ansonsten das Kapital das gesamte Nationaleinkommen ausmache. (Vgl. ebd.: 302-303)

Für Piketty besteht darüber hinaus die Gefahr, dass Kapitalrenditen für große Vermögen in der Regel höher sind als für kleinere. Dies ist auf die einfache Tatsache zurückzuführen, dass es bei einem großen Vermögen einfacher ist, gute Anlageberater zu engagieren oder risikoreiche Anlagengeschäfte zu tätigen. Tatsächlich sei es so, dass bedeutende Vermögen Renditen zwischen 6-7% einführen, während die Durchschnittsrate bei 4% liege. (Vgl. ebd.: 574)

Abschließend soll an dieser Stelle noch ein Vergleich zwischen den Reichsten der Reichen und der restlichen Weltbevölkerung zur Veranschaulichung der steigenden Zahl von „Superreichen“ angestellt werden. So besaß das reichste Zwanzigmillionstel der erwachsenen Weltbevölkerung 1987 noch durchschnittlich 1,5 Milliarden US-Dollar. 2010 liegt dieser Wert bei 15 Milliarden, was einen Jahreszuwachs von 6,8% beschreibt. Innerhalb des reichsten Hundertmillionstel stieg das Durchschnittsvermögen von 3 Milliarden auf ganze 35 Milliarden an, ein Jahreszuwachs von 6,4%11 . Im Vergleich stiegen die Durchschnittsvermögen der erwachsenen Bevölkerung um lediglich 2,1% und die Durchschnittseinkommen um 1,4%. Dieser Trend werde sich, so Piketty, bei einer ungleichen Kapitalrendite nur noch verstärken und zu einer Umverteilung von Mittelschichtsvermögen auf Vermögen des obersten Dezils 12 führen. (Vgl. ebd.: 585)

3. Das politisches Denken Jean Jacques Rousseaus und seine Kritik der Ungleichheit

Jean Jacques Rousseau, der 1712 in das protestantische Genfer Bürgertum hineingeboren wurde, setzte sich in zahlreichen seiner Schriften mit der Problematik der Ungleichheit auseinander. „The most immediate intelligible an powerful of Rousseau’s accusations against civilized humanity is that of injustice.“ (Melzer 1990: 59) Auch heute gilt er noch als einer der lautesten Kritiker ungleicher Verteilungsverhältnisse. (Vgl. Douglass 2015: 368) Zur Analyse der Effekte von Ungleichheit gilt Rousseau auch nach mehr als zwei Jahrhunderten noch als einschlägige, zentrale Interpretationsgrundlage. (Neuhouser 2014: 3)

Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage inwiefern Rousseau, ein nicht unumstrittener Vertreter radikal-demokratischer Ansätze, als sinnvolle Interpretationsgrundlage von gesellschaftlichen Phänomenen in demokratischen Staaten des 21. Jahrhunderts dienen kann. Hierfür soll im Folgenden kurz auf das Rousseausche Demokratieverständnis und seine Einflüsse auf modernes Denken über Demokratie skizziert werden.

3.1. Rousseaus politische Philosophie und die moderne Demokratie

Die politische Philosophie Rousseaus, insbesondere der Gesellschaftsvertrag - der als eine Art praktische Konsequenz des Zweiten Diskurses - Abhandlung über die Ungleichheit gelesen werden kann - ist in seiner Rezeptionsgeschichte auf die verschiedensten Arten interpretiert worden. (Vgl. Fetscher 1985: 478)

Er kann sowohl als Vorläufer des Totalitarismus, des Liberalismus sowie des demokratischen Republikanismus gesehen werden. (Vgl. Brandt 1973: 17-21)

In einer kantianischen Tradition wird die Rousseau’sche Philosophie als dialektisch7 betrachtet. (Vgl. Brandt 1973: 53) Cassirer betont - in der Tradition Kants - die Einheit von Rousseaus Werk, welche sich nicht durch ein kohärentes System der aufeinander Folgenden Werke auszeichne8, sondern durch den einheitlichen kritischen Gedanken, welcher seinen Ursprung in den beiden Diskursen habe und im Contrat Social sowie im Emile gelöst werden soll. (Cassirer 1998: 25) Kant bezeichnet Rousseau so als „Newton of the mind“9, da Rousseau als erster Philosoph deutlich mache, dass moralisches Unheil durch eine Folge von ineinandergreifend, äußerlichen Prozessen entstehe und nicht im Menschen selbst angelegt sei. (Vgl. Neiman 1997: 160) Die von Rousseau dargestellten Extremzustände, die absolute Freiheit im Naturzustand sowie im Gesellschaftsvertrag werden als eine Art Idealvorlage gesehen, deren Aufgabe in der Kritik der modernen Gesellschaft liegt. (Vgl .Brandt 1973: 53/ Herb 2000: 177) In Bezug auf den zweiten Diskurs mache Rousseau dieses Faktum gleich zu Anfang deutlich, als er sagt, dass „alle Tatsachen beiseite gelassen werden“. (Rousseau 1755 2011: 33)

