Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Relevanz
1.2 Forschungsfrage und Zielsetzung
1.3 Methodik
1.4 Aufbau der Arbeit
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Relevante Begriffe
2.2 Aktueller Forschungsstand
2.2.1 Narzissmus
2.2.2 Machiavellismus
2.2.3 Psychopathie
2.2.4 Die dunkle Triade
2.3 Relevante Forschungslücken zur Dunklen Triade
2.4 Schlussfolgerungen aus der Literaturarbeit
3 Methodische Vorgehensweise
3.1 Literaturrecherche
3.2 Grundgesamtheit und Stichprobe
3.3 Aufbau und Inhalt des Fragebogens
3.4 Online-Befragung und Plattform
3.5 Short D3 - Das verwendete Instrument
3.6 Statistische Methoden und Analysen
4 Ergebnisse
4.1 Fehlende Werte
4.2 Soziodemografische Daten
4.2.1 Berufszugehörigkeit
4.2.2 Geschlecht
4.2.3 Ergebnisse Alter
4.3 Explorative Faktorenanalyse
4.3.1 Faktorenanalyse Narzissmus
4.3.2 Faktorenanalyse Machiavellismus
4.3.3 Faktorenanalyse Psychopathie
4.3.4 Übersicht über die gebildeten Faktoren
4.4 Itemanalyse
4.4.1 Kennwerte des Merkmals Narzissmus
4.4.2 Kennwerte des Merkmals Machiavellismus
4.4.3 Kennwerte des Merkmals Psychopathie
4.5 T-Tests
4.5.1 T-Test für Narzissmus
4.5.2 T-Test für Machiavellismus
4.5.3 T-Test für Psychopathie
4.5.4 T-Tests nach Alter und Berufsgruppenzugehörigkeit
5 Diskussion
5.1 Chancen und Probleme der Fragestellung
5.2 Interpretation der Ergebnisse
5.2.1 Interpretation der soziodemografischen Ergebnisse
5.2.2 Interpretation der explorativen Faktorenanalyse
5.2.3 Interpretation der Itemanalyse
5.2.4 Interpretation der T-Tests
5.3 Praktische Implikationen
5.4 Kritische Reflexion und Limitation der Arbeit
6 Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang 1 - Fragebogen
Abstract (Deutsch)
Auch in den Gesundheitsberufen sind immer wieder Berichte über Verbrechen zu finden, die sich gegen Leben, Leib und Freiheit richten, einen immensen wirtschaftlichen Schaden anrichten oder aber zu einer Beschädigung der Marke führen. Im Zuge dieser Primäranalye wurde der Frage nachgegangen, ob Beschäftigte im Rettungsdienst der BRD im Vergleich zur deutschen Normalbevölkerung sozialunverträglichere Persönlichkeitsmerkmale aufweisen. Dazu wurde das Konzept der sog. Dunklen Triade verwendet und nach einer Literaturrecherche die Ausprägung der drei Merkmale Machiavellismus, Narzissmus und Psychopathie mit einem bereits validierten Fragebogen getestet. Bereits bei der Literaturrecherche konnte festgestellt werden, dass Ausprägung auf den drei Subskalen nicht notwendigerweise mit antisozialem Verhalten am Arbeitsplatz oder kontraproduktivem Arbeitsverhalten korreliert sind. Die Stichprobe dieser Teilerhebung wurde via Social Media rekrutiert. 872 Befragungsteilnehmende konnten gewonnen werden, 581 davon waren Beschäftige im Rettungsdienst. Der Fragebogen wurde mit einer explorativen Faktorenanalyse auf das Vorhandensein von latenten Konstrukten untersucht. Beim Faktor Aggression konnte nach Analyse der T-Tests in allen Altersgruppen ein signifikanter Unterschied nachgewiesen werden, d.h. dass die Beschäftigten im Rettungsdienst deutlich aggressivere Tendenzen zeigen als die Normalbevölkerung. Dies könnte sich in diversen Gefährdungsmomenten für andere Beschäftigte, Patientinnen und Patienten, sowie Dritte zeigen oder den antifragilen Charakter einer Organisation schädigen. Empfehlenswert scheint diesbezüglich zunächst das Etablieren von Monitoringsystemen und weitere Feldforschung. Zu Beginn der Arbeit lagen keine Daten aus dem Rettungsdienst vor. Eine Stärke der Arbeit ist der große Stichprobenumfang und die explorative Faktorenanalyse, ohne die das auffällige latente Konstrukt der Aggression nicht entdeckt worden wäre.
