Rhythmische Illusionen. Wahrnehmung, Interpretation und Umsetzung mehrdeutiger Rhythmen


Bachelorarbeit, 2019

90 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Grundlegende Begriffe und Prinzipien
2.1 Beat, Puls und tactus
2.2 Metrum
2.2.1 Metrum als kognitiver Prozess
2.3 Rhythmus
2.3.1 Gruppenbildung
2.3.2 Die Extraktion eines Grundpulses

3. Interaktion von Rhythmus und Metrum
3.1 Metrische Formbarkeit
3.2 Metrische Dissonanz und Mehrdeutigkeit
3.2.1 Polyrhythmus
3.2.2 Metrische Dissonanz
3.3 Lokale metrische Diskrepanzen

4 Betrachtung und Analyse von Beispielen
4.1 Rhythmische Illusionen durch Phasenverschiebungen
4.1.1 ‚Drive my Car’ (The Beatles)
4.1.2 ‚Hang Up Your Hang Ups‘ (Herbie Hancock)
4.1.3 ‚Bring On The Night‘ (The Police)
4.1.4 Sinfonie No. 92 G-Dur 3. Satz (Joseph Haydn)
4.2 Rhythmische Illusionen durch Polyrhythmen
4.2.1 ‚Sightseeing’ - The Yellowjackets
4.2.2 ‚Escher Sketch (A Tale Of Two Rhythms)‘ - Michael Brecker
4.2.3 ‚Echoes’ (Steve Lehman)
4.2.4 ‚Double-Faced‘ (Tigran Hamasyan)

5 Fazit

Anhang 1: ‚Hang Up Your Hang Ups‘ (‚falsch‘ notiert)

Anhang 2: ‚Hang Up Your Hang Ups‘ (‚richtig‘ notiert)

Anhang 3: ‚Double-Faced‘ (Takte 31-38)

Anhang 4: ‚Double-Faced‘ (Takte 63-70)

Anhang 5: ‚Double-Faced‘ (Takte 171-192)

Bibliographie

Abbildungsverzeichnis

Zusammenfassung

Diese Arbeit befasst sich mit der Frage, wie Hörer*innen ein ‚falsches’ Metrum vorgetäuscht werden kann und wie solche sogenannten rhythmischen Illusionen musikalisch umgesetzt werden können. Hierzu werden die Begriffe Puls, Metrum und Rhythmus definiert sowie die mit diesen zusammenhängenden wahrnehmungs-psychologischen Prinzipien beschrieben. Außerdem werden wesentliche Formen der rhythmischen Komplexität und metrischer Mehrdeutigkeit vorgestellt. Anhand von verschiedenen Musikbeispielen wird untersucht, wie rhythmische Illusionen kompositorisch umgesetzt werden können und welche der zuvor beschriebenen Formen rhythmischer Komplexität und metrischer Mehrdeutigkeit dazu verwendet werden.

Abstract

This thesis is concerned with the question of how listeners can be tricked into hearing a ‚false‘ meter and how these so-called rhythmical illusions can be applied musically. To this end, the terms pulse, meter, and rhythm are defined and the related principles of perceptual psychology are described. Furthermore, the main forms of rhythmic complexity and metrical ambiguity are introduced. A range of musical examples provide the basis for the analysis of how rhythmic illusions can be applied compositionally and of which of the previously described forms of rhythmical complexity and metrical ambiguity have been used in each case.

1. Einleitung

Rhythmus gehört neben Melodie und Harmonie zu den grundlegenden Bestand-teilen von Musik und wäre aus dieser nicht wegzudenken. Dabei spielt Rhythmus auch in anderen Bereichen des menschlichen Lebens eine wichtige Rolle. So finden sich schon im menschlichen Körper einige Rhythmen: unser Herz schlägt rhythmisch, wir atmen rhythmisch ein und aus, unser Gang und nicht zuletzt auch die menschliche Sprache haben einen Rhythmus. Die Synchronisation von Aktionen zu einem regelmäßigen Puls spielt außerdem in vielen Bereichen menschlichen Lebens eine wichtige Rolle: Fischinger und Kopiez nennen hier zum Beispiel „rituelle Handlungen oder […] Tanzen“1, „[g]emeinsames Marschieren“2 und die rhythmische Synchronisation im Sport3. Auch im Tierreich ist die rhythmische Synchronisation von Aktionen keine Seltenheit. So können Schimpansengruppen „durch synchronisiertes Rufen die Reichweite ihrer Vokalisation“4 erhöhen und auch bei Fröschen und Grillen können „rhythmische Phasenkopplungen und damit verbundenes synchrones Zirpen oder Quaken“5 beobachtet werden. Nicht zuletzt diese Fähigkeit der Synchronisation erlaubt es Menschen also sich passend zur Musik zu bewegen. Ermöglicht wird die Synchronisation zu einem Puls, einem Groove etc. durch ein inneres metrisches Raster. Mit Hilfe ebenjenes lassen sich musikalische Ereignisse zeitlich einordnen und dementsprechend antizipieren.

In Groove basierter Musik scheint es dabei einen Zusammenhang zwischen rhythmischer Komplexität, dem Verlangen, sich zu bewegen und Lustgefühlen zu geben. Vuust und Witek kamen bei einer Studie zu dem Ergebnis, dass mittlere Grade von rhythmischer Komplexität dabei das Verlangen nach Bewegung und Lustgefühle am meisten stimulieren.6 Ein gewisser Grad an rhythmischer Komplexität scheint also offenbar wichtig für ein intensives Erleben von Musik zu sein. Ist der Grad von rhythmischer Komplexität sehr hoch, kann dies jedoch auch dazu führen, dass das metrische Raster nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Affektive und körperliche Reaktionen werden in der Folge reduziert, da sich die Hörer*innen ohne metrisches Raster nicht zur Musik rhythmisch synchronisieren können.7 Rhythmische Komplexität kann jedoch auch in einer Änderung des metrischen Rasters resultieren. Man könnte hier von einem Umschlag der Wahr-nehmung sprechen. Im Rahmen dieser Arbeit wird dieses Phänomen als rhythmische Illusion bezeichnet, da den Hörer*innen zum Teil ein „falsches“ Metrum vorgetäuscht wird bzw. der Grundpuls von einer metrischen Ebene zu einer anderen verlagert und somit mitunter ein Tempowechsel vorgetäuscht wird. Dieses Phänomen soll in dieser Arbeit näher beleuchtet werden.

Es erscheint sinnvoll, dass dafür zunächst die grundlegenden Begriffe Puls, Metrum und Rhythmus definiert sowie die mit diesen zusammenhängenden wahrnehmungs-psychologischen Prinzipien beschrieben werden. Darauf folgend wird auf unterschiedliche Formen der rhythmischen Komplexität, mit einem besonderen Augenmerk auf metrische Mehrdeutigkeit, eingegangen. Abschließend werden Musikbeispiele betrachtet, in denen rhythmische Illusionen vorkommen. Hier soll besonders untersucht werden, wie in diesen Beispielen solche Illusionen hervorgerufen, welche der zuvor beschriebenen Formen der rhythmischen Komplexität dazu verwendet werden und wie diese rhythmische Illusionen umgesetzt werden können.

2. Grundlegende Begriffe und Prinzipien

Um auf die vielfältigen Ergebnisse der Rhythmusforschung im Bezug auf rhyth-mische Komplexität und metrischer Mehrdeutigkeit näher eingehen und die darauffolgenden Analysen von Beispielen so unterbauen zu können, soll an dieser Stelle auf wichtige Grundbegriffe und -prinzipien eingegangen werden. Ohne eine klare Unterscheidung zwischen den verschiedenen Formen zeitlicher Organisation in der Musik lässt sich die rhythmische Analyse von Musikstücken nur schwerlich umsetzen. In der Tat wurde die musikwissenschaftliche Erforschung von Rhythmus sogar von einem Unvermögen, zwischen eben jenen Formen der zeitlichen Organisation zu unterscheiden, behindert. Die daraus resultierende Verwirrung hat in der Folge zu einer gewissen Mehrdeutigkeit der rhythmischen Terminologie geführt.8 Aus diesem Grund erscheint es wichtig, zunächst grundlegende Begriffe und Prinzipien zu definieren und zu beschreiben.