In der vorliegenden Arbeit wird sich auf eine solch „kantianische“ Lesart Rousseaus bezogen, da diese Art, Neuhouser zufolge, am besten geeignet sei, um auf die Kritik der Moderne bzw. der Ungleichheit zwischen den Menschen einzugehen.10 (Vgl. Neuhouser 2014: 14) Sie wird in dieser Arbeit insofern angewandt, als dass von einer dialektischen Verbindung zwischen Rousseaus Werken ausgegangen wird. So könne das volle Argument Rousseaus Kritik der Ungleichheit nachvollzogen werden. (Vgl. Neuhouser 2014: 14)

Um zu zeigen, welchen Einfluss Rousseaus politisches Denken auf aktuelle Demokratieauffassungen hat und hatte, werden nun der Gesellschaftsvertrag sowie seine logischen Schwächen kurz nachgezeichnet. So beschreibt der Rousseau’sche Gesellschaftsvertrag zusammengefasst eine „rechtliche Vereinbarung, mit der sich eine Anzahl von Individuen gemäß allgemeiner, durch das Natur- oder Vernunftrecht vorgegebene Rechte und Gesetze zu der Rechtsgemeinschaft der bürgerlichen Gesellschaft oder des Staates zusammenschließt.“ (Brandt 1973: 13)

Innerhalb dieser Vereinbarung einigen sich die Individuen auf spezielle Rechte und Pflichten. Da der Zweck dieser rechtlichen Vereinbarung für Rousseau in der Wahrung von Freiheit, Leben und Eigentum liegt, muss nach seiner Ansicht ein Zusammenschluss gefunden werden, der „mit seiner ganzen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitgliedes verteidigt und schützt und durch den doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.“ (Rousseau 1762 1997: 17)

Dies soll in einer Form gewahrt werden, in der alle Bürger zusammen einen Gemeinwillen äußern, welcher dann als souveräner Staatswille vertreten wird. Hierfür ist es nötig, dass alle Bürger eigenständig ihre Meinung in den politischen Prozess einbringen. Der Wille der Bürger ist damit „unveräußerbar“ und nicht „delegierbar auf Repräsentanten und auf eine diesen gegenüberstehende Exekutive“. Rousseau setze im Gesellschaftsvertrag jede Form der Vertretung der Volkssouveränität mit deren Veräußerung gleich, erklärt Herb. So wolle Rousseau die Freiheit des Individuums nicht nur im Moment der Staatsgründung, sondern permanent erhalten. Darüber hinaus müsse der Volkssouveränität „alle Staatshoheit zukommen.“ In ihr sei alle Gewalt „begründet und zusammengefasst“. Die Gewalt könne daher nicht geteilt werden sondern müsse konzentriert werden. (Vgl. Lieber 1991: 219) Für Rousseau ergibt sich die radikale Ablehnung jeglicher Volksvertretung aus seiner Ablehnung der in der modernen Gesellschaft inbegriffenen Arbeitsteilung, die sich für ihn in der Repräsentation manifestiert. Diese sei eine Gefahr für das Gemeinwesen.

Diese radikaldemokratischen Forderungen Rousseaus - die er übrigens erst im Gesellschaftsvertrag entwickelt11 - bringen in Bezug auf reale Demokratien einige Probleme mit sich:

Das wohl eklatanteste Problem liegt in der Schwierigkeit der Realisierung einer solchen Form der direkten Demokratie in modernen Großflächenstaaten. (Vgl. Lieber 1991: 226) Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie denn der Gemeinwille im Rahmen einer solchen Abstimmung zustande kommen kann, durch einstimmige Abstimmung oder durch ein Mehrheitsrecht. Beruhen Entscheidungen nur auf Einstimmigkeit, so kommen wohl nur wenige Entscheidungen zustande, gilt ein Mehrheitsrecht so sind die Grundvoraussetzungen der Einheit und Geschlossenheit des Gemeinwillens nicht zwangsläufig gewährleistet. „Hier bleibt ein Dilemma, ein fauler Kompromiss, ein unbefriedigendes Resultat, mit dem Rousseau praktisch nicht fertig wird, da sich totaler Gedankeund konkrete Praxis […] kaum vertragen.“ (Lieber 1991: 226) Damit sich die vom Volk als Souverän verabschiedeten Gesetze nicht widersprechen, soll ein unabhängiger „Sachverständiger“ eingesetzt werden, welcher die Gesetze vorschlägt, während das Volk lediglich abstimmt. Dieser Legislateur besitzt sodann jedoch eine Macht zur Manipulation. (Vgl. Lieber 1991: 227) Ein viertes Problem der Rousseau’schen Staatskonzeption ergibt sich ausRousseaus Ablehnung einer Teilung der Gewalten. Wenn die Regierung zwar theoretisch an die Entscheidungen des Souveräns gebunden ist, jedoch praktisch für alle nicht geregelten Fragen freien Entscheidungsspielraum hat, so ergibt sich eine große politische Rolle für sie. Dennoch ist sie vom Volk jederzeit abzusetzen, was gerade in großen Staaten zu widersprüchlichen Ergebnissen führen kann. (Vgl. Lieber 1991: 228) Nichtsdestotrotz seien der Gesellschaftsvertrag und seine radikaldemokratischen Forderungen, ähnlich wie der Naturzustand, nicht als „Konstruktionsregeln für die Umwandlung der bestehenden Verhältnisse“ zu lesen. „[…][Der Gesellschaftsvertrag] liefert nur die Folie zur Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft.“ (Vgl. Lieber 1991: 228)

So wird in Rousseaus Considerations sur le gourvernement de Pologne deutlich, dass die Repräsentation bei einem großen Flächenstaat wie Polen in den Dienst des Gemeinwillens gestellt werden muss. (Vgl Herb 2000: 184)„Konfrontiert mit den Sachzwängen eines Staates, der keine direkte Demokratie zulässt, gesteht er [Rousseau] den Polen eine parlamentarische Vertretung des Volkswillens zu.“ (Herb 2000: 184) Diese soll jedoch häufig gewechselt werden, um eine „Aufhebung der Identität von Herrschern und Beherrschten“ zu gewährleisten. (Vgl. Herb 2000: 184) Rousseau stimmt also einer parlamentarischen Vertretung nur insofern zu, als dass das Volk trotzdem Souverän bliebt. Seine Ablehnung der Repräsentation ergibt sich aus seiner Angst vor Korruption der Repräsentanten - ein auch heute relevantes Problem der repräsentativen Demokratien. (Vgl. Schäfer 2015/ Stiglitz 2014)

Auch macht Rousseau diesen Repräsentanten ein Zugeständnis in Fragen der Gewaltenteilung, so sollen sie bei Dissens zwischen Volks - und Repräsentantenwillen das letzte Wort behalten. So nähert sich Rousseau, Herb zufolge, in seiner Polenschrift „dem Legitimationskonzept des modernen, auf Repräsentation gestützten Republikanismus. Es führen so, bei der Gesamtbetrachtung von Rousseaus Werk, Wege von seinem Gesellschaftsvertrag als Idealem Muster (Staat in der Idee bei Kant) in „das Programm des modernen Republikanismus“. (Herb 2000: 188)

Dieser soll in dieser Arbeit auch als grundlegendes Demokratieverständnis dienen. Für die Analyse der Auswirkungen ökonomischer Ungleichheit auf demokratische Staaten bietet das „neorepublikanische Demokrativerständnis“ eine passende Grundlage, so Armin Schäfer. (Schäfer 2014: 15) Dieses sei weder zu minimalistisch noch zu maximalistisch bzw. utopisch angelegt. So sei „republikanisch“ an dieser Stelle nicht als radikalpatriotisch zu verstehen sondern beschreibe eher die Wertschätzung der demokratischen Grundwerte, wie politische Beteiligung, Bürgertugenden und die Orientierung am Gemeinwohl. (Vgl. Schäfer 2014: 15) Dazu kommt das Verständnis von Freiheit, welches sich stark am Rousseauschen Ideal der Abwesenheit von Herrschaft orientiert. „Frei ist aus republikanischer Perspektive, wer nicht durch andere beherrscht wird und Anteil nimmt an öffentlichen Angelegenheiten(res publica).“ (Schäfer 2014: 15)

Nichtsdestotrotz wird der Republikanismus heute insbesondere aus liberaler Sicht kritisiert, und als zu totalitär begriffen. Diese Argumente würden jedoch doch verschiedene Strömungen des Neorepublikanismus entkräftet, die für Reformen des bürgerlichen Staates aus republikanischer Sicht eintreten. Zu ihnen zählt Benjamin Barber und seine Gegenwartsanalyse, die zu dem Schluss kommt, dass die Demokratie nur durch ihre Stärkung zu erhalten sei. (Vgl. Barber 1994)