Abstract (Englisch)
The health care professions also report recurrent crimes that are directed against life, limb and freedom, cause immense economic damage or even damage the brand. In the course of this primary analysis, the question was investigated as to whether employees in the rescue service of the Federal Republic of Germany show socially incompatible personality traits compared to the German normal population. For this purpose, the concept of the so-called Dark Triad was used and, after a analysis of literature, the expression of the three characteristics Machiavellianism, narcissism and psychopathy was tested with an already validated questionnaire. The analysis of literature already showed that expression on the three subscales is not necessarily correlated with antisocial behaviour at work or counterproductive work behaviour. The sample of this sub-survey was administered via social media. 872 respondents were recruited, 581 of whom were employees in the emergency services. The questionnaire was examined for the presence of latent constructs using an exploratory factor analysis. The analysis of the T-tests showed a significant difference in the factor aggression in all age groups, i.e. the employees in the rescue service showed significantly more aggressive tendencies than the normal population. This could show itself in various moments of danger for other employees, patients and third parties or damage the antifragile character of an organisation. In this regard, it seems advisable to establish monitoring systems and further field research. At the beginning of the work, no data from the emergency services were available. A strength of the work is the power of the sample size and the explorative factor analysis, without the conspicuous latent construct of aggression would not have been discovered.
Keywords
Dunkle Triade, Rettungsdienst, Personlichkeitsmerkmale, Psychopathie, Machiavellismus, Narzissmus, kontraproduktives Arbeitsverhalten
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Übersicht über Nutzen und Kosten des Narzissmus
Tabelle 2: Vierfaktorenmodell der PCL-R
Tabelle 3: Übersicht über Items der PCL-R
Tabelle 4: Übersicht über primäre und sekundäre Psychopathie
Tabelle 5: Suchbegriffe
Tabelle 6: Items des Fragebogens
Tabelle 7: Umgepolte Items
Tabelle 8: Übersicht CFA und EFA
Tabelle 9: KMO-Beurteilung
Tabelle 10: Interpretation Cronbachs Alpha
Tabelle 11: Übersicht fehlender Werte
Tabelle 12: Auswertung Berufszugehörigkeit
Tabelle 13: Auswertung Geschlecht
Tabelle 14: Auswertung Alter
Tabelle 15: Auswertung Alter & Geschlecht
Tabelle 16: Auswertung Quartile Alter
Tabelle 17: KMO- und Bartlett-Test Narzissmus
Tabelle 18: Mustermatrix Narzissmus
Tabelle 19: KMO- und Bartlett-Test Machiavellismus
Tabelle 20: Mustermatrix Machiavellismus
Tabelle 21: KMO- und Bartlett-Test Psychopathie
Tabelle 22: Mustermatrix Psychopathie
Tabelle 23: Übersicht latente Konstrukte und univariate Beschreibung
Tabelle 24: Itemanalyse Narzissmus
Tabelle 25: Trennschärfe Machiavellismus
Tabelle 26: Itemanalyse Machiavellismus
Tabelle 27: Trennschärfe Machiavellismus
Tabelle 28: Itemanalyse Psychopathie
Tabelle 29: Trennschärfe Psychopathie
Tabelle 30: Gruppenstatistiken Narzissmus
Tabelle 31: Test bei unabhängigen Stichproben - Narzissmus
Tabelle 32: Gruppenstatistik Machiavellismus
Tabelle 33: Test bei unabhängigen Stichproben - Machiavellismus
Tabelle 34: Gruppenstatistik Psychopathie
Tabelle 35: Test bei unabhängigen Stichproben - Psychopathie
Tabelle 36: Gruppenstatistik - Alle Altersgruppen
Tabelle 37: T-Test bei unabhängigen Stichproben - Alles Altersgruppen
Tabelle 38: Gruppenstatistik - Unter 25 Jährige
Tabelle 39: T-Test bei unabhängigen Stichproben - Unter 25 Jährige
Tabelle 40: Gruppenstatistik - 25-40 Jährige
Tabelle 41: T-Test bei unabhängigen Stichproben - 25-40 Jährige
Tabelle 42: Gruppenstatistik - Über 40 Jährige
Tabelle 43: T-Test bei unabhängigen Stichproben - Über 40 Jährige
Tabelle 44: Ergebnisse GemeinwohlAtlas
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Vektorgrafik aus dem Narcissism Spectrum Model
Abbildung 2: Ausmaß der Kosten und Nutzen [...]
