Am 19. September des Jahres 1878 schrieb das Mitglied des Reichstages Hans von Kleist-Retzow in einem Brief an den Reichskanzler Otto von Bismarck:
„Lieber Bismarck !
Laß Dir kurz vor meiner Abreise von hier während der Reichstagsferien noch von ganzem Herzen dafür danken, daß Du mir nach so langer schmerzlicher Entbehrung neulich wieder Deine Hand reichtest. Mit großer Freude erkenne ich darin den Ausdruck Deines Wunsches: das alte Freundschafts- und Verwandtschaftsband und den früheren häuslichen Verkehr zwischen uns wieder herzustellen, und werde nach Deiner und meiner Rückkehr davon gern Gebrauch machen. In alter Treue Dein
H. v. Kleist-Retzow“
Zwei Tage zuvor, am 17. September 1878 während der ersten Lesung des zweiten Sozialistengesetzes im Deutschen Reichstag war Bismarck unmittelbar nach der Rede Kleist-Retzows auf diesen zugegangen und hatte ihm die Hand geschüttelt. Dieser Akt öffentlicher Versöhnung beendete die beinahe ein Jahrzehnt andauernde erbitterte politische und auch private Gegnerschaft der beiden vormals eng befreundeten und verwandtschaftlich verbundenen Wohnungsgenossen aus früheren Tagen.
An sich stellt eine Versöhnung zweier alter Freunde nach einem langen Streit nichts ungewöhnliches dar. Aber in diesem Fall handelt es sich um zwei wichtige, ihre Zeit maßgeblich prägende Personen der politischen Öffentlichkeit – dies gilt freilich in erster Linie für Bismarck, aber auch Kleist-Retzow erfreute sich als Vertreter des preußisch-protestantischen Konservatisvismus einem hohen Maß an Bekanntheit und Ansehen in der Öffentlichkeit. Die Ursachen des Streits waren zum größten Anteil politischer Natur gewesen, daher ist kaum anzunehmen, daß die Versöhnung sich gerade im Rahmen einer derartig hochbrisanten innenpolitischen Debatte ausschließlich auf private Motive stützte. Dazu kommt der besondere Charakter der Versöhnung durch ihren Vollzug vor den Augen der Öffentlichkeit, was den Verdacht einer politischen Inszenierung nahe legt.
Dieser Frage soll die vorliegende Arbeit nachgehen, ob sich aufgrund der vorhandenen Quellen nachweisen läßt, daß es sich bei diesem Akt nicht nur um eine private Versöhnung, sondern um eine bewußte politische Inszenierung gehandelt hat.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung und Fragestellung
- Literatur- und Quellenlage
- Begriffliche Annäherung: Was ist eine politische Inszenierung?
- Analytischer Teil
- Der politische Rahmen: Die Sozialistengesetze des Jahres 1878
- Das Verhältnis zwischen Bismarck und Kleist-Retzow
- Die Debatte am 16. und 17. September 1878
- Die politische Signalwirkung: Reaktion in den Medien
- Die politische Signalwirkung II: Ausblick
- Schlussbetrachtung
- Schlussbetrachtung II: Defizite der Arbeit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht den Akt der Versöhnung zwischen Otto von Bismarck und Hans von Kleist-Retzow im September 1878. Sie befasst sich mit der Frage, ob es sich dabei um eine private Versöhnung oder eine bewußte politische Inszenierung handelte.
- Die Sozialistengesetze des Jahres 1878 als politischer Hintergrund
- Das Verhältnis zwischen Bismarck und Kleist-Retzow vor dem Hintergrund ihrer politischen und privaten Beziehung
- Die Debatte im Deutschen Reichstag am 16. und 17. September 1878 und ihre Bedeutung für die Versöhnung
- Die Reaktion der Medien auf die Versöhnung
- Die politische Signalwirkung der Versöhnung
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung und Fragestellung: Die Arbeit stellt die Versöhnung zwischen Bismarck und Kleist-Retzow im September 1878 als Forschungsgegenstand vor und untersucht die Frage, ob es sich dabei um eine private oder eine politische Handlung handelte.
- Literatur- und Quellenlage: Die Arbeit identifiziert die wichtigsten Quellen und Sekundärliteratur, die für die Untersuchung relevant sind, darunter der stenographische Bericht der Debatte im Reichstag, Briefe und Schriften von Bismarck und Kleist-Retzow, sowie einschlägige Biografien und Zeitungsartikel.
- Begriffliche Annäherung: Was ist eine politische Inszenierung?: Dieses Kapitel definiert den Begriff der politischen Inszenierung und stellt die für die Analyse relevanten Aspekte heraus.
- Analytischer Teil: Dieser Teil der Arbeit befasst sich mit der Vorgeschichte der Versöhnung, analysiert die Debatte im Reichstag am 16. und 17. September 1878, untersucht die Reaktion der Medien und beleuchtet die politische Signalwirkung der Versöhnung.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit den Themen Bismarck, Kleist-Retzow, Versöhnung, politische Inszenierung, Sozialistengesetze, deutsche Geschichte, Reichstag, Medienreaktion, politische Signalwirkung.
- Citation du texte
- Wolfgang Fischer (Auteur), 1999, Bismarcks Versöhnung mit Kleist-Retzow im September 1878 - eine politische Inszenierung?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/53751