Goethes Werther als ambivalente Figur. Selbstinszenierung oder Fiktion?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

25 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis.

1. Einleitung

2. Der.Briefroman.im.18.Jahrhundert
2.1. Literaturhistorischer Hintergrund
2.2. Der Briefroman
2.3. Goethes Werther

3. Goethe.in.Werther
3.1. Goethes Umfeld
3.2. Einflusse fur die Wertherfigur
3.3. GoetheCWertherCVergleich

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Der junge Goethe formuliert Problemkonstellationen, ohne Losungen anzubieten, und gec staltet Konflikte ohne Auswege anzuzeigen. Sein dichterisches Werk erweist sich als Spiec 1 gel einer komplexen und von unauflosbaren Widerspruchen gepragten Lebenswelt.“

Der junge Johann Wolfgang Goethe lebte in einer Zeit von Transformationen. Das 18. Jahrhundert war durch aufklarerische Gedanken und Prozesse gepragt, die auf unterschiedlichste Weise in den verschiedenen Lebensbereichen deutlich wurden.1 2 Verschiedene Stromungen wie das Rokoko, die Empfindsamkeit und schlie&lich die Zeit des Sturmes und Dranges brachen das Emanzipationsprogramm, das sich durch autonome und losgeloste Denkweisen auszeichnete, nicht ab, sondern setzc ten es andersartig fort.3

Im Allgemeinen war die Epoche der Aufklarung eine Formierungsphase der Moc derne. Dabei standen vorurteilsfreie Kritik und das autonome Subjekt im Zentrum. Die Neuordnung Europas, die Sakularisierung sowie das Epos der modernen Dichc ter sind Folgen des Modernisierungsprozesses.4 Der politische und gesellschaftlic che Kontext des jungen Goethes war durch Spannungen gepragt. Unter anderem wurde die momentan herrschende Gesellschaftsstruktur mit dem herrschenden Adel in Frage gestellt.5 Goethe reflektiert die Legitimationsfrage Hierarchie in seic nem beruhmten Werk Die$Leiden$des$jungen$Werther.6 In diesem Werk nimmt Goec the nicht nur gesellschaftliche Spannungen auf, sondern verarbeitet ebenso die poc litischen Umstande. Wahrend in Frankreich der Aufschwung des Burgertums in eic ner Revolution endet, fehlt es in Deutschland an burgerlicher Schubkraft fur revoluc tionare Handlungen. Hier regieren Resignation und Hinnahme das Leben der Burc ger.7 Der Protagonist in Goethes viel gelesenem Briefroman kennzeichnet sich eic nerseits durch antihofische Affekte, bleibt andererseits weitestgehend apolitisch, so wie es in Deutschland die meisten Menschen zu sein scheinen.8

Mit dem Strukturwandel der Offentlichkeit entsteht im 18. Jahrhundert ein literari- scher Markt. Erstmals lesen untere Gesellschaftsschichten und ein generelles Wachstum an burgerlichen Lesern ist zu vermerken.9 Die „Publizistik wird als MeC dium des intellektuellen und sozialen Selbstverstandnisses“10 verstanden. Durch reC gelma&igen Bucherkonsum entsteht ein Diskurs zur Moralitat. Kontroverse Meinunc gen diskutieren uber den moralischen Nutzen einer regelma&igen Lekture, da ein Gefahrenpotential unverkennbar scheine.11 So ist als Beispiel wiederum Goethes Werther anzufuhren, da der Roman auf eine Verurteilung des Suizids verzichtet und 12 so moralisch fragwurdige Haltungen nicht als solche kennzeichnet.12 Der Roman uber den jungen Werther ist summa summarum ein Vorzeigebeispiel fur ein Werk eines modernen Dichters. Er beinhaltet Aspekte der geistigen Autonomie und der sozialen Unabhangigkeit sowie des kritischen Bewusstseins gegenuber der GesellC schaft.13