„[…] Eine Starke Demokratie sei die einzig lebensfähige Form moderner demokratischer Politik, und allein die Übernahme einer partizipatorischen Form könne verhindern, dass Demokratie gemeinsam mit den sie ermöglichenden liberalen Werten von der politischen Bühne abtritt.“ (Vgl. Barber 1994: 13)

Eine solch starke Demokratie, strebe eine „Wiederbelebung der Bürgerschaft an, ohne dabei die Probleme einer effizienten Regierung aus dem Blick zu verlieren“. Aus diesem Grund definiere sie Demokratieso, dass das ganze Volk an der Regierung beteiligt sei. (Barber 1994: 14) Nur so sei eine freiheitliche politische Ordnung aufrecht zu erhalten.

Es zeigt sich also, dass Rousseaus Auffassung einer radikalen bzw. starken Demokratie auch heute noch Einfluss auf relevante Demokratieverständnisse hat und trotz seiner Kritikpunkte - insbesondere unter einer dialektischen/ neukantianischen Betrachtung - sinnvolle Anhaltspunkte zur Analyse von modernen demokratischen Staaten bietet.

3.2. Rousseaus Kritik der Ungleichheit

Rousseaus Kritik ökonomischer Ungleichheit ist besonders deutlich im Zweiten Diskurs - Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit zwischen den Menschen dargestellt.

Diesen verfasste Rousseau im Jahre 1755 in Paris, wo er nach seiner Rückkehr aus Venedig bereits als „gefeiertster Kritiker der Nation“ galt12. (Wokler 2004: 17) Im zweiten Diskurs geht er der Problematik von „moralischer“ Ungleichheit als Wurzel der Probleme moderner Gesellschaften genauer auf den Grund. Die Frage der Académie, welches der Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen sei und ob diese durch das Naturgesetz autorisiert sei, beantwortet Rousseau durch die Konstruktion eines künstlichen Naturzustands sowie einer hypothetischen Geschichte menschlicher Vergesellschaftung. Innerhalb dieses Narratives zeigt er, dass die Entstehung von Privateigentum sowie dessen Manifestation in Gesetzen und Staat zu einer unweigerlichen Festsetzung ungleicher Eigentumsverhältnisse führte, was die Unfreiheit innerhalb der eigentumsbasierten Gesellschaft zur Folge gehabt habe.13 (Vgl. Rousseau 1755 1981: 93-124)

Durch die folgende Analyse der Ungleichheitskonzeption Rousseaus sowie seiner Folgen werde deutlich, dass beiden Fragen der Académie: Wie konnte die Ungleichheit zwischen den Menschen entstehen und ist sie durch ein natürliches Recht gerechtfertigt? - nicht getrennt zu beantwortet werden können. So stelle der zweite Diskurs eine Genealogie menschlicher Ungleichheit dar, die untrennbar mit dem Projekt der Kritik ebendieser Ungleichheit verbunden ist. (Vgl. Neuhouser 2014: 4-5) Obwohl also der zweite Diskurs wichtige Belege zu Rousseaus Kritik der Ungleichheit liefert, soll in dieser Arbeit die von Cassirer festgestellte „Einheit des Werkes von Jean-Jacques Rousseau“ betont werden. So ist der „Contrat Social kein Abfall von jenen Grundgedanken, die er in seinen beiden Schriften über die Preisfragen der Akademie von Dijon vertreten hatte“. (Cassierer 1998: 23) Vielmehr seien der Contrat Social, sowie Rousseau erziehungstheoretischer Roman Emile, die „folgerichtige Weiterführung“ des ersten und zweiten Diskurses. Sie zögen somit die Konsequenzen die im Keim bereits in dem „hypothetisch-deduktiv“ aufgebauten zweiten Diskurs enthalten sind. (Vgl. Cassirer 1998: 23)

