Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Das Prinzip der Doppelwirkung
2. Fallbeispiele
2.1 Das Trolley-Problem und der Richter
2.2 Das Medikament und das Serum
2.3 Der dicke Mann im Höhleneingang
3. Wo ist die Doktrin sinnvoll?
3.1 Die Hypothese der „bösen Menschen“
4. Welche Schwierigkeiten ergeben sich?
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect, Philippa Foot, 1967. Oxford Review, No. 5. Included in Foot, 1977/2002 Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy
1. Das Prinzip der Doppelwirkung
Das Prinzip der Doppelwirkung (engl. „the doctrine of the double effect“) ist ein ethischer Grundsatz der im Falle eines moralischen Dilemmas Anwendung findet. Historisch hat sich vor allem die katholische Kirche auf dieses Prinzip berufen.1 Zugrunde liegt das Problem, dass es zwar in allen Bevölkerungsschichten weitgehend anerkannte ethische Grundregeln gibt, beispielsweise „Du sollst nicht töten.“, diese sich jedoch in bestimmten Situationen widersprechen. In gewissen Extremfällen ist es unumgänglich, dass entweder die eine oder die andere moralische Pflicht verletzt wird. Die Doktrin soll an dieser Stelle als Orientierungshilfe dienen. Sie relativiert ethische Grundregeln. Laut dieses Prinzips ist selbst eine strenge ethische Regel (wie die des Tötungsverbots) nicht absolut, sondern kann unter bestimmten Umständen gebrochen werden.
Grundlage ist die Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Folgen einer Handlung. Einerseits kann eine Folge der Beweggrund der Handlung sein, das was man direkt beabsichtigt. Andererseits können auch Folgen auftreten, die man zwar als Resultat der Handlung vorhersieht, aber nicht erreichen möchte, unbeabsichtigte Nebeneffekte.2 Bentham nennt Letztere eine „oblique intention“, das heißt indirekte Intention im Gegensatz zur direkten Intention.3 Folglich kann eine Handlung moralisch gerechtfertigt sein, sofern alle negativen Konsequenzen lediglich unbeabsichtigte Nebeneffekte sind. Man kann sich durchaus zuvor der schlechten Nebeneffekte bewusst sein, solange sie jedoch nicht selbst intendiert sind, rechtfertigt die beabsichtigte gute Folge sie. An dieser Stelle sei gesagt, dass in dem Artikel mehrmals darauf hingewiesen wird, dass auch die Mittel intendiert sind. Foot schreibt zunächst „He intends in the strictest sense both those things that he aims at as ends and those that he aims at as means to his ends”4. Kurz darauf bezieht sie sich auf Bentham: „Bentham spoke of ‘oblique intention,’ contrasting it with the ‘direct intention’ of ends and means”5. Die Doktrin ist daher nicht gleichzusetzen mit „der Zweck heiligt die Mittel“. Der negative Nebeneffekt muss eindeutig ein Resultat aus der Handlung sein und nicht die Handlung an sich. Ein schlechtes Mittel für einen guten Zweck zu nutzen ist nicht erlaubt.
2. Fallbeispiele
2.1 Das Trolley-Problem und der Richter
Zunächst sei das sogenannte „Trolley-Problem“ angeführt. Man stelle sich vor, eine Straßenbahn führe geradewegs auf fünf Gleisarbeiter zu. Der Fahrer könne den Tod der Arbeiter nur verhindern, indem er die Weichen umstellt und auf ein Gleis fährt, auf dem ein Arbeiter steht, der getötet würde.6 Es gibt nur diese zwei Wege und der Fahrer ist sich dessen absolut bewusst. Intuitiv urteilen die meisten Menschen, dass der Fahrer umlenken soll. Nun führt Foot ein zweites Beispiel an: Ein Richter soll den Täter eines Verbrechens finden und hinrichten lassen, da sonst ein aufgebrachter Mob Selbstjustiz ausüben und dabei fünf Menschen umbringen würde. Dem Richter ist es jedoch nicht möglich den Schuldigen ausfindig zu machen.7 Soll er in dieser Situation einen Unschuldigen verurteilen und hinrichten lassen, da das der einzige Weg ist, die Leben der fünf Unschuldigen zu retten?