Dass der junge Goethe einen gro&en Erfolg mit dem Briefroman Die Leiden des jungen Werther feiern durfte, verdankte er der schrankenlosen Hingabe seiner 14 kunstlerischen Neigungen, welche durch seine wohlhabenden Eltern moglich war.14 Auch nach dem Praktikum beim Reichskammergericht entschied sich der junge Goethe gegen die vom Vater erhoffte juristische Karriere, trotz dass der Beruf des Schriftstellers zu damaliger Zeit weniger abwerfend war. Und so entstanden die jungen Werke Goethes ganz aus dem Bedurfnis nach dichterischer SelbstausspraC che und nicht durch verpflichtend zu berucksichtigende Interessen der lesenden Burger, wie bei vielen seiner Zeitgenossen.15 Goethe bekam also die Chance sein Genie unter Beweis zu stellen und sich an keinerlei Regeln und Wunsche zu halten. Nach Immanuel Kant ist „Genie [...] das Talent (Naturgabe), welcher der Kunst die Regeln gibt. Da das Talent als angeborenes produktives Vermogen des Kunstlers, selbst zur Natur gehort, so konnte man sich auch so ausdrucken: Genie ist die angeborene Gemutslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regeln gibt.“16 17

Ein solches Genie tragt Attribute der Originalitat und eines Musterentwurfes. Jedoch ahmt es keinerlei Dinge nach. Besonders bemerkenswert ist die Eigenschaft, dass sich das Genie die Ideen selbst nicht erklaren kann. Schlie&lich ist, wie schon gee nannt, die Natur regelgebend in der Kunst und gelangt durch das Genie in sie.17 Auch die Werke des jungen Goethes sind besonders von Originalitat und AuthentiC zitat gebrandmarkt. Au&erdem emanzipieren sich Werke wie der Roman uber den 18 jungen Werther von den gesellschaftlichen Normen.18 Damit setzt Goethe GrundsC 19 atze der Genieasthetik konsequent um und kann als Genie bezeichnet werden.19 Bei einem Perspektivwechsel avanciert sich die Skepsis eines originellen Werkes zu der Annahme, dass der Briefroman Goethes mehr ein Schlusselroman zu sein scheint. Dabei kann Werthers Leben dem Goethes nahezu ganzlich gleichgesetzt werden, da sich biografische Ereignisse mit Werthers Erlebnissen uberschneiden. Goethe selbst streitet diesen Vergleich der WertherCFigur mit seinem eigenen LeC ben Jahre spater in Dichtung$und$Wahrheit ab, kann die Vorbildhaftigkeit und VerC strickung mit eigenen Erfahrungen in die des Werthers aber nur schwer ignorieren. Der junge Goethe generierte ein literarisches Werk als Resonanzraum der KunstC lerpsyche.20 In spaterer Zeit verwirft er diese Aussage dadurch, dass er eine BeC zugnahme seiner Biografie auf Werther verneint und den Schein erweckt eine vollig neue Geschichte beschrieben zu haben.

Ist die Figur des Werthers in dem erfolgreichen Briefroman des jungen Goethes eine Inszenierung seines eigenen Lebens oder lediglich eine Verarbeitung innerer GeC dankenprozesse? Die ambivalente Stimmung uber Die$Leiden$des$jungen$Werther soll in vorliegender Arbeit genauer angegangen werden.

Dazu wird zunachst die Form des Briefromans vorgestellt und dessen Wirkung herC vorgehoben. Hier wird nochmals genauer Bezug zur Entwicklung der LiteraturbranC che im spaten 18. Jahrhundert genommen. Dabei wird die Wirkung des Werthers miteinbezogen.

Im Hauptteil der Arbeit werden ausgewahlte Erlebnisse Werthers mit Goethes LeC ben in einen kontextuellen sowie personalen Bezug gesetzt. Schlie&lich sollen noch Ambivalenzen und Vermischungen, die von Goethes eigener Biografie abweichen oder nicht erkannt werden, aufgearbeitet werden.

Der Schlussgedanke zielt darauf ab die Ambivalenzen abzuwagen, um Werther abc schlie&end als Selbstinszenierung Goethes eigener Person oder als erfundene Fi- gur zu erkennen.