Zur Analyse Rousseaus Kritik der Ungleich wird in der vorliegenden Arbeit auf Neuhousers Interpretation der Rousseauschen Ungleichheitskritik von 2014 zurückgegriffen. Zum Zwecke des anschließenden Vergleichs von Rousseaus Kritik der Ungleichheit mit aktuellen Ungleichheitsentwicklungen bietet Neuhousers Ansatz ein sinnvolles Interpretationsschema. (Vgl. Douglass 2015: 369) Darüber hinaus stellt13 Neuhousers Arbeit „the first book-length study of Rousseau’s critique of inequality“ dar. (Vgl. Douglass 2015: 368) Nichtsdestotrotz sollen weitere aktuelle Interpretationsansätze, u.A. von Joshua Cohen, Jean Starobinski und Arthur Melzer einbezogen werden. Im Verlauf der dargelegten Arbeit zeigt sich, dass die Entstehung der Ungleichheit auf eine fehlgeleitete amour-propre der Menschen, unter bestimmten Einflüssen der zivilen Gesellschaft, zurückzuführen ist. Douglass und Cohen stellen fest, dass neben der amour propre als Ursprung der Ungleichheit, Rousseaus spätere Werke - insbesondere Emile oder über die Erziehung - zeigten, dass eine weitere psychologische Eigenschaft Auswirkung14 auf die Entwicklung bzw. Steigerung von Ungleichheit habe. Diese Eigenschaft sei das Mitleid. Dieses stelle, so Douglass, „one of the greatest psychological ills of inequality dar“. (Douglass 2015: 375)

3.2.1. Amour propre als Quelle der Ungleichheit

Soziale oder „moralische“ Ungleichheit hat für Rousseau ihren Ursprung nicht in der menschlichen Natur, sondern ist eine künstliche Eigenschaft menschlicher Gesellschaften.

„Its main task [the Second Discourses] is to uncover the various non-natural factors that, according to that account, must come together in order to explain the pervasiveness of inequality in actual human societies.“ (Neuhouser 2014: 61)

So stellt Rousseau am Ende des zweiten Diskurses fest, dass die Ungleichheit im Naturzustand fast „null und nichtig ist, dass ihre Kraft sowie ihr Wachstum aus der Entwicklung unserer Anlagen und aus dem Fortgang des menschlichen Geistes entspringe“. (Rousseau 1755 2010: 123)

Hierbei ist es wichtig auf Rousseaus Unterscheidung zwischen physischen und „moralischen“ Ungleichheiten hinzuweisen. Physische Ungleichheiten wie Unterschiede in Alter, Gesundheit oder körperliche Stärke bestünden auch im Naturzustand. Moralische (oder besser soziale) Ungleichheiten bezögen sich hingegen auf „Privilegien, die einige auf Kosten der anderen genießen, wie reicher, geehrter, mächtiger zu sein als diese oder sich sogar bei ihnen Gehorsam zu verschaffen“. (Rousseau 1755 2010: 31) Diese seien künstlich - durch eine bestimmte Form der Vergesellschaftung - erzeugt. So zeigt sich das Rousseau nicht alle Formen der Ungleichheit verdammt. Er schreibt sogar in seinem Lettre à d’Alembert (17581980: 155), dass eine gewisses Maß an ökonomischer Ungleichheit, basierend auf den natürlichen Ungleichheiten zwischen den Menschen vorteilhaft sein könne. Diese Ungleichheiten dürften jedoch niemals soweit gehen, als das Bürger dazu gezwungen sind die an andere zu verkaufen oder dass ihre freiheitlichen Grundrechte, ihre „public equality“ eingeschränkt würde. (Vgl. Cohen 2010: 117)

So wird deutlich, dass sich für Rousseau verwerfliche Ungleichheiten zwischen Menschen auf diejenigen beziehen, die einen Teil der Menschen innerhalb einer Gesellschaft Vorteile bescheren, während sie gleichzeitig anderen Menschen abgesprochen werden. Hier werde der gravierende Unterschied zu physischen (natürlichen) Ungleichheiten deutlich: „Strength of body, mind and character - differences which constitute natural inequalities - are properties that individuals can possess, and desire to possess without regard to whether others possess more or less, or even any amount, of the same.“ (Neuhouser 2014: 17)

Der Wunsch mehr als Andere zu besitzen, resultiert für Rousseau aus der menschlichen Eigenschaft der amour-propre (Eigenliebe). Mit Gründung der ersten Gemeinschaften setzte ein Bedürfnis der Achtung innerhalb dieser Gemeinschaften ein, welches der „erste Schritt zur Ungleichheit“ war.

„Jeder begann auf sich selbst zu achten und seinerseits geachtet werden zu wollen, und das öffentliche Ansehen erhielt einen Wert. Wer am besten sang oder tanzte, wer der Schönste, der Gewandteste oder der Beredsamste war, wurde der Geachtetste; und dies war der erste Schritt zur Ungleichheit und zugleich zum Laster.“ (Rousseau 1755 2010: 81)

Im Gegensatz zu der amour de soi-même (Liebe zu sich selbst), ein Gefühl, das Menschen schon im Naturzustand spürten, entwickle sich die amour propre, erst in Relation zu anderen Menschen.