Nach Cooper und Meyer gibt es drei zeitliche Organisationsstrukturen in der Musik: Puls, Metrum und Rhythmus.9 Da die meiste Musik in ihrer melodischen, harmonischen sowie rhythmischen Struktur architektonisch10 bzw. hierarchisch11 aufgebaut ist, sind diese drei Organisationsstrukturen nicht voneinander zu trennen. Sie bedingen sich gegenseitig und erst durch die vielfältige Interaktionen und Wechselwirkung zwischen ihnen entsteht ein einheitliches, musikalisches Perzept. So werden die kleinsten und grundlegendsten Elemente eines Systems in immer größere Sinnzusammenhänge eingeordnet, die wiederum auch in übergeordneten Strukturen zusammengefasst werden. In Sprachen beispielsweise werden Buchstaben zu Wörtern verknüpft, aus Wörtern Sätze geformt, Sätze zu Absätzen zusammengefasst etc.. Auf ähnliche Weise geschieht dies in der Musik. Dort werden individuelle Töne zu Motiven verknüpft, Motive zu Phrasen, Phrasen in Perioden usw. geordnet.12 In unserer Wahrnehmung von Musik und speziell der Rhythmik dieser Musik manifestiert sich dieser hierarchische Aufbau wie folgt:

„As a piece of music unfolds, its rhythmic structure is perceived not as a series of discrete independent units strung together in a mechanical, additive way like beads, but as an organic process in which smaller rhythmic motives, while possessing a shape and structure of their own, also function as integral parts of a larger rhythmic organization.“13

So wie sich gezielte Manipulation und Mehrdeutigkeit von Sprache (zum Beispiel Wortwitze, bildhafte Sprache etc.) erst untersuchen lassen, wenn man versteht wie die grundlegenden Bausteine der Sprache (Buchstaben, Wörter, Sätze, Aussprache, usw.) funktionieren und zusammenhängen, so lassen sich gezielte Manipulationen und Mehrdeutigkeiten von Rhythmen erst verstehen und analysieren, wenn wir die grundlegenden zeitlichen Organisationsstrukturen von Musik (Puls, Metrum und Rhythmus) verstehen und wissen wie diese zusammenwirken.

Auf die metrische Hierarchie und ihre Bedeutung für die Wahrnehmung von Rhythmus wird unter Punkt 2.2 näher eingegangen. Zunächst soll es um die kleinste Einheit der rhythmischen Ordnung, den Beat, und die weiterführende Kombination dieser in einen Puls, den grundlegenden Bestandteil der metrischen Hierarchie, gehen.

2.1 Beat, Puls und tactus

Das grundlegendste rhythmische Element in der Musik wird als Beat (zu Deutsch: Schlag) bezeichnet. Der Beat wird hier als ein singulärer Zeitpunkt ohne Ausdehnung und Dauer verstanden. Physikalisch gesehen besitzt ein Beat selbstverständlich immer eine bestimmte Ausdehnung bzw. Dauer. Andernfalls könnte dieser auch nicht von uns wahrgenommen werden. Gehörphsychologisch entscheidend ist hier der sogenannte „Beat-Onset“, also der Einsatzpunkt eines Tons. Der Abstand zwischen zwei Beats wird Inter-Onset-Intervall (IOI) genannt und ist die Zeitdauer von einem „Beat-Onset“ zum nächsten.14

Eine isochrone, gleichförmige Folge von Beats wird als Puls bezeichnet.15 Hierbei sticht kein einzelner Beat besonders hervor; alle Beats eines Pulses besitzen somit die gleiche Betonungsstärke. Beispiele für reinen Puls (ohne musikalischen Kontext) sind das Ticken eines Metronoms oder einer Uhr. „Als erstes Referenzsystem eines Musikstücks“16 spielt der Puls und seine Extraktion aus der mehr oder weniger komplexen rhythmischen Struktur eines Musikstücks eine entscheidende Rolle in der Wahrnehmung von Musik. Obwohl ein Puls in der Regel durch externe Stimuli etabliert und unterstützt wird, kann ein Gefühl für Puls auch subjektiv existieren: Wenn einmal etabliert, tendieren wir dazu einen Puls in unserem Kopf und unserer Muskulatur fortzusetzen, selbst wenn die externen Stimuli stoppen.17

Die Extraktion eines Pulses aus einer dynamischen, sich ständig verändernden musikalischen Umwelt wird durch die Fokussierung unserer Aufmerksamkeit auf die invariablen Aspekte dieser Umwelt ermöglicht. Dies ist die Grundlage und Voraussetzung zur Wahrnehmung eines Metrums und Rhythmus. Wir brauchen eine Referenz, um wahrgenommene rhythmische Muster in Beziehung setzen zu können und sie zu verstehen. Die Wahrnehmung von Invarianzen einer Umgebung (in diesem Fall also der Grundpuls eines Musikstücks) ermöglicht es uns, Veränderungen ebenjener Umgebung wahrzunehmen und einzuordnen. London (2012) drückt diesen generellen, nicht nur in der Musik vorhandenen Sachverhalt folgendermaßen aus: „And if […] events are temporally regular - footfalls, ticks of a clock, or notes in a melody - we can anticipate when future events will occur.“18 Auf diese Antizipation von rhythmischen bzw. musikalischen Ereignissen wird unter Punkt 2.2 näher eingegangen.

Der menschliche Verstand besitzt eine Neigung dazu, die Beats eines Pulses, obwohl laut Definition exakt gleich, in Gruppierungen zu unterteilen. Unser Verstand präferiert organisierte, konkrete und klare Patterns über solche die unorganisiert und womöglich unendlich sind. Aus diesem Grund projizieren wir eine Ordnung auf eine Folge von regelmäßig wiederkehrenden, exakt gleichen Stimuli.19 Diese Tendenz, einer Serie von identischen Beats, ein Gefühl von Akzent überzustülpen und diese somit rhythmisiert wahrzunehmen, ist schon lange bekannt und wird als subjektive Rhythmisierung bezeichnet. Dabei werden zwei, drei oder vier Reize zu einer Gruppe zusammengefasst.20 Johann Philipp Kirnberger hat dieses Phänomen bereits im 18. Jahrhundert in seinem Werk „Die Kunst des reinen Satzes in der Musik“ beschrieben und im 19. Jahrhundert wurde es von Thaddeus L. Bolton experimentell belegt und als subjektive Rhythmisierung bezeichnet.21 Wichtig ist, dass der wahrgenommene Rhythmus bzw. die „taktmäßige Einteilung dieser Schläge“22 „in unseren Gedanken“23 passiert, also von uns stammt. Rein physikalisch gibt es dazu keine Veranlassung, da alle Reize exakt gleich sind. Schließlich merkt London an, dass Rhythmisierung eine Fehlbezeichnung ist, da es sich eigentlich um eine Metrisierung des Pulses, also die Differenzierung einer isochronen Folge von Beats in betonte und unbetonte Schläge, handelt.24

In der Regel ist in der Musik mehr als nur eine rhythmische Periodizität vorhanden. Puls ist also nicht gleich Puls und wird deshalb auch von vielen Musik-wissenschaftler*innen weiter unterteilt. Snyder nennt beispielsweise verschiedene Pulsarten, wie basic pulse, subpulse, central organizing pulse und super pulse.25 Lerdahl und Jackendoff benutzen den Begriff tactus als Bezeichnung für die metrische Ebene, welche von besonderer Bedeutung für die Entschlüsselung rhythmischer Strukturen ist. An anderer Stelle ist hier beispielsweise von „Taktteil“26, „Grundmaß“27, „primary rhythmic level“28 oder auch „primary metrical level“29 die Rede. Diese Pulsebene wird beim Hören und Synchronisieren als Referenz verwendet: „This is the level of beats that is conducted and with which one most naturally coordinates foot-tapping and dance steps.“.30 So ist es auch nicht verwunderlich, das sich der Begriff tactus im 15. und 16. Jahrhundert auf eine musikalische Zeiteinheit, die mit Bewegungen der Hand gemessen wurde, bezog. Ein tactus bestand dabei aus zwei Bewegungen: einem downbeat und einem upbeat. Im Zweiertakt war jede Handbewegung gleich lang, im Dreiertakt war der downbeat doppelt so lang wie der upbeat.31 Die metrische Ebene des tactus scheint uns zudem ein besonders starkes Gefühl von Bewegung zu vermitteln. Dies könnte damit begründet sein, dass die Frequenz des tactus oft in dem Zeitrahmen liegt, in dem sich auch der von uns präferierte Frequenzbereich für Körper-bewegungen befindet. Um es in den Worten Justin Londons zu sagen: „to hear a beat is to sense the potential for (if not actual) movement.“32

Mit dem Grundpuls ist zudem unser Gefühl für Tempo eng verbunden. So wird als Tempo eines Musikstücks oft die Geschwindigkeit des tactus in Beats per Minute angegeben. Allerdings wird das Tempogefühl nicht allein dadurch bestimmt. Es sind vielmehr die kollektiven Interaktionen und Wechselbeziehungen verschiedener metrischer Ebenen, die Tempo als Gefühl für Bewegung entstehen lassen.33 Mit anderen Worten: Da Tempo sowohl ein psychologischer als auch physischer Fakt ist, kommt es nicht nur auf das absolute Tempo bestimmter Notenwerte an. Das psychologische Tempo wird dadurch bedingt, wie die Zeit in einem Musikstück gefüllt wird. So ist es möglich, dass beispielsweise Viertelnoten in zwei Stücken in der gleichen absoluten Geschwindigkeit auftreten, jedoch eins der Stücke schneller wirkt als das andere.34 Tempo wird von Cooper und Meyer explizit nicht zu den Formen der zeitlichen Organisation (Puls, Metrum und Rhythmus) gezählt. Denn obwohl eine Veränderung des Tempos den Charakter der Musik verändert und womöglich auch verändert, welche metrische Ebene als Grundpuls wahrgenommen wird, bleibt ein Rhythmus oder Thema erkennbar gleich, egal ob schneller oder langsamer gespielt.35

Puls kommt nur selten in seiner reinen Form (als Folge von isochronen, unter-schiedslosen Reizen) vor. Dies bedeutet, wie zum Beispiel Cooper und Meyer anmerken, aber nicht, dass Puls für die musikalische Erfahrung und Wahrnehmung unwichtig sei.36 Wie schon zuvor erwähnt, ist die Extraktion eines Pulses aus einem Musikstück wesentlich für die Entschlüsselung rhythmischer Strukturen und absolut notwendig für die Existenz von Metren.