Abbildung 3: Machiavellismus - Altersverlauf
Abbildung 4: Machiavellismus - Frauen und Männer
Abbildung 5: Machiavellismus - Qualifikationsstufen
Abbildung 6: Säulendiagramm Berufszugehörigkeit
Abbildung 7: Säulendiagramm Geschlecht und Berufszugehörigkeit
Abbildung 8: Säulendiagramm Geschlecht
Abbildung 9: Balkendiagramm Altersverteilung
Abbildung 10: Histogramm Altersverteilung - Komplette Stichprobe
Abbildung 11: Histogramm Altersverteilung - EG
Abbildung 12: Histogramm Altersverteilung - KG
Abbildung 13: Boxplot Quartile Alter
Abkürzungsverzeichnis
RD: Rettungsdienst
D3: Dunkle Triade
SD3: Dark Triad Short, Questionnaire zur Erfassung spez. Persönlichkeits-Merkmale (auch SD3, Short Dark Triad)
AOP: Arbeits- und Organisationspsychologie
PTSD: Posttraumatic Stress Disorder
NotSan: Weibliche, männliche oder diverse Beschäftigte mit der Qualifikation Not- fallsanitäterin/Notfallsanitäter
RettAss: Weibliche, männliche oder diverse Beschäftigte mit der Qualifikation Ret- tungsassistentin/Rettungsassistent
CWB: Counterproductive work behaviour
CWBI: Counterproductive work behaviour individual
CWBO: Counterproductive work behaviour organization
KMO: Kaiser-Meyer-Olkin-Kriterium
EG: Experimentalgruppe
KG: Kontrollgruppe
EFA: Exploratorische/Explorative Faktorenanalyse
CFA: Konfirmatorische/Konfirmative Faktorenanalyse
BOS: Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgabe
Pat: Patientin/Patient, Patientinnen & Patienten
1 Einleitung
Die Einleitung soll den Lesenden einen Überblick über die Problemstellung und Relevanz dieser Arbeit geben, sowie einen übersichtlichen Einblick in die Methodik der Master-Thesis liefern. Durch die Erläuterung des Aufbaus dieser Arbeit wird eine thematische Orientierung über den Inhalt der einzelnen Kapitel möglich.
1.1 Problemstellung und Relevanz
Auch in den Gesundheits- und Sozialberufen sind immer wieder Berichte über schwere Verbrechen zu finden, die sich beispielsweise gegen Leben, Leib und Freiheit der Schutzbedürftigen richten, einen immensen wirtschaftlichen Schaden anrichten oder aber zu einer Beschädigung der Marke durch Imageverlust führen. So zum Beispiel Niels Högel, ein deutscher Krankenpfleger und Serienmörder, der am 06.06.2019 wegen der Ermordung von 97 Patienten vom Landgericht Oldenburg verurteilt wurde (Oldenburg, 2018). In den Medien war außerdem die Berichterstattung um den damaligen ADAC-Präsidenten Peter Meyer zu verfolgen, der nach Angaben des ADAC in mindestens 30 Fällen einen Rettungshubschrauber benutzt haben soll, um verschiedenen Veranstaltungen hinterher zu reisen (akw, 2014). Auch im deutschsprachigen Rettungsdienst sind Vergehen zu verzeichnen, die an der charakterlichen Eignung für die Ausübung des Berufs zweifeln lassen. So wurde beispielsweise 2009 ein Rettungsassistent wegen Urkundenfälschung und vielfachen Betruges zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt und die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs befunden (OpenJur, 2009). Ebenfalls Aufsehen erregte, als bekannt wurde, dass der Chirurg Simon Bramhall 2017 seine Initialen auf der Leber zweier Patienten mit einem chirurgischen Instrument (ArgonPlasma-Koagulator) einbrannte (Dyer, 2018, p. 1) .