„Amour propre, intrinsically, directs us to secure for ourselves recognition from others and a standing in society in which we are honoured as significant beings whose needs and desires have an absolute title to be taken into account (…) it is the desire to have what is our own, what belongs to us, as equal members in our association with others.“ (Dent 1992: 35)

Während die amour de soi-même nach Selbsterhaltung und dem eigenen Wohlbefinden strebe, suche die amour propre Sehnsüchte nach nicht-materiellen Werten, wie Ehre, Leistung sowie die Wertschätzung durch Andere, zu stillen. (Neuhouser 2014: 65) Die amour de soi sei nicht komparativ angelegt, produziert jedoch eine Form der Selbstanerkennung. Wenn sich Menschen dann in soziale Beziehungen begeben, kommt das „relative Ich“ ins Spiel und fordert von den Mitmenschen eine Anerkennung des eigenen Wertes. (Cohen 2010: 101)

„One could also say - to adopt a term later adopted by Fichte and Hegel - that what amour propre seeks is some form of recognition, an acknowledgement by others of one’s status as a values subject.“14 (Neuhouser 2014: 65)15

Durch diese Eigenschaften der amour propre könne diese - im Gegensatz zur amour de soi même - gesellschaftliches Unheil wie etwa „social inequality, enslavement, domination, unhappiness, vice and alienation“ produzieren. (Vgl. Neuhouser 2014: 66) Diese Konsequenzen ergäben sich jedoch nicht zwangsläufig aus der amour propre. So erklärt Dent, dass „competition or striving for domination“ erst zur Begleiterscheinung der amour propre wird, „when other people are perceived as threatening to deny or deprive one of honour or standing.“ Es sei in diesem Fall, „that amour propre takes on an excessive, deformed character, and its own defence seeks to deprive others“. (Dent 1992: 35)

Auch Cohen bestätigt, dass die amour propre durchaus auch in der Lage sei, eine egalitäre Form anzunehmen, in der jede Person sich selbst als gleichwertig zu ihren Mitmenschen sieht. „If our sense of our worth takes the egalitarian form, then we are not led to make the psychologically impossible demand on others that they think better of us than they think of themselves.“ (Cohen 2010: 102) Wenn sich eine Person jedoch als wertvoller einschätzt als Andere, nimmt die amour propre eine ungleiche Form an, die als „entflammte amour propre“ zu bezeichnen ist. Eine Person mit entflammter amour propre, sieht sich selbst dann als wichtiger als alle anderen und will stets nur das Beste für sich selbst. Im Emile erklärt Rousseau den Unterschied zwischen amour de soi und amour propre folgendermaßen: „Wenn Emil also infolge meiner Erziehung seine Art zu sein, zu sehen und zu fühlen derjenigen anderer vorzieht, so hat er recht. Wenn er sich deswegen aber für vortrefflicher und glücklicher als andere hält, so hat er unrecht.“ (Rousseau 1762 1963: 273)

Es zeigt sich in den Interpretationen Neuhousers sowie Cohens, dass die amour propre also eine zwangsläufige Eigenschaft von Menschen ist, die in sozialen Bindungen leben. Obwohl sie keine natürliche - im Naturzustand15 vorhandene - Eigenschaft der Menschen ist, wird sie mit der Entstehung von sozialen Gefügen zwangsläufig.

Amour propre entwickle sich aus dem Gefühl der Überlegenheit über tierische Spezies, und dem daraus entstehenden Wunsch sich ebenso gegenüber anderen menschlichen Individuen überlegen zu fühlen. (Vgl. Rousseau 1755 2010: 75-76) Wie Neuhouser (2014: 85) feststellt entsteht aus der „experience of mastery over the less advantages […] a feeling of pleasure in occupying the higher rank.“

Gemeinsam mit dem aus der Liebe zu anderen Menschen erwachsenden Gefühl der Eifersucht führe dann der Wunsch nach Überlegenheit und Anerkennung zu einem Streben nach höherem Status. (Vgl. Neuhouser 2014: 86) Die Erfahrung der leidenschaftlichen Notwendigkeit, die durch sexuelle Anziehung entsteht, kann dann auf andere Bereiche übertragen werden, womit sich sodann die amour propre in der Psychologie der Menschen manifestiert.

[...]


1 Krugmann, Paul 2011. Oligarchy, American Style? . New York Times. Online im Internet: URL: http://www.nytimes.com/2011/11/04/opinion/oligarchy-american-style.html?_r=0 [Stand: 04. 06.2016].