2.2 Metrum

Das Wort Metrum kommt vom griechischem Wort métron und bedeutet soviel wie Maß.37 Schon seit der Antike sind Rhythmus und Metrum ein Begriffspaar, wobei letzteres Wort jünger ist. Metrum kann somit als „Maß des Rhythmus“38 verstanden werden. Es ist ein von uns auf die Musik projiziertes Ordnungssystem. Hierzu werden mehrere Zählzeiten zu einer Einheit zusammengeschlossen und nach der wiederkehrenden Abfolge von betonten und unbetonten Schlägen geordnet. Einer der einfachsten Einheiten innerhalb dieser Ordnung ist der Takt. In ihm werden mindestens zwei Zählzeiten zusammengefasst, wobei der erste Beat eines Taktes die größte metrische Betonung erhält. Höhere metrische Einheiten können aus der Verkettung von Takten entstehen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Perioden. In der westlichen Musiktradition sind dies meist Zusammenschlüsse von zwei, vier oder acht Takten.39

Metren sind hierarchisch aufgebaute Systeme. Dies spiegelt sich in der westlichen Musiknotation wider: Schon zu Beginn eines Musikstücks werden wir durch die Angabe der Taktart darauf hingewiesen wie die metrischen Ebenen in ebenjenem Stück organisiert sind. In einem 4/4 Takt, beispielsweise, wird der tactus in der Regel von den Viertelnoten getragen und vier dieser Viertelnoten werden zu einer größeren Einheit zusammengefasst. Die metrische Hierarchie eines 4/4 Takts ist binär, d.h. jede metrische Ebene wird rekursiv in zwei gleiche Teile unterteilt: Die Viertelnoten werden in jeweils zwei Achtelnoten, diese wieder in jeweils zwei Sechzehntelnoten, usw. unterteilt. Auch oberhalb der tactus-Ebene erfolgt diese Unterteilung: Zwei Viertelnoten werden zu einer halben Note und zwei halbe Noten zu einer ganzen Note zusammengefasst. Nun befinden wir uns auf der Ebene des Taktes. Darüber hinaus existiert ebenfalls eine metrische Rangordnung: Wie schon zuvor erwähnt, werden innerhalb von musikalischen Formen oft mehrere Takte zu größeren Sinnabschnitten zusammengefasst. Dies erfolgt meistens in Zwei-, Vier- oder Achttakt Perioden. Je nach seiner Position innerhalb dieser metrischen Ordnung wird ein metrisches Element als mehr oder weniger betont wahr-genommen. Hierbei gilt nach Lehrdahl und Jackendoff, dass ein relativ starkes metrisches Ereignis eine größere hierarchische Tiefe besitzt als benachbarte Ereignisse. Wenn also ein metrisches Element auf einer gewissen Ebene der metrischen Hierarchie mit einem metrischen Element aus einer höheren Ebene zusammenfällt, wird dieses Element als starkes bzw. metrisch betontes Element dieser Ebene bezeichnet.40 Nach Lehrdahl und Jackendoff gibt es drei Arten von Akzenten: Phänomenale, strukturelle und metrische Akzente.41 Phänomenale Akzente sind Ereignisse an der musikalischen Oberfläche, die einen Zeitpunkt im musikalischen Fluss hervorheben oder betonen. Hierunter fallen zum Beispiel lokale Betonungen wie etwa sforzandi, plötzliche Veränderungen in Timbre oder Dynamik, lange Noten, Sprünge zu vergleichsweise hohen bzw. tiefen Noten, harmonische Wechsel, etc.. Strukturelle Akzente beziehen sich auf Betonungen, die durch die melodischen oder harmonischen Gravitationspunkte in einer Phrase oder einem Teil des Stücks hervorgerufen werden. Die Kadenz, die von Lehrdahl und Jackendoff als Ziel der tonalen Bewegung beschrieben wird, spielt hier eine wichtige Rolle. Metrische Akzente heben, wie schon beschrieben, Ereignisse aufgrund ihrer größeren hierarchischen Tiefe innerhalb der metrischen Ordnung hervor.42

Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass diese hierarchische, metrische Unterteilung theoretisch unendlich fortgesetzt werden kann (Sechzehntelnoten lassen sich weiter in 32tel Noten, diese weiter in 64tel Noten usw. unterteilen). In der Praxis wird die Hierarchie allerdings von den Grenzen unseres Wahrnehmungsvermögens beschränkt. Zeitdauern, die zu kurz beziehungsweise zu lang sind, sind für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar.43 London nennt zeitliche Beziehungen mit einem Inter-Onset-Intervall von 100 ms bis 5-6 Sekunden als generell von uns greifbar.44 In Beats per Minute entspricht dies einem Tempobereich zwischen 600 bpm und 30 bpm. Innerhalb dieses möglichen Tempobereichs für musikalische Ereignisse gibt es weitere Abstufungen, die mit Elementen der metrischen Hierarchie korrespondieren.45 Darauf wird unter Punkt 2.3.2 näher eingegangen.

Metren können in der westlichen Musiktheorie in verschiedene, grundlegende Kategorien zusammengefasst werden (siehe Tab. 1): duple oder triple (zwei oder drei Beats pro Takt) und simple oder compound (binäre oder ternäre Unterteilung des Puls).46 Taktarten wie 2/2, 2/4, 2/8 oder 4/4 sind Beispiele für simple duple Metren, wohingegen 6/8 ein Beispiel für ein compound duple Metrum ist. In einem 6/8 Takt wird der tactus durch punktierte Viertel repräsentiert, die wiederum jeweils in drei Achtel unterteilt werden. In einem simple duple Metrum (beispielsweise 2/4) kann diese termäre Unterteilung des Grundpulses durch Triolen dargestellt werden. Triolen stellen musiktheoretisch jedoch eine Sonderform dar: „normal note orthography does not allow for a triplet subdivision of a quarter note“47, da die zeitliche Beziehung von halbe Note zu Viertelnote, Viertelnote zu Achtelnote, etc. immer 2:1 ist. Die Angabe der Taktart zeigt in der Regel, welche Notenwerte der tactus-Ebene zugeschrieben werden und wie viele Beats des tactus in einem Takt zusammengefasst werden: In simple Metren, duple wie triple, gibt der Zähler der Taktart die Anzahl der Beats innerhalb eines Taktes an und der Nenner den Notenwert des Grundpulses. In compound Metren ist dies nicht der Fall: Ein 6/8-Takt artikuliert zwei Beats in einem Takt, die des weiteren in jeweils drei gleiche Teile unterteilt werden. Während simple duple und simple triple sowie compound duple Metren häufig vorkommen, sind compound triple Metren (drei Beats in einem Takt und ternäre Unterteilung der Beats) relativ selten. Ein Beispiel hierfür ist ein 9/8 Takt.48

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.2.1 Metrum als kognitiver Prozess