Die Frage „Zeigen Beschäftigte in bestimmten Berufen Persönlichkeitsmerkmale, die eine Prädisposition für ein regelwidriges Verhalten darstellen?“ kann auf verschiedene Argumente gründen, folgend werden drei Möglichkeiten genannt (Hos- siep & Ringelband, 2014, pp. 21-27) . Erstens: Menschen suchen gezielt nach Tätigkeiten, die Ihrer Motivationsstruktur entsprechen (Selbstselektion). Denkbar wäre in diesem Kontext also die Suche nach einer Arbeit, bei der viel Macht über andere ausgeübt werden kann oder eine Tätigkeit, die Raum für Impression Management lässt (Bourdage et al., 2017, pp. 1-2) und der Rettungsdienst wäre so eine Branche, wie in Kapitel 2 noch beschrieben wird. Macht wäre im Rettungsdienst gegenüber hilfsbedürftigen Menschen, rangniedrigeren Beschäftigten oder Dritten (z.B. im Straßenverkehr) gut auszuleben. Beispielsweise die Situation Straßenverkehr: Fährt ein Rettungswagen unter Inanspruchnahme von Wegerechten, also mit Blaulicht und Martinhorn, haben andere Verkehrsteilnehmende gem. § 38 StVO sofort freie Bahn zu schaffen (Bender, 2016, pp. 100-101). Das heißt, der Fahrer des Rettungswagens genießt im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eine Vorrangstellung gegenüber anderen Verkehrsteilnehmenden und hat alleine damit die Möglichkeit, eine rechtlich legitimierte Machtposition auszuüben. Das Themencluster „Autofah- ren/Aggression/Auffälliges Verhalten im Straßenverkehr“ findet sich auch in Kapitel 2 wieder. Außerdem bestehen Hinweise darauf, dass Tendenzen, Aggressionen körperlich auszudrücken, die Frustration über die Behinderung von Zielen und eine impulsive Natur, per se ein aggressives Fahrverhalten begünstigen (Ball et al., 2018, p. 85). Die vorbezeichnete Arbeit untersuchte die Rolle von Merkmalen der sog. Dunklen Triade (siehe Kapitel 2) als potenzielle Faktoren, die neben Wut, allgemeiner Aggression, Impulsivität und Zuschreibungen bösartiger Fahrabsichten zum selbstberichteten aggressiven Fahren beitragen. Dies könnte gerade im Kontext dieser Arbeit für den Rettungsdienst interessant sein. Sowohl die Gefährdung der Öffentlichkeit und der Mitfahrenden, als auch immense Sachschäden (z.B. durch riskantes Fahren) und das Image des Berufs würde negativ beeinflusst werden.
Zweitens: Bestimmte Eigenschaften sind hilfreich für bestimmte Tätigkeiten, z.B. auch in heiklen Situation einen kühlen Kopf zu bewahren, wäre im Rettungsdienst äußerst hilfreich. Dazu gehören auch Situationen, die als starke Belastung erlebt werden können. Drittens: Persönlichkeitsstrukturen werden im Rahmen einer orga- nisationalen Gravitation durch das berufliche Umfeld mit beeinflusst, d.h. wenn man davon ausgeht, dass das besondere Arbeitsumfeld Rettungsdienst Menschen mit besonderen Merkmalen anzieht, beeinflussen diese sich wechselseitig. Außerdem findet nach dieser Vorstellung durch die beruflich Tätigkeit an sich eine Einflussnahme auf das Individuum statt. Das besondere Umfeld bzw. die besondere Tätigkeit kann durch die verschiedenen, stark wechselnden Szenarien erklärt werden, z.B. Notfall im Rotlichtmilieu, schwerer Verkehrsunfall bei Starkregen, Kollaps einer prominenten Person, Herzinfarkt in einer Großfabrik, Schnupfen bei einem 25-jährigen Mann ohne relevante medizinische Vorgeschichte, der gerade von zu Hause ausgezogen ist u.v.m. So erhalten Beschäftigte im Rettungsdienst Einsicht in intime Details und Zugang zu Örtlichkeiten, die der breiten Masse der Normalbevölkerung in der Regel nicht zugänglich sind. Ebenso trifft man regelmäßig Menschen in den verschiedensten Situation vor. Alle diese Situationen verlangen eine absolute Handlungsfähigkeit und genau diese Notwendigkeit könnte sich auf die Persönlichkeitseigenschaften der Beschäftigten auswirken. Ein Beispiel hierzu ist die Ausprägung von schwarzem Humor bei den Angehörigen der notfallmedizinischen Berufe (Maxwell, 2003, pp. 93-98).