In beiden Beispielen ist die Situation identisch: Tötet man einen Unschuldigen, kann man dadurch fünf andere retten. Dennoch entscheiden sich die meisten Menschen im zweiten Fall anders.8 Anhand der Doktrin lässt sich die unterschiedliche moralische Bewertung beider Fälle gut herausarbeiten. Entscheidend ist der Unterschied einen Menschen zu überfahren, da man nicht stoppen und somit lediglich vorhersehen kann dass man ihn töten wird (einem Nebeneffekt) oder dem direkten Hinrichten als Mittel.9 Um das zu verdeutlichen stelle man sich vor, der Gleisarbeiter könne sich retten. Das wäre eine bessere Lösung für den Bahnfahrer. Er benötigt seinen Tod nicht zwangsläufig. Könnte jedoch der Schuldiggesprochene sich retten, müsste der Richter einen Anderen schuldig sprechen. Er benötigt zwangsläufig einen Tod.10
2.2 Das Medikament und das Serum
Ähnlich verhält es sich mit folgenden Beispielen: Ein Mensch leidet an einer tödlichen Krankheit und kann nur durch die Gabe eines Medikaments überleben. Dieses Medikament steht einmalig zur Verfügung. Gleichzeitig leiden fünf Personen unter einer ebenso tödlichen Krankheit, zu deren Heilung sie nur jeweils ein Fünftel desselben Medikaments benötigen.11 Wem soll man es geben? Da man in keinem Fall die Absicht hat jemanden zu töten, sondern unabhängig davon für wen man sich entscheidet durch die Gabe des Medikaments Leben retten möchte, ist die Intention dieselbe. Daher spielt es keine Rolle, wen man rettet. Das Prinzip der Doppelwirkung bietet in diesem Fall keinerlei Orientierungshilfe.
Ein weiteres Beispiel: Fünf kranke Menschen können gerettet werden, wenn aus dem Kopf eines gesunden Menschen ein Serum hergestellt wird.12 Ist das moralisch vertretbar? Dieses Beispiel ist besonders realitätsnah, da es in ähnlicher Weise zum Beispiel in Bezug auf den aktuellen Organhandel denkbar ist. Argumentiert man mit der Doktrin, ist diese Vorgehensweise moralisch nicht vertretbar. Das Töten des Menschen ist nicht bloß das negative Resultat aus einer Handlung, sondern die Handlung selbst. Es ist Mittel, nicht Effekt.13
2.3 Der dicke Mann im Höhleneingang
Fünf Höhlenforscher lassen sich von einem korpulenten Mann führen, der beim Verlassen der Höhle im Eingang stecken bleibt, sodass die Forscher in der Höhle gefangen sind. Da das Wasser in der Höhle steigt, drohen die Forscher zu ertrinken. Der Mann im Eingang hingegen hat den Kopf außerhalb der Höhle, sodass er nicht sterben würde. Die Forscher haben Dynamit dabei. Die einzige Möglichkeit für sie zu überleben ist es den Mann zu sprengen.14 Ist das moralisch vertretbar?
Die Forscher könnten sich mithilfe der Doktrin rechtfertigen, indem sie behaupten, sie hätten den dicken Mann nicht töten, sondern lediglich den Weg frei sprengen wollen.15 Hieran lässt sich ein signifikanter Kritikpunkt an dem Prinzip der Doppelwirkung festmachen: Oftmals sind Mittel, Nebeneffekt und Absicht reine Auslegungssache. Definiert man bei ein und derselben Handlung anders was gewollt und was Nebeneffekt ist, erzielt man zwei genau gegenteilige Urteile. Ist das Sprengen das Mittel und der Tod der negative Nebeneffekt dessen? Oder ist der Tod das Mittel? Handelt es sich bei dem Sprengen und Töten um zwei getrennte Vorgänge? Wo zieht man die Grenze? Ab wann ist die unbeabsichtigte zu nah an der beabsichtigten Folge?