Metrum hat unter einer kognitionswissenschaftlichen Betrachtungsweise viel mit Aufmerksamkeit, Erwartung und Antizipation zu tun. Die Fähigkeit, die zeitlichen Regelmäßigkeiten einer Folge von Tönen herauszufiltern und diese in einen über-geordneten Zusammenhang einzuordnen, scheint der musikalisch-spezifische Fall einer generellen kognitiven Fähigkeit zu sein. In seinem Buch „Hearing in Time - Psychological Aspects of Meter“ stellt Justin London zu Beginn die Frage „What Is Meter, and What Is It For?“49, um wenig später zur übergeordneten Frage „Wofür ist Wahrnehmung gut?“ zu kommen, die der Psychologe und Kognitionswissen-schaftler Albert Bregman zu Beginn seines Buchs „Auditory Scene Analysis“ stellt.50 Bregman beantwortet diese Frage wie folgt: „The job of perception […] is to take the sensory input and to derive a useful representation of reality of it.“51 Unser Sinn für Metrum, als Maß des Rhythmus, erfüllt einen ähnlichen Job: Durch das Metrum werden unsere Sinne gelenkt, um eine Repräsentation der musikalischen Realität zu erzeugen. Die zuvor schon erwähnte Fokussierung unserer Auf-merksamkeit auf die unveränderlichen Aspekte der Musik und die dadurch ermöglichte Extraktion eines Grundpulses spielen hier eine wichtige Rolle. Auenhagen spricht in diesem Zusammenhang auch von dem „Erkennen von Regeln der zeitlichen Organisation aufeinander folgender Ereignisse“52. Im Lichte dieser Erkenntnisse ergänzt London Bregmans Beschreibung von Wahrnehmung um folgendes: Wahrnehmung dient nicht nur zur Formung von Repräsentationen der Wirklichkeit. Sie dient darüber hinaus dazu unser Verhalten zu lenken: „this includes perceptual behavior (tracking a moving stimulus, such as another person), motor behavior (running toward or away from him), social behavior (talking to her), and so forth.“53 Die Wahrnehmung eines Metrums ist also ein kognitiver Prozess, der unser Hörverhalten in besonderem Maße beeinflusst und uns so überhaupt erst erlaubt Musik und Rhythmus als solche wahrzunehmen. Dieser Prozess hat, genauso wie unsere auditive und visuelle Kognition, einen zyklischen Verlauf, welcher in etwa wie folgt beschrieben werden kann: Basierend auf bereits aufgenommenen Informationen aus unserer Umgebung entwickeln wir kontinuierlich mehr oder weniger spezifische Antizipationen bezüglich zukünftiger Ereignisse. Diese Antizipationen bestimmen, welche Informationen der Umwelt wir als nächstes aufnehmen und werden wiederum durch diese modifiziert. Ohne diese antizipatorischen sowie ordnenden Prozesse wäre die Welt für uns lediglich ein großes Chaos.54 Nach London ist Metrum demzufolge eine komplexe Form von rhythmischem Synchronisa-tionsverhalten: Es ist ein antizipatorisches Schema, das Resultat unserer angeborenen Fähigkeit ist, uns zu periodisch auftretenden Stimuli in unserer Umwelt synchronisieren zu können.55

Grundlage für die Etablierung eines Metrums ist die Wahrnehmung eines Pulses oder tactus. Ohne diesen integralen Bestandteil der metrischen Hierarchie ist kein Gefühl von Metrum möglich. Jones und Boltz nennen die Ebene des Grundpuls in diesem Zusammenhang „referent time level“56. Diese metrische Ebene verankert unsere Aufmerksamkeit und dient als Referenz zur Wahrnehmung über- und untergeordneter metrischer Ebenen.57 Ein tactus allein genügt allerdings nicht um ein Metrumgefühl hervorzurufen. Denn der alleinige Grundpuls etabliert nur eine sehr limitierte zeitliche Erwartung. Wir erwarten, dass beim jeweils nächsten Beat etwas passieren sollte. Es handelt sich hierbei zwar um eine rhythmische Synchronisation und eine metrische Repräsentation dieser Erwartungshaltung wäre beispielsweise ein 1/4 Takt. Ein Metrum geht jedoch darüber hinaus. Betrachten wir das Beispiel eines simple duple Metrums, beispielsweise ein 2/4 Takt: Zusätzlich zur vom tactus etablierten Erwartung eines Ereignisses auf jedem Beat, ist eine ungleich höhere Erwartung eines musikalisch signifikanten Ereignisses am Anfang eines jeden Taktes vorhanden. Anders ausgedrückt: Die 1 eines jeden Taktes besitzt einen größeren metrischen Akzent als die 2. Hier werden also zwei Antizipationen miteinander verschachtelt: Der tactus und eine übergeordnete metrische Ebene.58 Während zwei zeitliche Erwartungen notwendig sind, wären drei oder mehr wünschenswert zur Etablierung eines Metrums. Denn so haben die Zuhörer*innen die Möglichkeit, schnelle, moderate und relativ langsame Toneinsätze nach-zuvollziehen. Auf die metrische Hierarchie bezogen ist dies deckungsgleich mit Unterteilungen der Grundpuls-Ebene, dem Grundpuls sowie einer höheren Ordnung von Beats in Takte.59

Jones und Boltz schlagen zwei unterschiedliche Arten von Aufmerksamkeit vor, um die verschiedenen Eigenschaften zeitlicher Ereignisse wahrzunehmen und daraus eine gewisse Vorhersehbarkeit ableiten zu können.60 „Future-oriented attending“61 lässt die Antizipation von höheren zeitlichen Ebenen und ihren Zielen zu, während „analytic attending“62 die Einordnung von lokalen Details mit geringer zeitlicher Vorhersagbarkeit ermöglicht.63 Auf metrische Antizipationsprozesse bezogen bedeutet dies: Das zuvor schon erwähnte „referent time level“64, also der Grundpuls, vermittelt als Referenzebene gewissermaßen zwischen den beiden Aufmerksamkeitsformen. Durch „analytic attending“65 werden Unterteilungen des tactus wahrnehmbar: Wir erfahren sie als Unterteilungen bzw. lokale Details von größeren Zeitspannen. Da Subdivisons oft unregelmäßig auftreten, über den Verlauf eines Stückes beispielsweise von binär zu ternär wechseln können oder sogar komplett aussetzen können, sind sie zudem nur bedingt vorhersehbar.66 Höhere zeitliche Ebenen entsprechen aus metrischer Perspektive zum Beispiel Takten. Diese werden durch „future-oriented attending“67 von der Grundpulsebene ab-geleitet: Die Hörer*innen antizipieren, dass ein musikalisch signifikantes Ereignis zum Beispiel in zwei Beats oder aber jeden dritten Beat auftritt.68

Im Lichte der Erkenntnis, dass Metrum einen kognitiven Prozess bedingt, der unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Elemente und Ereignisse der Musik lenkt, soll an dieser Stelle noch einmal auf das Konzept von Akzenten eingegangen werden, da es von essentieller Bedeutung für die Analyse sowie das Verständnis von Metrum und Rhythmus ist.69 Speziell die Art von Akzenten, die von Lehrdahl und Jackendoff als metrische Akzente bezeichnet wird, ist für die Wahrnehmung eines Metrums von besonderer Bedeutung. Die Herkunft und der Charakter von metrischen Akzenten stellt sich als komplexer Sachverhalt dar, da diese Art von Akzenten nicht unbedingt phänomenal in der Musik präsent sind: „Metrical accent, then, is a mental construct, inferred from but not identical to the patterns of accentuation at the musical surface.“70 Metrische Akzente und in der Folge auch Metrum an sich, werden an dieser Stelle also als eine Form von Hörverhalten beschrieben.71 Die Hörer*innen betonen demnach, ähnlich wie bei dem Phänomen der subjektiven Rhythmisierung, gewisse metrische Elemente im Laufe ihrer kognitiven Verarbeitung von Musik; metrische Akzente werden also von den Zuhörenden generiert. Im Zuge dessen modifiziert London die allgemeine Definition von Akzent nach Cooper und Meyer als ein „event marked for consciousness“72: Auf den Spezialfall von metrischen Akzenten bezogen wird daraus: „a metrical accent is an event that is marked by consciousness.“73

2.3 Rhythmus

Der Begriff Rhythmus stammt vom griechischen Wort rhythmós, was mit „Gleichmaß“ bzw. ursprünglich sogar mit „das Fließen“ übersetzt werden kann. Heutzutage bezeichnet der Begriff ein grundlegendes Strukturelement von Musik, das den gleichen Stellenwert wie Melodie und Harmonie besitzt und mit diesen eng verbunden ist.74 Rhythmós war ein zentraler Begriff der Kunsttheorie und wurde im 5. Jhd. v. Chr. in die Terminologie der Musik übernommen. Zuvor bezeichnete der Begriff Harmonie die Ordnung der Töne sowie der Zeit. Seitdem wurden die beiden Ordnungen getrennt: Harmonie ist die Ordnung der Töne und Rhythmus die der Bewegung oder der Zeit.75 Die Übersetzungen des griechischen Ursprungswortes rhythmós zeigen jedoch eine allgemeinere Bedeutung von Rhythmus. So wurde Rhythmus im antiken Griechenland mit der „Vorstellung des Regel- und Ebenmäßigen“76 in Verbindung gebracht. Beispielsweise wurde das Auf und Ab von Glück und Unglück in einem Menschenleben, „die politische Ordnung, Brauch und Sitte, der Charakter eines Menschen und die schöne Form eines Panzers“77 als Rhythmus bezeichnet.78 Mittlerweile hat sich der Begriff Rhythmus weit von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt: „Heute bezeichnet Rhythmus alles, was irgendwie mit der Struktur oder dem Ablauf der musikalischen Zeit, oft auch, was mit Bild- und Raumbewegung zu tun hat. Das Wort sagt vieles und doch fast nichts mehr.“79 Diese dem Begriff mittlerweile innewohnende Universalität lässt keine eindeutige Festlegung zu.80 So kommt es auch, dass es mehr als 100 Definitionen von Rhythmus gibt, die alle leicht unterschiedliche Auffassungen dieses grundlegenden musikalischen Elements vertreten.81