Auch der Rettungsdienst ist hierarchisch aufgebaut, sowohl auf operativer, als auch auf administrativer Ebene. Auf operativer Ebene durch die verschiedenen Qualifikationsstufen und den damit einhergehenden Rechten und Pflichten und auf administrativer Ebene beispielsweise durch die Leitenden einer Rettungswache, eines Wachenverbundes oder eines Kreises bzw. einer kreisfreien Stadt. So ist das Thema toxische Führung auch für den Rettungsdienst relevant, auch aus der Perspektive heraus, dass die Leistungen der Notfallrettung und des qualifizierten Krankentransports infrastrukturkritische Bereiche der Daseinsvorsorge darstellen. Andererseits weisen auch Beschäftigte der operativen Ebene diverse Persönlichkeitsmerkmale mit unterschiedlichen Ausprägungen auf. In Bezug auf Führungskräfte, beschreibt die Theorie der oberen Ränge (Hambrick & Mason, 1984, p. 193) den Zusammenhang zwischen Leadership und Organisation im Allgemeinen wie folgt:
„Organizational outcomes-both strategies and effectiveness-are viewed as reflections of the values and cognitive bases of powerful actors in the organization. It is expected that, to some extent, such linkages can be detected empirically.“
Es wird also den Werten und kognitiven Grundlagen der Führungsperson die Fähigkeit zugesprochen, organisatorische Ergebnisse zu beeinflussen.
Folgend der Annahme, dass hohe Psychopathie-Scores eindeutig mit niedrigeren selbstberichteten Empathieniveaus, einer abgeschwächten affektiven Reaktion auf Empathie-Induktion und weniger altruistischem Verhalten in Verbindung zu bringen sind (Mayer et al., 2018, pp. 625-632), könnte dies im rettungsdienstlichen Setting hinderlich sein. So könnte, bezugnehmend auf das SOME-Modell (Bird & Viding, 2014, pp. 520-522), zum Beispiel das Erkennen der affektiven Situation des gegenüber gestört oder eine angemessene Reaktion erschwert sein. Konkret heißt das: Die Wahrnehmung von beispielsweise Schmerz, Trauer und Angst bei einem Hilfsbedürftigen könnten nicht wahrgenommen oder eine inadäquate Reaktion eingeleitet werden.
Das Thema „Wut“ scheint ebenso eine Bedeutung in Kontext dieser Arbeit zu besitzen. Empathie und Wut sind zwei soziale Emotionen, die das Risiko eines Menschen für Aggression modulieren (Blair, 2018, pp. 1-7). Reduzierte Empathie, wie sie in der Psychopathie zu beobachten ist, erhöht das Risiko einer zielgerichteten Aggression. Atypisch erhöhter Ärger (Reizbarkeit), der unter bestimmten Bedingungen wie z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörung auftritt, erhöht das Risiko für reaktive Aggression. Die Situation des mit Martinhorn fahrenden Rettungswagens wurde bereits beschrieben. Aggressive Fahrreaktionen könnten katastrophale Ausmaße annehmen. Ebenso aggressive Handlungen gegenüber Schutzbefohlenen oder anderen Beschäftigten. Hier wäre nicht nur physische Gewalt denkbar, sondern auch psychische Gewalt. In diesem Zuge wäre bei prädisponierten Menschen ein besonderer Schaden durch toxische Führung zu erzielen. So beschreiben Barelds et al., dass Beschäftigte mit einem geringen Selbstwertgefühlt besonders anfällig für psychopathische Führungspersonen sind (Barelds et al., 2018, pp. 1-12) . Die Arbeit zeigt, dass das Ausmaß, in dem sich (wahrgenommene) psychopathische Merkmale von Führungskräften in ihrem Verhalten widerspiegeln, auch von den Merkmalen ihrer Anhänger abhängt. Offensichtlich ist der Verhaltensausdruck negativer Leitmerkmale nicht nur eine Frage der Merkmalsstärke, sondern das kontextabhängige Ergebnis eines Zusammenspiels von Führungskraft und Untergebenen. Obwohl zu der Merkmalsstärke der Beschäftigten im deutschsprachigen Rettungsdienst keine Daten vorliegen, wäre vor allem bei Auszubildenden oder besonders jungen Beschäftigten, die am Anfang ihrer beruflichen Orientierung stehen, eine gewisse Prädisposition für die Beeinflussung durch böswillige Führung denkbar.
Das Besondere im Rettungsdienst ist, dass die Rettungsmittel mit einem Teamleiter und einem Teammitglied besetzt sind und RA oder NotSan während des Einsatzes eine Leitungsfunktion haben. Somit wäre der Einfluss von toxischer Führung im Rettungsdienst nicht nur auf Leitungsstellen mit Personal- oder Budgetverantwortung denkbar.
Doch sind nicht nur Individuen durch bestimmte malevolente Traits beeinflussbar, sondern auch Organisationen. So können zwar unter bestimmten situativen Bedingungen malevolente Traits auch performance-steigernd wirksam werden, allerdings auch eine Bedrohung der Organisation und der Gesundheit von Beschäftigten oder im besten Fall des Betriebsfriedens darstellen (siehe auch Tabelle 3, z.B. primäre Psychopathie).