2. Der!Briefroman!im!18.!Jahrhundert

2.1. Literaturhistorischer!Hintergrund!

Bereits!in!der!antiken!Literatur!sollten!einzelne!Passagen!in!Briefform,!RomanszeC nen fur sich sprechen lassen. Ganze Korrespondenzen stellten jedoch noch keinen 21 selbststandigen Roman dar. Im Mittelalter wurden immer mehr Briefe und deren Antworten gesammelt literarisiert. Anfangs bestanden diese Werke gro&tenteils aus lyrischen Liebesbriefen, welche die Versform nutzten. Zunehmend wurde der ProsC abrief in Romanen bedeutender, konnte allerdings nicht ganzlich ohne Kommentar 22 stehen, da Zwischenpassagen zum Verstandnis notig waren. Wahrend der Schac ferroman im 16. Jahrhundert Briefe als Einschube in das Werk einbrachte, entstanC den in Spanien und Italien die ersten Liebesromane, in welchen ausschlie&lich uber Briefe kommuniziert wurde. Juan de Seguras „Processo de Cartas“ aus 1548 sowie „Lettere amorose“ von Alvise Pasqualigos aus dem Jahr 1565 sind Vorreiter der ersten echten Briefromane. Nachdem der Weg fur die Gattung des Briefromans geC ebnet schien, dauerte es uber 100 Jahre bis die Briefromanliteratur Aufschwung erfuhr. In der Zeit der Empfindsamkeit war es nicht verwunderlich, dass Liebesbriefe den Geschmack der Leser traf, denn die Krankheit der Melancholie war geradezu in Mode.21 22 23 Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde England zur Avantgarde einer umfangreichen Briefromanproduktion. Der Briefroman fand sich im Genre eines abenteuerlichen und von Emotionalitat gepragten Liebesroman wieder. Richardson perfektionierte diese Form des empfindsamen Romans in seinem Werk „Pamela“ dann 1740. Nach seinen weiteren Veroffentlichungen von „Clarissa“ (1748) und „Grandison“ (1752) fand der Briefroman Einklang in der gesamten Weltliteratur.24 Die Literatur Frankreichs zog 1759 mit Rousseaus „Nouvelle Heloise“ nach. AllerC dings schuf der franzosische Aufklarer, Padagoge und Schriftsteller eine eigene VaC rietat des Briefromans, deren Wirkung erst 15 Jahre spater spurbar wurde. RichardC sons ursprungliche Form, die sich vorwiegend durch Berichte uber innere und auC ftere Geschehnisse des Schreibers auszeichnet, wurde in der folgenden Flut von Briefromanen ubernommen. Sophia La Roches „Rosaliens Briefe“ ist nur eins der wenigen Beispiele aus deutschsprachigem Raum.25 Allein in der Zeit von 1740 bis 1800 wird eine Veroffentlichung von 700 Briefromanen geschatzt, die sich auf das Vorbild Richardson stutzen. Goethes Briefroman von 1774 Die$Leiden$des$jungen Werther sprach fur den Anbruch einer neuen Zeit, in der seelische Vorgange sowie Gefuhle und Gedanken zum Ausdruck kommen, ganz nach dem Vorbild Rousseaus 15 Jahre fruheren „Nouvelle Heloise“. Die ausgedruckten Emotionen sprechen im Roman fur sich, um die Ereignisse in richtiger Folge auffassen und verstehen zu konnen.26 Nach einem heftigen Aufschwung erfahrt die Gattung nach 1800 einen steilen Ruckgang bis 1840 schlie&lich keine Briefromane mehr auftauchen.

2.2. Der Briefroman

Im vorangestellten Punkt wird vor allem der englische Briefroman Richardson als Wegbereiter der Gattung Briefroman identifiziert. Es wird von Briefromanen gesproC chen, wenn die Geschichte eines Romans in Briefen dargestellt wird, die „so ein schriftliches Aquivalent fur die Rahmung des mundlichen Erzahlens bilden“27.

Der Erfolg dieser Romanform ist allerdings im Kontext der von Emotionalitat gepragC ten Kulturkonzepte zu betrachten. Die Kontextualisierung ermoglicht Bezuge zur Empfindsamkeit.28 Stackelberg stellt den Briefroman als die reprasentative Form des Romans aus der Epoche der Empfindsamkeit vor, wenn er Briefe empfindsaC men Inhalten zuordnet. Themen wie die Subjektivitat, der private Lebensbereich und rein menschliche Beziehungen sind seinen Betrachtungen nach Ursache fur 29 die Briefkultur und damit auch fur die Form des Briefes als Roman.29 Die Gattung des Briefromans verschreibt sich damit der Wirkung auf die Ruhrung des Lesers abzuzielen. Sie wird zu einer „emotionalen Herrschaftsform des Erzahlens“30 und erhoht die Intensitat des Mitgefuhls beim Rezipienten.31 Er erweckt nahezu den Schein, dass die Teilhabe an einer fiktiven Welt moglich ist und schafft damit eine „quasiCpragmatische!Rezeptionssituation“32.!Durch!die!Aufwertung!des!Romans!im 18. Jahrhundert erfahrt besonders der Briefroman einen Boom und wird zur fuhrenc den Gattung. Da sich die Rezipientenhaltung jedoch noch nicht ganzlich auf die fiktiven Ereignisse in solchen Schriften einlassen kann, da sie bisher kaum mehr als biblische Schriften kennt und deren Wahrheitsanspruch nicht in Frage stellt, wird 33 dem Roman ungewollt eine moralische Funktion zugeschrieben.33 Das bedeutet auch, dass Autoren ihre Werke nach Regeln des Dramas gestalten oder den FiktiC onscharakter gar leugnen, um dem Leseranspruch gerecht zu werden. Sie beteuern regelrecht die Wahrhaftigkeit ihrer beschriebenen Ereignisse. Goethe ist nicht der Einzige, der, wie beim Wertherroman uber einen fiktiven Herausgeber, versucht, Authentizitat auszudrucken. Es sind Vorworte typisch, welche die folgenden Seiten als Sammlung beschreiben und damit eine Illusion beim Leser stiften, die von wirkC 34 lichen Ereignissen ausgeht.34