3. Wo ist die Doktrin sinnvoll?
Zunächst halte ich die Intention der Doktrin für notwendig. Es ist durchaus vernünftig Maximen aufzustellen, die universell gültig sein sollen, besonders auch in der Politik. Nur auf diese Weise ist es möglich zum Beispiel Konzepte wie die Menschenwürde in die Tat umzusetzen und Rechte zu etablieren. Allerdings ist es gleichermaßen nachvollziehbar, dass es immer Situationen geben kann, in denen solche Maximen, die in den meisten Fällen sinnvoll sind, besser gebrochen werden sollten. Es ist nicht vorteilhaft stur an Regeln festzuhalten, sei es selbst das Tötungsverbot – beispiels-weise in Bezug auf den Freitod ist es meines Erachtens überholt. Die Gesellschaft befindet sich in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess. Ergo muss auch jedes Prinzip oder Verbot in jeder neuen Situation neu abgewägt und kritisch hinterfragt werden. Es muss Raum gelassen werden für Ausnahmen unter besonderen Bedingungen.
Überdies spielt es meines Erachtens eine große Rolle was die persönliche Intention ist. Handelt man nach bestem Wissen und Gewissen ist das moralisch weniger verwerflich, auch wenn es unvermeidliche negative Nebeneffekte hat, als aufgrund einer boshaften Absicht seinen Mitmenschen gegenüber zu handeln, selbst wenn der schadhafte Effekt geringer ist.
Außerdem ist die Überlegung, dass auch das Mittel intendiert ist, in moralischen Entscheidungssituationen angebracht. Utilitaristische Konzepte sind leicht zu missbrauchen. Sie geben Spielraum, Grausamkeiten unter dem Vorwand eines „höheren Ziels“ zu rechtfertigen. Die Doktrin hat den Vorteil, dass sie Instrumentali-sierungen strikt abweist. Der Nachteil eines Menschen darf niemals Mittel sein. Das wird unter anderem in dem Beispiel mit dem Richter und jenem mit dem Serum deutlich. Man darf Menschen nicht benutzen.
Zudem zeigen die zuvor genannten Beispiele auch, dass man mithilfe der Doktrin häufig kein Unrecht tun kann. Es spielt keine Rolle was sich damit erreichen lässt, der Richter darf keinen Unschuldigen verurteilen. Ein Mediziner darf unter keinen Umständen auf Kosten des Lebens eines unschuldigen, gesunden Menschen ein Serum herstellen.
Des Weiteren hilft das Prinzip der Doppelwirkung sich in gewisser Weise selbst treu und moralisch standfest zu bleiben. Der Richter muss nicht Unschuldige verurteilen, und ein Mediziner keinen Gesunden ermorden, was beiden in den Grundsätzen ihrer Berufswahl massiv widerstreben würde.
3.1 Die Hypothese der „bösen Menschen“
Letzteres zeigt sich auch bei einem Gedankenexperiment. Es gibt die Vorstellung, dass man, wenn man die Doktrin ablehnt, Gefahr läuft in die Gewalt von „bösen“ Menschen zu fallen16. Jeder der von uns in dem Fall wollen würde, dass wir etwas tun, was wir eigentlich moralisch für nicht richtig erachten, müsste nur behaupten, sollten wir es nicht tun, würde er im Gegenzug etwas tun was wir für moralisch noch verwerflicher halten. Auf diese Weise wäre jeder „moralische“ Mensch vollkommen erpressbar.