Die Frage, ob der Rettungsdienst einen prozentual höheren Anteil an psychopathischen, narzisstischen oder machiavellistischen Menschen aufweist, ist nicht nur für die Organisation interessant, sondern unter Umständen auch für hilfsbedürftige Menschen, die von beispielsweise psychopathischen Beschäftigten im Rettungsdienst versorgt werden oder versorgt werden sollen.
Für den Rettungsdienst liegen in Bezug auf die Häufigkeit von bestimmten hochausgeprägten Persönlichkeitsmerkmalen oder Sozialisations- und Gravitationseffekten noch keine Daten vor. Die Master-Thesis soll sich dieser Lücke annehmen und bei den Fach- und Führungskräften im deutschsprachigen Rettungsdienst evaluieren, in welcher Häufigkeit auffällige Persönlichkeitsmerkmale vorliegen, die den Merkmalen (Traits) der dunklen Triade entsprechen.
1.2 Forschungsfrage und Zielsetzung
Fragestellung der Master-Thesis ist, ob ein Unterschied zwischen den Beschäftigten im Rettungsdienst als Experimentalgruppe (EG) und Menschen aus der Normalbevölkerung als Kontrollgruppe (KG) bezüglich Persönlichkeitsmerkmalen der sog. Dunkle Triade (=D3, siehe Kapitel 2.1f) besteht. Dies objektiviert und operationalisiert die im Titel der Arbeit angeführten sozialunverträglichen Persönlichkeitsmerkmale. Die Forschungsfrage lautet also: Weisen Beschäftigte im deutschsprachigen Rettungsdienst im Vergleich zur Normalbevölkerung sozialunverträglichere Persönlichkeitsmerkmale im Sinne der sog. Dunklen Triade auf? Normalbevölkerung meint in diesem Zusammenhang alle Individuen, die nicht hauptberuflich im Rettungsdienst beschäftigt sind.
Für die Beschäftigten im Rettungsdienst wären mehrere Annahmen denkbar. Einerseits könnte in Bezug auf die Normalbevölkerung eine signifikante Häufung von Merkmalen vorliegen, die der sog. dunklen Triade (siehe Kapitel 2) zuzuordnen sind. Gründe hierfür könnten z.B. in einem Machtstreben als Motivator gesehen werden (McClelland, 1991).
Hypothese (H1) lautet deswegen: Beschäftigte im Rettungsdienst weisen im Vergleich zur Normalbevölkerung signifi kant höhere D3-Scores auf. Andererseits könnte durchaus Gegenteiliges der Fall und keine Merkmale der dunklen Triade zu beschreiben sein, da die soziale Interaktion auf einer Rettungswache bzw. einem Rettungsmittel über eine acht bis 24 Stunden andauernde Schichtzeit eine besonders sozial verträgliche Ausrichtung verlangt.
Nullhypothese (H0) lautet: Es besteht bei Beschäftigten im Rettungsdienst kein signifi kanter Unterschied der D3-Scores im Vergleich zur Normalbevölkerung.
Eine Erklärung für die Häufung dieser Persönlichkeitsmerkmale wäre durch das Modell der organisationalen Sozialisation und Gravitation zu sehen. Zur organisa- tionalen Gravitation zählen selbstselektive Prozesse, d. h. Beschäftigte wählen ein Unternehmen aus, bei denen die Arbeit aufgenommen werden soll (Nerdinger, 2011, pp. 67-85). So weisen die Ergebnisse von (Taber et al., 2011, p. 207) darauf hin, dass Medizinstudierende im ersten Jahr, die dazu neigen anderen gegenüber aufmerksamer, zärtlicher, besorgniserregender und gewissenhafter zu sein, eher in personenorientierte Fachgebiete einsteigen. Umgekehrt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Medizinstudierende, die eher skeptisch, sozial dominant und ungeduldig sind, eher in technisch orientierte Fachrichtungen wechseln. Die organisationale Gravitation wird durch das Attraction-selection-attrition-Model beschrieben (Schneider, 2006, pp. 437-454).
Ziel dieser Master-Thesis, die sich als Pilot-Studie versteht, ist, Informationen über die Zusammensetzung der Persönlichkeitsmerkmale im deutschen Rettungsdienst zu erhalten und mit der Normalbevölkerung zu vergleichen.