2 Als OECD- Staaten werden die Mitgliedsstaaten der „Organization for Economic Co-operation and Development“ bezeichnet. Diese ist „die bedeutendste Organisation der westlichen Industrieländer zur Koordinierung der Wirtschafts-, Handels- und Entwicklungspolitik.“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2005. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Online im Internet: URL: http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20270/oecd [Stand 11.11.2016]. )

3 Weitere Erklärungen dazu finden sich bei u.A. bei Stiglitz, Hacker/Pierson und Schäfer. (Vgl. Stiglitz 2014, Hacker/Pierson 2010, Schäfer 2015)

4 So konnte ein Anstieg der obersten Zehntel am Arbeitseinkommen von 25% 1970 auf 35% 2010 festgestellt werden. (Vgl. Piketty 2014: 395)

5 Die Task Force on Inequality and American Democracy „was charged with reviewing and assessing the best current scholarship about the health and functioning of U.S. democracy over recent decades, in an era of expanding social rights yet rising economic inequality“. (Jacobs/Skocpol 2005, 1-2) Sie forschte insbesondere zu Bürgerbeteiligung, Regierungsreaktionen auf Bürger und die Auswirkungen von Sozialpolitik auf Ungleichheit und Beteiligung. Zu den fünfzehn beteiligten Forschern zählen u.A. Larry Bartels, Jabcob Hacker, Sidney Verba, Kay Lehman Schlozman und Hugh Heclo. (Vgl. Jacobs/Skocpol 2005: 14)

6 Es gilt also: „Wenn in einer Gesellschaft die Höhe der Vermögen dem Nationaleinkommen von sechs Jahren entspricht und wenn die durchschnittliche Kapitalrendite bei 5% jährlich liegt, dann beträgt der Anteil des Kapitals am Nationaleinkommen 30%.“ (Piketty 2014: 80)

7 Kant zufolge läge die Vernunft der Rousseauschen Philosophie „in der Dialektik von natürlicher Einfalt, Zerfall in einander widerstreitender Momente und Selbstgewinnung des Menschen“. (Brandt 1973: 53) So könnten durch eine dialektische Betrachtung die verschiedenen, sich augenscheinlich widerstreitenden Schriften Rousseaus mit der Vernunft in Einklang gebracht werden. Rousseau zeige, Kant zufolge, in seinem ersten und zweiten Diskurs den „unvermeidlichen Widerstreit der Kultur mit der Natur des Menschlichen Geschlechts“. In seinen weiteren Schriften (u.A. dem Emile und dem Contrat Social) hingegen versuche er eine Lösung zu finden, „wie die Cultur fortgehen müsse, um die Anlagen der Menschheit als einer sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung gehörig zu entwickeln, so dass diese jener als Naturgattung nicht mehr wiederstreite.“(Kant 1786 1999: 36ff.)

8 „Systeme jeder Art“ seien für Rousseau uninteressant, da er sein Leben und Tun keinem System nach ausrichten wolle. „Ich lasse mich von dem Eindruck des Augenblicks leiten, ohne Widerstand und sogar ohne Bedenken […] Alles Schlechte, was ich in meinem Leben gemacht habe, habe ich durch Überlegung getan, und das wenig Gute, was ich habe tun können, habe ich ohne viel nachdenken getan“(Rousseau 1767 1978: 238) Cassirer schließt aus diesem Zitat, dass man Rousseaus Werke zwar nicht als „System“ lesen kann, sie jedoch alle von einer „bestimmten, zentralen Idee beseelt“ sind, die ihnen eine „organische Einheit“ verleiht. (Cassirer 1998: 50)

9 Kant schreibt so: „Newton sah zu allererst Ordnung und Regelmäßigkeit mit großer Einfachheit verbunden, wo vor ihm Unordnung und schlimm gepaarte Mannigfaltig anzutreffen war, und seitdem laufen Kometen in geometrischen Bahnen. Rousseau entdeckte zu allererst unter der Mannigfaltigkeit der menschlichen angenommen Gestalten die tief verborgene Natur des Menschen und das versteckte Gesetz, nach welchem die Vorsehung durch seine Beobachtungen gerechtfertigt wird.“ (Kant 1902: 58.12-59.3)

10 Es bleibt nichtsdestotrotz wichtig zu erwähnen, dass die Kantianische Interpretation Rousseau gerade in Bezug auf seine Ungleichheitskritik Schwächen aufweist. So vernachlässige der Rousseau einer kantianischen, moralistischen Lesart, das für Rousseau Unterdrückung und Beschränkung von Freiheit in manchen Fällen sogar gerechtfertigt sein kann. Melzer weißt darauf hin, dass nicht nur die Unterdrückung, produziert und Ungleichheit, aus Rousseaus Sicht Unheil über die Menschen bringen kann, sondern, dass es für Rousseau noch weitere Gründe für eine „corruption“ der menschlichen Seele gäbe. (Vgl. Melzer 1990: 63)