Eine der wohl grundlegendsten Definitionen stammt von Platon, der sagt: „Rhythmus ist die Ordnung der Bewegung.“82 Diese, wenngleich kurze und nicht erschöpfende Definition von Rhythmus bringt den Aspekt der Bewegung als wichtigen Bestandteil der Rhythmik ins Spiel. Der Bewegungseindruck eines Musikstücks rührt maßgeblich von dessen Rhythmus her und dieser bewirkt oft direkte, motorische Reaktionen. Rhythmen in populärer Musik, die den tactus in der Regel stark betonen, sind somit oft unmittelbar mit Tanzbewegungen verbunden und „veranlassen den Zuhörer oft sogar zu unbewussten Bewegungen wie Mitklopfen mit dem Fuß oder der Hand.“83 Spitzer merkt an dieser Stelle an, dass unser Gang, das Schwingen unserer Arme, unsere Atmung sowie Herzschlag rhythmisch ist.84 Außerdem sprechen wir von Schlafrhythmus und dem Rhythmus von Tag und Nacht.85 Vijay Iyer bringt zudem Körperbewegungen mit zeitlich entsprechenden, musikalischen Einheiten in Zusammenhang: So entspricht die Frequenz der menschlichen Atmung beispielsweise der einer musikalischen Phrase, die Frequenz unseres Herzschlags, Gangs sowie Kopfnickens der des tactus. Als musikalisches Korrelat von Sprache und Handgesten gibt Iyer Unterteilungen des tactus bzw. „fast notated rhythms“86 an. Die kleinste zeitliche Einheit auf Seiten der Körperbewegungen sind Phoneme sowie rasante Flams zwischen Fingern, deren musikalische Entsprechung zum Beispiel Vorschlagsnoten sind.87

Nach Seidel bezeichnete Rhythmus in der antiken griechischen Musiktheorie „die Ordnung der Bewegung oder der Zeiten, die dem menschlichen Sinn unmittelbar und deutlich faßlich ist und deren Wahrnehmung sich mit dem Gefühl des Wohlgefallens verbindet.“88 Es handelte sich also um einen normativen Begriff, der die Organisation von Bewegung bzw. Zeit zu der Wahrnehmung dieser Organisation in Beziehung setzte und eine gewisse ästhetische Idealvorstellung zeitlicher Ordnung beinhaltete. Das Prinzip des Rhythmus wurde auf die zuvor schon erwähnte körperliche Bewegung zurückgeführt, im Besonderen auf den zweiteiligen menschlichen Gang.89 Die besondere ästhetische Qualität von Rhythmus trat mit der Zeit in den Hintergrund und der Rhythmusbegriff wandelte sich hin zu einem die musikalische Ordnung der Zeit neutral beschreibenden Begriff. Nach Auenhagen lässt sich Rhythmus „als die Gliederung einer Zeitstrecke durch Ereignisse definieren“90, während Tempo die Geschwindigkeit der Abfolge dieser Ereignisse beschreibe. Diese Definition lässt jedoch die verschiedenen Wahrnehmungs-prozesse, die Rhythmen durchlaufen, außer Acht. Wie schon im Bezug auf Metrum unter Punkt 2.2.1 beschrieben, werden die verschiedenen rhythmischen Ebenen von Musik erst während des Hörens aktiv konstruiert. Somit gibt es eine Diskrepanz zwischen den physikalischen Ereignissen und der mentalen Repräsentation ebenjener.91 In diesen Zusammenhang lässt sich die Definition Londons einordnen, der Rhythmus als zeitliche Patterns, die phänomenal in der Musik vorhanden sind, beschreibt. Diese Patterns werden auch oft als „rhythmic groups“92 bezeichnet. London erläutert zudem eine Abgrenzung von Metrum und Rhythmus: Rhythmus umfasst die zeitliche Struktur des musikalischen Stimulus, während Metrum unsere Wahrnehmung und Kognition dieses Stimulus beinhaltet.93 Anders ausgedrückt, bedeutet dies: „if ‚meter [is] a mode of attending,‘ then rhythm is that to which we attend.“94

Als die grundlegenden Elemente von Rhythmus erkennt John Stevens „beats“95 und „spaces“96, welche an sich noch keine vollständigen rhythmischen Einheiten bilden. Erst durch die Kombination der beiden entstehen Rhythmen, in diesem Fall ein Puls. Die kleinste rhythmische Einheit ist demnach: „Beat Space Beat“97. Stevens argumentiert des Weiteren, dass Musik und speziell in diesem Fall Rhythmus, aus Klängen besteht. Das Vorhandensein von Klang unterstellt im Umkehrschluss auch die Abwesenheit von Klang, mit anderen Worten: Stille.98 Eine der für Rhythmus entscheidenen Eigenschaften von Klang und Stille ist die Dauer: „All sounds that can be either made or heard must have a length - a beginning and an end. In order to register on the human ear, even the shortest possible sound (a ’click’) must have some length (duration).“99 Aus diesem Grund machen wir, sobald wir über die Länge der Stille zwischen zwei Klängen entscheiden, eine rhythmische Entscheidung. Durch die Kombination von verschieden langen „sounds“100 und „silences“101 manifestiert sich Rhythmus als ein fundamentales Element der Musik.102 Diese Definition ist sehr allgemein und erfordert keinen Puls zur Wahrnehmung von Rhythmen. Wie auch schon Cooper und Meyer anmerken, kann es zwar kein Metrum ohne Puls geben. Jedoch kann ein Metrum ohne klar definierbaren Rhythmus und Rhythmus ohne Metrum existieren.103

Da sich diese Arbeit weiterführend mit rhythmischen Illusionen in einem metrischen Kontext beschäftigt, soll Rhythmus hier im Zusammenhang von Musik, die mit einem Gefühl von Puls verbunden ist, betrachtet werden. An dieser Stelle kann musikalischer Rhythmus als ein „eigenständiges zeitliches Ordnungs- und Gestaltungsprinzip“104 gesehen werden, „das durch Bezug zu einem festen Zeitmaß (Metrum, Takt) einerseits und durch Gruppierung, Gliederung und Abwechslung andererseits gekennzeichnet ist.“105 Rhythmen sind also diejenigen Patterns, die unser Gehör rein physikalisch tatsächlich erreichen. Sie sind (im Gegensatz zum Metrum) also phänomenal in der Musik vorhanden. Das Metrum wird dagegen von uns auf die Musik projiziert und hilft uns dabei Rhythmen in übergeordnete, musikalische Zusammenhänge einzuordnen und diese zu reproduzieren.

Für die Wahrnehmung von Rhythmus sind nach Auenhagen zwei Prozesse von zentraler Bedeutung: Die Zusammenfassung von Ereignissen zu Gruppen und die Bestimmung eines Grundpulses.106 Diese beiden Prozesse sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.

2.3.1 Gruppenbildung

Die Gliederung einer Folge von optischen sowie akustischen Reizen in Gruppen ist ein Grundprinzip der Wahrnehmung und es liegt daher nahe, dies als eine Universalie anzunehmen. Diese Untergliederung schafft eine Ordnung, die die Informationsverarbeitung erleichtert.107 Das unter Punkt 2.1 schon beschriebene Phänomen der subjektiven Rhythmisierung ist eine Form der Gruppenbildung. Hierbei wird eine isochrone Folge gleichförmiger Reize von unserem Verstand in Gruppen zu je zwei oder drei Beats zusammengefasst. Auenhagen merkt an, dass diese spontane Gruppenbildung nur in einem gewissen Tempobereich von 500 bis 33 Schlägen pro Minute auftritt108 (dieser Tempobereich korrespondiert mit dem zuvor genannten Umfang von uns erfassbarer Tempi, siehe Seite 9). Eine aus unterschiedlichen Ereignissen bestehenden Folge (beispielsweise eine Melodie) ruft ebenfalls bestimme Prinzipen der Gruppenbildung hervor. Diese sind seit dem frühen 20. Jahrhundert unter dem Namen Gestaltgesetze bekannt und umfassen „Gleichheit und Ähnlichkeit, Nähe, übereinstimmendes Verhalten oder bruchlose[n] Verlauf“109. Ganz allgemein werden Stimuli, die sich ähnlich (in Timbre, Lautstärke, Aussehen, Größe, etc.) und nah (zeitlich, räumlich, in Tonhöhe, etc.) sind, zu Gruppen zusammengefasst. Spitzer beschreibt anhand des visuellen Beispiels unterschiedlich angeordneter Punkte, wie die Gestaltgesetze unsere Wahrnehmung beeinflussen.110

Abb. 1 veranschaulicht, wie visuelle Reize durch das Prinzip der Nähe geordnet werden: Wir fassen, wie in Abb. 1 b) ersichtlich, Reize, die nah zueinander sind, zu Gruppen zusammen. In diesem Fall handelt es sich um die räumliche Nähe der Punkte. Dabei läuft diese Gruppenbildung ganz automatisch ab: „wir können uns gegen die Vorschläge unseres Wahrnehmungsapparats, bestimmte Muster aufgrund des Prinzips der Nähe zusammenzufassen bzw. zu trennen, gar nicht wehren, au chwen nesv iell eichtma nchma lbess erw äre.“111 In Abb. 1 c) nehmen wir die Punkte als zwei aufsteigende Reihen wahr. Hier wird das Prinzip der Kontinuität veranschaulicht. Wir erkennen eine Richtung oder Bewegung (in diesem Fall nach oben), obwohl „doch eigentlich nur Punkte vorliegen.“112 Spielt man diese beiden Prinzipien gegeneinander aus, so wird deutlich, dass das Prinzip der Nähe stärker wirkt als die Kontinuität. So nehmen wir in Abb. 1 b), aufgrund der vorhandenen Lücken, drei Gruppen von Punkten wahr, obwohl auch hier die gleiche Aufwärtsbewegung wie in Abb. 1 c)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein weiteres grundlegendes Gestaltgesetz ist das Prinzip der Ähnlichkeit, welches wiederum mit anderen Prinzipien kollidieren kann. So sorgt die Ähnlichkeit dafür, dass wir die Punkte in Abb. 2 a) eher so gruppiert sehen wie in Abb. 1 b). In Abb. 2 b) erkennen wir jedoch eher zwei aufsteigende Reihen, obwohl die Punkte mit den gleichen Lücken angeordnet sind wie in Abb. 1 b).