1.3 Methodik
Diese empirische, primäranalytische Pilot-Studie im multizentrischen QuerschnittDesign ist quantitativer Natur und stützt sich, neben dem Theorieteil, im Wesentlichen auf die Online-Datenerhebung eines bereits validierten Fragebogens, dessen Auswertung und die Einbettung dieser Erkenntnisse im induktiven Sinn in den Kontext dieser Master-Thesis.
Das Vorgehen nach Erläuterung der relevanten Theorie kann wie folgt verstanden werden: Es wurden die Ausprägungen von Persönlichkeitsmerkmalen der Dunklen Triade bei Rettungsdienst-Beschäftigten und bei der Normalbevölkerung untersucht. Dazu wurde eine bereits validierte Skala verwendet, die sog. „Short Dark Tri- ad “ oder abgekürzt „SD3“ (Jones & Paulhus, 2014, pp. 28-41). Da die im vorherigen Satz zitierten Original-Skala in englischer Sprache abgefasst ist, wurde die deutsche Übersetzung von Malesza et al. (2017, p. 855) benutzt. Kapitel 3.6 beleuchtet die Gründe für dieses Vorgehen.
Die Erhebung wurde mit der übersetzten Skala via Online-Fragebogen als Teilerhebung umgesetzt, wofür sich die Begründung ebenfalls wieder in Kapitel 3 findet.
Die Daten werden wie oben beschrieben online erhoben und deskriptiv mittels SPSS® ausgewertet und graphisch aufbereitet. Im Speziellen liegt die Priorität auf der Darstellung der wichtigsten Streu- und Lagemaße und Korrelationsmaße und der Diskussion der Ergebnisse.
1.4 Aufbau der Arbeit
Dieses Kapitel soll den Lesenden eine Orientierung über die Strukturierung dieser Master-Thesis geben. Die folgenden Absätze entsprechen den Kapiteln:
Vor dem ersten Kapitel können sich Lesende mit den entsprechenden Verzeichnissen einen Überblick über Tabellen und Grafiken verschaffen. Das Abkürzungsverzeichnis erklärt die wichtigsten Abkürzungen.
Das erste Kapitel, die Einleitung, untergliedert sich in vier Unterkapitel. Im ersten dieser Unterkapitel, der „Problemstellung und Relevanz“, sollen Lesende für die Forschungsfrage sowie deren Kontext und Relevanz sensibilisiert werden. Das zweite Unterkapitel „Forschungsfrage und Zielsetzung“ stellt die Forschungsfrage und die Hypothesen dar. Außerdem wird das Ziel der Arbeit beschrieben. Das Unterkapitel „Methodik“ dient dazu, dem Lesenden einen Überblick über den wissenschaftlichen Charakter der Master-Thesis zu geben und das Vorgehen grob zu kategorisieren, während eine detaillierte Vorstellung der angewandten Methodik in Kapitel 3 stattfindet. Das vierte und letzte Unterkapitel der Einleitung ist dieses, also der Aufbau der Arbeit.
Kapitel 2 widmet sich dem theoretischen Hintergrund der Master-Thesis und gliedert sich, ebenso wie das erste Kapitel, in vier Unterkapitel. Zunächst sollen mit dem Unterkapitel „Relevante Begriffe“ ebendiese so geklärt werden, dass Lesenden der Einstieg in die Thematik erleichtert wird. Im nächsten Unterkapitel, das den Titel „Aktueller Forschungsstand“ trägt, wird der derzeitige State of the Art zu Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie und D3 in jeweils einer eigenen Gliederungsebene dargestellt. Im Zentrum steht die aktuelle Literatur, die über verschiedene wissenschaftliche Datenbanken recherchiert wurde. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen wurde nach einer Analyse die Frage nach allfälligen Forschungslücken im dritten Unterkapitel beantwortet. Als letztes Unterkapitel des zweiten Kapitels geht es bei „Schlussfolgerungen aus der Literaturrecherche“ bezeichnenderweise um die Implikationen der bisherigen Erkenntnis im Kontext dieser Arbeit.
Das dritte Kapitel, die methodische Vorgehensweise, hat zur Aufgabe, Lesenden einen transparenten Einblick in die methodische Vorgehensweise der Master-Thesis zu geben. Übergeordnetes Ziel ist, die Beschreibung derart zu gestalten, dass die Prozesse jederzeit reproduziert werden können. Diesem hehren Ziel dienen sechs Kapitel, die auf Literaturrecherche, Angaben zur Stichprobe und zum Fragebogen, Online-Plattform und statistische Auswertung eingehen. Im Unterkapitel „3.6 Statistische Auswertung“ wird das Vorgehen begründet und die Grundlagen der Dateninterpretation dieser Arbeit erläutert. Hier finden sich wichtige Angaben für den Ergebnisteil (Kapitel 4).