Zur Verdeutlichung der Überlegung ein Beispiel: Jemand möchte, dass wir unseren Nachbarn ermorden und droht uns, wenn wir es nicht tun, würde er dafür fünf andere Unschuldige töten. Rein utilitaristisch müssten wir uns in der Pflicht sehen unseren Nachbarn zu ermorden. Hält man sich hingegen an die Doktrin, so sieht man zwar als negativen Nebeneffekt voraus, dass der Erpresser fünf Menschen töten wird, aber man selbst beabsichtigt es nicht, sondern er.17
4. Welche Schwierigkeiten ergeben sich?
Foot argumentiert, dass die Doktrin nicht an sich schlechte Handlungen rechtfertigen soll, sondern nur in Bezug auf moralische Dilemmata anzuwenden ist.18 Das Beispiel mit dem Medikament hingegen zeigt, dass das Prinzip auch in Situationen in denen definitiv ein moralisches Dilemma vorliegt, nicht immer eine Lösung vorweist.
Überdies besteht der größere Nachteil der Doktrin darin, dass sofern denn ein Fall vorliegt, in dem die Doktrin theoretisch anwendbar wäre, es schwer ist jemandem nachzuweisen, was genau die Absicht, das Mittel und der Nebeneffekt seiner Handlung waren. Die Differenzierung ist sehr subjektiv und daher auch leicht zu manipulieren. Jeder kann behaupten, ein negatives Ereignis wäre nicht beabsichtigt gewesen - ob das nun der Wahrheit entspricht oder nicht. Mögliche andere Absichten lassen sich in allen genannten Beispielen schnell (er)finden. In beinahe jedem Fall kann man Absicht und Nebeneffekt vertauschen und etwas eingeschränkt auch Mittel und Absicht beziehungsweise Mittel und Nebeneffekt. Zur moralischen Beurteilung einer Handlung von einer äußeren Instanz, zum Beispiel einem Gericht, ist die Doktrin folglich nur anwendbar, wenn eindeutig nachweisbar ist was Absicht, Mittel und Nebeneffekt waren. Das ist nur der Fall, wenn der angebliche „negative Nebeneffekt“ zum Beispiel hätte vermieden werden können, da geeignete Alternativen vorlagen. Ansonsten entstünden Vorwürfe, die eventuell nicht berechtigt wären.
[...]
1 Vgl. Foot 1967: 1.
2 Vgl. ebd.: 1.
3 Vgl. ebd.: 1.
4 Ebd.: 1.
5 Ebd.: 1.
6 Vgl. ebd.: 2.
7 Vgl. Foot 1967: 2.
8 Vgl. ebd.: 2.
9 Vgl. ebd.: 2.
10 Vgl. ebd.: 2.
11 Vgl. ebd.: 3.
12 Vgl. ebd.: 3.
13 Vgl. ebd.: 3.
14 Vgl. Foot 1967: 1 f.
15 Vgl. ebd.: 2.
16 Vgl. Foot 1967: 3.
17 Vgl. ebd.: 3.
18 Im Zuge dessen nennt sie ein Beispiel: Händler beziehungsweise Totengräber verkaufen Gift, um ihr jeweiliges Geschäft voranzutreiben. Sie zieht den Schluss, dass auch anhand der Doktrin aus Menschen Profit schlagen zu wollen weder die direkte (der Totengräber) noch die indirekte Absicht (der Händler) zu töten rechtfertigt (vgl. Foot 1967: 2). Das erweist sich jedoch unter genauerer Betrachtung des zuvor von ihr genannten Beispiels mit dem dicken Mann als fraglich. Die Totengräber und Händler könnten notgedrungen handeln, da beispielweise sie und ihre Familie ansonsten verhungern würden. Einen Menschen töten, um den Weg frei zu sprengen, ist meiner Meinung nach auch in gewisser Weise „aus einem Menschen Profit schlagen“.