Ganz ähnlich funktioniert die Gruppenbildung auch beim Hören. Nach den drei, eben beschriebenen, Grundprinzipen der Gestaltpsychologie Nähe, Kontinuität und Ähnlichkeit wird auch Gehörtes in Gruppen von je zwei bis fünf Einzelereignissen unterteilt. Auf diese Weise entstehen gewissermaßen „gehörte Gestalten“113. Spitzer argumentiert, dass „beim Betrachten der musikalischen Ordnung die gleichen Prinzipien am Werk [sind] wie beim Hören, was für das Notenlesen nicht unwichtig ist“114. Dies wird in Abb. 3 a) und b) verdeutlicht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Prinzip der Ähnlichkeit wie in Abb. 2 veranschaulicht, lässt sich in der Musik beispielsweise durch Unterschiede in Dynamik, Timbre oder Orchestration umsetzen. Interpretiert man die Punkte in Abb. 2 als Noten, so könnte man zum Beispiel die nicht ausgefüllten Kreise von einem anderen Instrument spielen lassen und die kleinen Punkte als leise Noten interpretieren.115 Das Prinzip der Nähe ließe sich sowohl rhythmisch als auch tonal umsetzten: Es kann die tonale sowie zeitliche Nähe zweier Töne gemeint sein. Kontinuität meint in diesem Zusammenhang das, was zuvor beispielsweise auch schon als „bruchloser Verlauf“116 bezeichnet wurde. Hierbei werden größere Sprünge innerhalb einer Gruppe vermieden. Zusammen-fassend tendieren Hörer*innen somit dazu, Töne zu einer Gruppe zusammen-zufassen, die sich in Höhe und/oder Timbre ähnlich sind, und Tonverläufe so zu gliedern, dass in ihnen keine Brüche, also größere Intervallsprünge, vorkommen.117

Beim Sehen sind Gruppierungsprozesse stark von den räumlichen Verhältnissen abhängig. Spitzer argumentiert hier: „Nähe ist eine bestimmte Nähe, Ähnlichkeit ist jeweils eine bestimmte, Größe auch.“118 Auch beim Hören ist dies nicht anders. Hier ist die Gruppenbildung von den zeitlichen Verhältnissen abhängig. Wechseln sich zum Beispiel zwei Töne langsam ab, so werden diese als 2-Ton-Sequenz wahrgenommen. Steigert man die Geschwindigkeit der Wechsel, ändert sich ab einem gewissen Punkt diese Gruppierung der Töne. Nun werden die tonal identischen Töne zusammen gruppiert, da diese jetzt auch zeitlich näher beieinander liegen. Aus der Sequenz werden also zwei Reihen, bestehend aus jeweils einem Ton. Liegen die beiden Töne tonal weiter auseinander, schlägt die Wahrnehmung sogar schneller um.119 An diesem Beispiel zeigt sich ein weiteres Mal, dass verschiedene Gruppierungsprozesse miteinander kollidieren können. Welches Prinzip dabei jeweils überwiegt und somit bestimmt, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, „hängt von den jeweiligen Randbedingungen und der Anzahl der für oder gegen eine bestimmte Wahrnehmungshypothese votierenden Prin-zipien ab.“120

Die Prinzipien der Gruppenbildung machen sich Komponisten seit jeher zu Nutze. Beispielsweise um in Solostücken für Melodieinstrumente „Mehrstimmigkeit vorzutäuschen bzw. in der Wahrnehmung zu erzeugen.“121 Dies wird dadurch ermöglicht, dass Tonfolgen, die große Intervalle zwischen benachbarten Tönen und kleine Intervalle zwischen zeitlich weiter auseinander liegenden Tönen beinhalten, in zwei Melodien aufgelöst werden. Dieses Phänomen wird als Stream Segregation bezeichnet.122

Die Prinzipien der Gestaltpsychologie spielen außerdem auch bei den Beziehungen zwischen Tongruppen eine wichtige Rolle. Bei der Gliederung einer Tonfolge zeigten Hörer*innen eine Tendenz das Prinzip der Ähnlichkeit zwischen den Gruppen zu bewahren. Auch in diesem Fall wirken die Gruppierungsprozesse genauso im visuellen wie im akustischen Bereich. Eine Folge unterschiedlicher, visueller Reize, wie zum Beispiel „xoxoxooxoxoxoo (…)“123, wird in unserer Wahrnehmung bevorzugt folgendermaßen segmentiert: „xo xo xoo (…)“124. Akustisch wurde diese Folge in Experimenten durch einen höheren und einen tieferen Ton umgesetzt.125

Auch die Segmentierung einer Folge von Tönen in Gruppen ist in einer hierarchischen Struktur organisiert. Kleinere Gruppen können also in größeren, diese wiederum in noch größeren Gruppen etc. zusammengefasst werden. Von der anderen Seite betrachtet, können größere Gruppen jeweils in mehrere, kleinere Untergruppen unterteilt werden. In wie viele Untergruppen eine jeweilige Gruppe auf einer tieferen Ebene unterteilt wird, hängt dabei von der musikalischen Struktur des betrachteten Stücks ab. Wichtig ist, dass Untergruppen bloß einer Gruppe auf der nächsthöheren Ebene der Hierarchie zugeordnet werden können. Allerdings können sich Gruppen, die auf ein und derselben Ebene existieren, überschneiden. Beispielsweise, wenn ein musikalisches Ereignis sowohl eine Gruppe beschließt, als auch der Startpunkt der darauffolgenden Gruppe ist.126 Auenhagen gibt folgendes Beispiel für die Hierarchie der Gruppenbildung: „Die ständig wiederholte Folge xxxxooooxxxxoooo (…) wird auf einer höheren Ebene bevorzugt in xxxx oooo (…) segmentiert, auf einer niedrigeren Ebene in xx oo xx oo (…)“127 Die Gruppenbildung wird von einer unteren Tempogrenze beschränkt: Die Grenze für „Zusammenhalt stiftende Geschwindigkeit“128 liegt bei einem Inter-Onset-Intervall von 1800 ms, entsprechend 33 bpm.129

Cooper und Meyer argumentieren, dass Rhythmus und Gruppierung gleich-bedeutend sind („grouping - for that is what rhythm is“130 ). Außerdem präsentieren sie fünf grundlegende rhythmische Gruppierungen zur Segmentierung musikalischer Ereignisfolgen, die in der Verslehre auch zur Beschreibung des Sprachrhythmus gebraucht werden: Jambus, Anapäst, Trochäus, Daktylus und Amphibrachys. Alle fünf dieser Gruppierung bestehen jeweils aus einem betonten und einem oder zwei unbetonten Ereignissen. Der Akzent kann sich dabei jeweils entweder am Anfang, am Ende oder (wie im Fall des Amphibrachys) in der Mitte der Gruppe befinden. Daraus folgend definieren Cooper und Meyer Rhythmus als die Art und Weise, in der ein oder mehrere unbetonte Beats in Beziehung zu einem betonten Beat gruppiert sind.131

Diese Definition erlaubt ausdrücklich die Existenz von Rhythmus, ohne dass ein Metrum oder Grundpuls vorhanden ist. Zudem ist Rhythmus unabhängig von Metrum in dem Sinne, als dass jede der oben genannten rhythmischen Gruppen in jedem beliebigen Metrum vorkommen kann.132 Darüber hinaus wird die Bildung rhythmischer Gruppen von Taktstrichen weder bestimmt noch eingeschränkt. Rhythmische Gruppen können also gegen die metrische Organisation eines Stückes verschoben sein: „it should be emphasized that the bar lines, which serve to mark off metric units, do not indicate what the rhythmic organization is.“133 Im Bezug auf das Thema rhythmische Illusionen dürfte diese Tatsache von besonderer Bedeutung sein.