[...]


1 Valk, Thorsten: Der junge Goethe: Epoche - Werk - Wirkung. Beck, Munchen, 2012. S. 11.

2 3 Vgl. Ebd. S. 15.

3 4 Vgl. Ebd. S. 16.

4 5 Vgl. Ebd. S. 17.

5 6 Vgl. Ebd. S. 27.

6 7 Vgl. Ebd. S. 27.

7 8 Vgl. Ebd. S. 33.

8 Vgl. Ebd. S. 34.!

9 Vgl. Valk, T.: Der junge Goethe. 2012. S. 35.

10 Ebd. S. 35.

11 Vgl. Ebd. S. 37f.

12 Vgl. Ebd. S. 38.

13 Vgl. Ebd. S. 39.

14 Vgl. Ebd. S. 41.

15 Vgl. Ebd. S. 11.

16 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Mit einer Einl. und Bibliogr. hrsg. von Heiner Klemme. Mit Sachanm. von Piero Giordanetti. Felix Meiner, Hamburg, 2001. S. 193.!

17 Vgl. Kant, I.: Kritik der Urteilskraft. 2001. S. 194.

18 Vgl. Valk, T.: Der junge Goethe. 2012. S. 9.

19 Vgl. Ebd. S. 41.

20 Vgl. Ebd. S. 11.!

21 Vgl. Voss, Ernst Theodor: Erzahlprobleme des Briefromans dargestellt an vier Beispielen des 18. Jahrhunderts. Sophie La Roche, „Geschichte des Fraulein von Sternheim“, Johann Wolfgang GoeC the „Die Leiden des jungen Werther“, Johann Timotheus Hermes „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“, Christoph Martin Wieland „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“. HochschulC 2s2chrift, Bonn, 1960. S. 12.

22 Vgl. Ebd. S. 13.

23 Vgl. Ebd.

24 Vgl. Ebd. S. 14.

25 Vgl. Voss, E.T.: Erzahlprobleme des Briefromans dargestellt an vier Beispielen des 18. JahrhunC derts. 1960. S. 15.!

26 Vgl. Ebd.

27 Stienig, G., Vellusig, R. (Hrsg): Poetik des Briefromans: WissensC und mediengeschichtliche StuC 2d8ien. De Gruyter, Berlin, Boston, 2013. S. 7.

28 Vgl. Ebd. S. 3.

29 Vgl. MoravetzCKuhlmann, M.: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jh.: Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Heloise und Laclos Liasions dangereuses. Narr, TubinC gen, 1990. S. 5.

30 Ebd. S. 5.

31 Vgl. Ebd. S. 5.

32 MoravetzcKuhlmann, M.: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jh.: Richardc sons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Heloise und Laclos Liasions dangereuses. 1990. S. 4.!

33 Vgl. Ebd. S. 2.

34 Vgl. Ebd. S. 3.!

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Goethes Werther als ambivalente Figur. Selbstinszenierung oder Fiktion?
Hochschule
Universität Konstanz
Note
2,3
Autor
Jahr
2019
Seiten
25
Katalognummer
V537131
ISBN (eBook)
9783346170095
ISBN (Buch)
9783346170101
Sprache
Deutsch
Schlagworte
figur, fiktion, goethes, selbstinszenierung, werther
Arbeit zitieren
Selina Steinich (Autor:in), 2019, Goethes Werther als ambivalente Figur. Selbstinszenierung oder Fiktion?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/537131

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