11 Noch in der Economie politique von 1755 sind für Rousseau Repräsentation und Republik vereinbar: „Rousseau hält es sogar durchaus für möglich, dass sich die Stellvertretung des Volkswillens dessen unmittelbarem Ausdruck überlegen erweist. Die Einrichtung der Repräsentation verdankt sich nicht allein der praktischen Schwierigkeit, das Volk zur gemeinsamen Gesetzgebung zu versammeln, sondern lässt auf eine größere Rationalität bei der Entscheidungsfindung im Sinne des Gemeinwohls hoffen.“ (Herb 2000, 167)

12 Dieser Ruf beruht auf seinem ersten Diskurs über die Künste und Wissenschaften, in dem er bereits 1749 eine scharfe Kunstkritik formulierte. (Vgl. Wokler 2004, 17) Genau wie der zweite Diskurs bezog sich der erste Diskurs auf eine Frage der Académie de Dijon. Anders als der zweite Diskurs gewann dieser erste Text zwar die Ausschreibung der Académie, sollte aber bei weitem nicht so einflussreich für die Entwicklung der politische Theorie werden wie der zweite Diskurs, der maßgeblichen Einfluss, besonders auf die deutsche Philosophie haben sollte. „Rousseaus influence on Kant, Fichte, Hegel, Marx, and even Nietzsche is both ubiquous and profound“. (Neuhouser 2014, 14)

13 Die Konstruktion eines Naturzustandes, wie von verschiedenen Denkern der Aufklärung vorgenommen, wird heute nicht mehr als angemessener Ansatz zur Kritik von gesellschaftlichen Umständen betrachtet. So kritisierte Marx bereits 1844 die Herstellung von fiktionalen prägesellschaftlichen Zuständen: „Let us not go back to fictious primordial condition (…) We proceed from an economic fact of the present“. (Marx 1844: 107) Scott zufolge sei „the concept of the state of nature sublated into the dialectic of history and the history of philosophy or dismissed as a wrong headed hermeneutic“. (Scott 1992: 697) Nichtsdestotrotz bleibt Rousseaus politische Philosophie auch für die Marxistische Tradition relevant, wie Melzer anmerkt: „The ultimate processs started by Rousseau is Marxism with its promise that merely by eliminating exploitation of man by man the human problem will be permanently solved and all men will live in wholeness and completion.“ (Melzer 1990: 85)

14 Auch Neuhouser erklärt, dass der Term „recognition“ nicht explizit bei Rousseau auftaucht, jedoch könne man die amour propre klar als Quelle für spätere Theorien der Anerkennung identifizieren. (Neuhouser 2014: 65) Die Verbindung ist wichtig für spätere Vergleiche mit Studien zur Wahlbeteiligung etc.

15 Als Naturzustand bezeichnet Rousseau eine Form des Lebens in der der Mensch als Einzelgänger durch die Natur streift und bis auf die Notwendigkeit der Fortpflanzung keinen anderen Kontakt zu anderen Menschen hat. Erst als der Mensch sich von diesem Naturzustand loslöst, geht auch andere Beziehungen zu Menschen ein. Menschliche Beziehungen sind also nicht natürlich sondern künstlich. (Vgl. Rousseau 1755 2010, 14 ff.)

Fin de l'extrait de 62 pages

Résumé des informations

Titre
Zur Aktualität von Jean-Jacques Rousseaus Kritik der Ungleichheit
Université
University of Frankfurt (Main)  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
1,2
Auteur
Année
2017
Pages
62
N° de catalogue
V536738
ISBN (ebook)
9783346161949
ISBN (Livre)
9783346161956
Langue
allemand
Mots clés
Rousseau, Ideengeschichte, Ungleichheit, Demokratie, Demokratietheorie
Citation du texte
Nadine Benedix (Auteur), 2017, Zur Aktualität von Jean-Jacques Rousseaus Kritik der Ungleichheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/536738

Commentaires

  • Pas encore de commentaires.
Lire l'ebook
Titre: Zur Aktualität von Jean-Jacques Rousseaus Kritik der Ungleichheit



Télécharger textes

Votre devoir / mémoire:

- Publication en tant qu'eBook et livre
- Honoraires élevés sur les ventes
- Pour vous complètement gratuit - avec ISBN
- Cela dure que 5 minutes
- Chaque œuvre trouve des lecteurs

Devenir un auteur