Ob das betonte Ereignis zu Beginn, Ende oder in der Mitte einer Gruppe wahrgenommen wird, hängt davon ab, ob die Töne von einem Ziel wegführen oder zu einem Ziel hin.134 Hören wir einen Puls, wobei jeder zweite Beat (beginnend mit dem ersten) betont ist, nehmen wir den Rhythmus nach Cooper und Meyer als trochäisch, also den Akzent am Anfang der Gruppe, wahr (siehe Abb. 4: Die Klammern unterhalb der Noten geben die Organisation der Gruppen an; der Strich bezeichnet die betonten und der Bogen die unbetonten Beats). Hier führt der jeweils zweite Ton in unserer Wahrnehmung von einem Ziel (dem Akzent) weg.135

Verändert man die zeitliche Struktur dieses Patterns dahingehend, dass der Akzent länger wird und der unbetonte Schlag kürzer, so wird der Rhythmus als jambisch (der Akzent befindet sich hier am Ende der Gruppe) wahrgenommen (siehe Abb. 5). Wir nehmen die Achtelnote als Auftakt zu der punktierten Viertelnote wahr. Die Achtelnote führt in diesem Beispiel also zu einem Ziel hin.136

Nicht nur die zeitliche Struktur der Musik hat Einfluss auf die Art der Gruppierung, auch die Melodie spielt eine wichtige Rolle. Hier ist ebenfalls entscheidend, ob sich ein Ton (oder auch mehrere Töne) zu einem Ziel hin oder von einem Ziel weg bewegt. So führen Leittöne zu ihren jeweiligen Zieltönen hin und werden aus diesem Grund auch mit diesen zusammen gruppiert. Cooper und Meyer demonstrieren dies anhand einer einfachen Melodie und einer Variation dieser. In Abb. 6 sehen wir die Ausgangsmelodie: Hier liegt, aufgrund der melodischen, rhythmischen sowie metrischen Struktur eine eindeutige trochäische Rhythmik vor. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass neben der dominanten trochäischen Gruppierung auch eine latente jambische Gruppierung vorliegt. Diese hilft, die einzelnen trochäischen Gruppen miteinander zu verbinden und wird in Abb. 6 durch die Bögen verdeutlicht.137

Verändert man nun die Töne der Melodie wie in Abb. 7, sodass Leittöne zwischen den charakteristischen Melodietönen liegen, nehmen wir die Melodie als jambisch wahr, obwohl an der zeitlichen Struktur im Vergleich zu Abb. 6 nichts verändert wurde. Dies liegt daran, dass die Leittöne zusammen mit den ihnen folgenden Zieltönen gruppiert werden und die Melodie somit auftaktig wahrgenommen wird.138

Abschließend sei gesagt, dass Gruppenbildung ein mentaler Vorgang ist, der wiederum beeinflusst, wie ein Musikstück sowohl von den ausführenden Musiker*innen als auch von den Hörer*innen interpretiert wird. Es gibt keine verbindlichen Regeln zur Gruppenbildung. Dies macht in der Tat unterschiedliche Phrasierungen sowie Interpretationen eines Musikstücks überhaupt erst möglich.139 Die Art der Gruppierung beeinflusst sowohl die Darbietung als auch die Wahrnehmung von Musik: Je nachdem welche Art der Gruppierung auf die Motive eines Musikstücks projiziert wird, ändert sich das Microtiming dieser Motive. Cooper und Meyer beschreiben dies so:

„[N]otes will be performed or imagined ever so slightly nearer to the accent with which they are to be grouped. The notation remains the same. What changes is the interpretation of the grouping. And this change affects the placement of the beats and consequently the listener´s impression of the grouping as well as the performer´s expression of it.“140

2.3.2 Die Extraktion eines Grundpulses

Die Extraktion eines Grundpulses und das damit verbundene „Erkennen von Regeln der zeitlichen Organisation aufeinanderfolgender Ereignisse“141 ist ein grund-legender Prozess für die Wahrnehmung von Rhythmen und, wie zuvor bereits beschrieben, das zentrale Element des Metrums.142 Wie ein solcher Grundpuls aus der Musik entnommen wird, soll an dieser Stelle genauer beschrieben werden.

Es wird argumentiert, dass eine Art innere Uhr die Hörer*innen dazu befähigt, die „Längen wiederholter Ereignismuster“143 zu erkennen und einen Grundpuls aus der Musik zu extrahieren. Wie genau diese innere Uhr aufgebaut ist und funktioniert, ist jedoch zurzeit noch nicht sicher.144 Ähnlich wie Metrum und Rhythmus hierarchisch aufgebaut sind, wird angenommen, dass auch der Aufbau der inneren Uhr hierarchisch geordnet ist. Hier bestehen größere Einheiten also ebenfalls aus mehreren kleineren Teilen und umgekehrt können mehrere Einheiten zu größeren Einheiten zusammengefasst werden. Dieser Aufbau ist der hierarchischen Organisation einer normalen Uhr, bestehend aus Stunden, Minuten und Sekunden, ähnlich. Ein entscheidender Unterschied ist jedoch, dass die Einheiten unserer inneren Uhr nicht fixiert sind, sondern sich ständig dem Input, der betrachtet bzw. gehört wird, anpassen.145 Der beschriebene Aufbau spiegelt die hierarchische sowie relative Ordnung von rhythmischen Einheiten in dem Sinne wider, als dass auch die elementaren Bausteine rhythmischer Ordnung keine fixierte Zeitdauern besitzen, sondern relative Einheiten sind. So kann das Tempo von Viertelnoten zum Beispiel in einem Stück 100 bpm betragen (woraus wiederum folgt, dass beispielsweise die Achtelnoten ein Tempo von 200 bpm besitzen) und in einem anderen 60 bpm (Achtelnoten = 120 bpm). Wir hören Rhythmus also immer relativ, d.h. wir hören die Relationen vom Grundpuls zu den vorhandenen Unterteilungen und übergeordneten zeitlichen Strukturen, und nie (wie bei Tonhöhen möglich) absolut.

Es wird angenommen, dass die innere Uhr zwei Ebenen besitzt: Eine, die die Basiseinheit der Uhr, welche mit dem empfundenen tactus der Musik über-einstimmt, ermittelt und eine andere, die die Unterteilung der Basiseinheit bestimmt.146 Theoretisch können viele verschiedene Uhren, die sich in der Länge ihrer Basiseinheit sowie ihrer Synchronisation unterscheiden, mit ein und demselben rhythmischen Muster assoziiert werden. Demnach könnte jede Note (oder Pause) rein theoretisch der Anfangspunkt eines rhythmischen Musters sein. In Abb. 8 wird dies anhand einiger (jedoch nicht aller) möglichen Beispiele innerer Uhren passend zu einem rhythmischen Pattern veranschaulicht. Somit ist neben der Basiseinheit und ihren Unterteilungen auch die empfundene Startposition von Bedeutung.

Die jeweilige Basiseinheit sowie Startposition der rhythmischen Periode wird dabei durch den musikalischen Input induziert. Von entscheidender Bedeutung sind hier Akzente, wobei solche auch, zum Beispiel nach dem zuvor bereits beschriebenen Prinzip der Gruppenbildung, subjektiv zum akustischen Input hinzugefügt werden können. Mit der Wahrnehmung von Akzenten werden in der Regel Töne verbunden, die lauter oder länger sind oder in ihrer Tönhöhe abweichen. Bei einer Sequenz von identischen Tönen (solche Sequenzen wurden von Povel und Essens in Versuchen zur Erforschung der inneren Uhr verwendet) werden ebenfalls Akzente wahr-genommen. Und zwar werden hier die folgenden Töne von unserem Wahr-nehmungsapparat markiert: „(1) relatively isolated tones, (2) the second tone of a cluster of two tones, and (3) the initial and final tones of a cluster consisting of three or more tones.“147

In Abb. 9 sehen wir das gleiche Pattern wie in Abbildung 8. Es wurde hier mit den von den Hörer*innen wahrgenommenen Akzenten versehen. Der bestimmende Grund für oder gegen einen möglichen, von dem wahrgenommenen rhythmischen Pattern induzierten, Puls ist, ob und wenn ja, wie viele der Akzente mit dem Puls zusammenfallen.148 Auenhagen betont: „Je mehr akzentuierte Ereignisse mit Einheiten eines (hypothetischen) internen Pulses zusammenfallen, desto präziser können die Folgen im Gedächtnis behalten und reproduziert werden.“149 Betrachten wir mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf ein weiteres Mal Abbildung 8, so wird deutlich, dass die zweite innere Uhr (Unit: 2, Location: 1) sehr wahrscheinlich bevorzugt wird: Dieser Puls fällt mit mehr Akzenten zusammen, als die anderen in Abb. 8 dargestellten Möglichkeiten. Zudem fällt der Puls mit der Hälfte der Noten des Patterns zusammen und nur während zwei Beats des Grundpulses treten Pausen in der rhythmischen Figur auf.

London beschreibt eine andere Möglichkeit der Pulsextraktion. Er bezieht sich dabei auf die von Jones vorgeschlagenen zwei Phasen des rhythmischen Aufmerksam-keitsprozesses: (1) „abstraction“150, wonach konstante Elemente („invariant aspects of recurrent relationships“151 ) aus dem musikalischen Input extrahiert werden, und (2) „generation“152, wonach die zuvor extrahierten Invarianten dazu verwendet werden, um Erwartungen bezüglich aktueller sowie zukünftiger musikalischer Ereignisse zu generieren. London nennt die beiden Phasen „ recognition versus continuation153. Er argumentiert, dass die Ableitung eines Metrums in den meisten Fällen eher durch den Abgleich der musikalischen Figur gegen ein Repertoire von bekannten rhythmischen bzw. metrischen Schablonen erfolgt. Beispiele für solche Schablonen sind: Eine aufsteigende reine Quarte am Anfang einer Phrase (besonders wenn die erste Note kürzer als die zweite ist), die in der westlichen, tonalen Musik sowohl die fünfte und erste Stufe der Tonart impliziert, als auch ein Auftaktklischee darstellt (also den Up- und Downbeat verdeutlicht). Außerdem die in Rock- und Popmusik übliche Backbeat-Figur des Schlagzeugs, also die dynamisch akzentuierten Schläge auf der Snaredrum, die die Zählzeiten zwei und vier eines 4/4-Takts implizieren. Die meisten Hörer*innen haben viele dieser metrischen Schablonen zur Verfügung, die je nach Enkulturation und musikalischer Erfahrung unterschiedlich sein können. London argumentiert des weiteren, dass die meisten Hörer*innen sogar als metrische Experten bezeichnet werden können:

„[M]ost listeners are highly enculturated metric experts, barring some physical, auditory or neurological disability. Most of us have listened to music for countless hours in our lives. Similarly, as we often walk, run, take turns in conversation, march, dance, and engage in many other rhythmic behaviors, we are highly practiced in the production of various rhythms, both alone and in synchrony with others. Thus, it should not surprise that we are so adept at dealing with the complex rhythmic surfaces that music presents to us.“154

Wurde ein Metrum durch das Erkennen einer solchen Schablone etabliert, folgt in der zweiten Phase („ continuation155 ) die aktive Weiterführung dieses Metrum, selbst wenn widersprüchliche Ereignisse (z.B. Synkopen) in der Musik auftreten. Der musikalische Kontext der ersten Takte eines Musikstücks beeinflusst somit maßgeblich wie die folgende Musik metrisch wahrgenommen wird.156

[...]


1 Fischinger und Kopiez (2008), S. 459

2 ebenda

3 ebenda

4 ebenda

5 ebenda

6 vgl. Vuust und Witek (2014), S. 9

7 vgl. Vuust und Witek (2014), S. 9

8 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 1

9 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 3

10 vgl. ebenda, S. 2

11 vgl. London (2002), S. 531

12 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 2

13 ebenda

14 vgl. Fischinger (2009), S. 24

15 In mancher Literatur ist anstatt von Puls auch von Beat die Rede. Hier zeigt sich also schon eine terminologische Mehrdeutigkeit.

16 Fischinger (2009), S. 24

17 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 3

18 London (2012), S. 9

19 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 3

20 vgl. London (2012), S. 13

21 vgl. Bolton (1894)

22 Kirnberger (1776), S. 115

23 ebenda

24 vgl. London (2012), S. 13

25 vgl. Fischinger (2009), S. 24

26 Koch, zitiert nach London (2012), S. 31

27 Riemann, zitiert nach London (2012), S. 31

28 Cooper und Meyer (1960), S. 2

29 Krebs, zitiert nach London (2012), S. 31

30 Lerdahl und Jackendoff (1983), S. 31

31 vgl. Brown (1980)

32 London (2012), S. 32

33 vgl. ebenda, S. 32-33

34 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 3

35 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 3

36 vgl. ebenda, S. 3-4

37 vgl. Geo Themenlexikon Band 27, S. 504

38 Seidel (1998), Sp. 259

39 vgl. Geo Themenlexikon Band 27, S. 504f

40 vgl. Lehrdahl und Jackendoff (1983), S. 68

41 vgl. ebenda, S. 17

42 vgl. ebenda, S. 17-18

43 vgl. Vuust und Witek (2014), S. 2

44 vgl. London (2012), S. 33

45 vgl. ebenda, S. 27-47

46 vgl. London (2002), S. 534

47 ebenda

48 vgl ebenda und London (2012), S. 17

49 London (2012), S. 3

50 vgl. ebenda, S. 4

51 Bregman (1990), S.3

52 Auenhagen (2008), S. 438

53 London (2012), S. 5

54 vgl. Neisser nach London (2012), S. 10

55 vgl. London (2012), S. 12

56 Jones und Boltz (1989), S. 467

57 vgl. ebenda

58 vgl. London (2012), S.15-16

59 vgl. London (2012), S. 16-17

60 vgl. Jones und Boltz (1989), S. 461

61 Jones und Boltz (1989), S. 461

62 ebenda

63 vgl. ebenda

64 ebenda, S. 467

65 ebenda, S. 461

66 vgl. London (2012), S. 17

67 Jones und Boltz (1989), S. 461

68 vgl. London (2012), S. 16-17

69 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 7

70 Lehrdahl und Jackendoff (1983), S. 18

71 vgl. London (2012), S. 19

72 Cooper und Meyer (1960), S. 8

73 London (2012), S. 19

74 vgl. Geo Themenlexikon Band 27, S. 652

75 vgl. Seidel (1998), Sp. 257-258

76 Seidel (1998), Sp. 258

77 ebenda

78 vgl. ebenda

79 ebenda, Sp. 257

80 vgl. Fischinger (2009), S. 22

81 vgl. Spitzer (2002), S. 213

82 zitiert nach Seidel (1998), Sp. 257

83 Fischinger und Kopiez (2008), S. 458

84 vgl. Spitzer (2002), S. 213

85 vgl. Fischinger (2009), S. 22

86 Iyer (2002), S. 393

87 vgl. ebenda

88 Seidel (1998), Sp. 258

89 vgl. Auenhagen (2008), S. 437

90 ebenda

91 vgl. Fischinger (2009), S. 21

92 London (2012), S. 4

93 vgl. London (2012), S. 4

94 ebenda

95 Stevens (2007), S. 8

96 ebenda

97 ebenda

98 vgl. ebenda

99 ebenda, S. 5

100 ebenda

101 ebenda

102 vgl. ebenda

103 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 4

104 Dahlhaus und Eggebrecht zitiert nach Fischinger (2009), S. 23

105 Spitzer (2002), S. 213

106 vgl. Auenhagen (2008), S. 438

107 vgl. ebenda, S. 438-439

108 vgl. ebenda, S. 439

109 Außenhafen (2008), S. 439

110 vgl. Spitzer (2002), S. 126 - 129

111 ebenda

112 ebenda, S. 126

113 Spitzer (2002), S. 127

114 ebenda

115 vgl. ebenda

116 Auenhagen (2008), S. 439

117 vgl. ebenda

118 Spitzer (2002), S. 127

119 vgl. Spitzer (2002), S. 127

120 ebenda

121 Auenhagen (2008), S. 439

122 vgl. ebenda, S. 439

123 ebenda

124 ebenda, S. 440

125 vgl. ebenda, S. 439

126 vgl. Lerdahl und Jackendoff (1983), S.12-17

127 Auenhagen (2008), S. 440

128 ebenda

129 vgl. ebenda

130 Cooper und Meyer (1960), S. 8

131 vgl. ebenda, S. 6

132 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 6

133 ebenda

134 vgl. ebenda, S. 11

135 vgl. ebenda, S. 6-11

136 vgl. ebenda, S. 6-11

137 vgl. Cooper und Meyer (1960), S. 12-13

138 vgl. ebenda, S. 14

139 vgl. ebenda, S. 9

140 Cooper und Meyer (1960), S. 11

141 Auenhagen (2008), S. 438

142 vgl. ebenda, S. 440

143 ebenda, S. 440

144 vgl. ebenda

145 vgl. Povel und Essens (1985), S. 414

146 vgl. Povel und Essens (1985), S. 414

147 Povel und Essens (1985), S. 415

148 vgl. ebenda, S. 414-418

149 Auenhagen (2008), S. 441

150 Jones (1990), S. 194

151 ebenda

152 ebenda, S. 213

153 London (2012), S. 67

154 ebenda, S. 163

155 ebenda, S. 67

156 ebenda, S. 14

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Rhythmische Illusionen. Wahrnehmung, Interpretation und Umsetzung mehrdeutiger Rhythmen
Hochschule
Hochschule Osnabrück  (Institut für Musik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
90
Katalognummer
V539416
ISBN (eBook)
9783346182906
ISBN (Buch)
9783346182913
Sprache
Deutsch
Schlagworte
illusionen, interpretation, rhythmen, rhythmische, umsetzung, wahrnehmung
Arbeit zitieren
Lukas Schwegmann (Autor:in), 2019, Rhythmische Illusionen. Wahrnehmung, Interpretation und Umsetzung mehrdeutiger Rhythmen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539416

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