Das vierte Kapitel widmet sich den Ergebnissen und ist in vier Bereiche unterteilt. Zunächst werden die soziodemografischen Daten vorgestellt, gefolgt von der Itemanalyse, der explorativen Faktorenanalyse und den T-Tests. Itemanalyse, Faktorenanalyse und T-Tests sind jeweils in die drei Konstrukte der D3 gesplittet. Die T-Tests sind zusätzlich nach Alter und Berufszugehörigkeit unterteilt.
Das fünfte Kapitel widmet sich der Diskussion der bisherigen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse. Hier werden die soziodemografischen Daten, die explorative Faktorenanalyse, die Itemanalyse und die T-Tests interpretiert. Außerdem werden Chancen und Probleme, welche die Fragestellung mit sich bringen könnte, beleuchtet. Die praktischen Implikationen für Forschung und Rettungsdienst finden hier ebenso Platz, wie die Diskussion der Limitationen und die kritische Reflexion der eigenen Arbeit.
Das sechste und letzte Kapitel liefert eine Zusammenfassung der Erkenntnisse im Hinblick auf die Fragestellung und generiert einen Ausblick auf die mögliche Verwendung der Ergebnisse und zukünftige Forschungsarbeiten.
2 Theoretischer Hintergrund
Dieses Kapitel soll die relevanten Begriffe klären, um Verständnisschwierigkeiten oder Missverständnisse vorzubeugen. Außerdem wird der aktuelle Forschungsstand mit seinen Lücken ins Zentrum der Betrachtung gerückt.
2.1 Relevante Begriffe
In dieser Master-Thesis werden bestimmte Begriffe immer wieder erwähnt. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollen sie hier erklärt werden, wenn auch auf das Wesentliche reduziert.
Persönlichkeit und Traits: Die hier verwendete Beschreibung der beiden Begrifflich- keiten geht auf Gerrig (2018, pp. 508-509) zurück. Persönlichkeit wird dort definiert als eine komplexe Menge einzigartiger psychischer Eigenschaften, welche die für ein Individuum charakteristischen Verhaltensmuster in vielen Situation und über einen längeren Zeitraum beeinflussen. Die Persönlichkeit ist also ein stabiles Muster aller überdauernden individuellen Besonderheiten im Erleben und Verhalten. In der Umgangssprache wird oftmals Charakter oder Wesenszug synonym verwendet. Traits beschreiben je eine stabile Eigenschaft eines Individuums, die über verschiedene Situationen hinweg ein konsistentes Verhalten prädisponieren. So definiert sich beispielsweise Ehrlichkeit in einer Situation so, dass die gefundene Brieftasche mit Inhalt im Fundbüro abgegeben wird und in der anderen Situation in der Art, dass bei einer Prüfung nicht geschummelt wird, obwohl die Möglichkeit dazu bestünde. Organisation: Der Begriff steht in dieser Arbeit synonym für Firma, Betrieb und sämtliche gewerbliche Leistungserbringer, unabhängig von deren Geschäftsform und für jede strukturierte, dauerhafte und zielorientierte Kooperationsbeziehung, die sich auf einen spezifischen sozialen Zusammenhang bezieht und vertraglich geregelt ist.
Rettungsdienst: Ist in dieser Arbeit von dem vorbezeichneten Begriff die Rede, ist der Rettungsdienst der Bundesrepublik Deutschland gemeint.
Malevolent: Synonym für bösartig, aus dem Englischen „malevolent"
Dunkle Triade: Es sei darauf hingewiesen, dass bestimmte auffällige Persönlichkeitsmerkmale nicht zwingend mit einer klinisch-diagnostizierbaren Erkrankung einhergehen, z.B. ausgeprägte narzisstische Merkmale versus narzisstische Persönlichkeitsstörung im Sinnes des ICD F60.8 (Dilling & Freyberger, 2016, pp. 246 - 247). Bei der dunklen Triade geht es im Gegensatz zur klinischen Psychologie um Eigenschaften im subklinischen Bereich, die sich durch die Ausprägung des Verhaltens von Persönlichkeitsstörungen unterscheidet. In diesem Sinne haben Paulhus und Williams erstmals die Zusammenhänge zwischen drei großen malevolenten Persönlichkeitsmerkmalen als „Dunkle Triade“ beschrieben und den Begriff somit gleichzeitig geprägt (Paulhus & Williams, 2002, pp. 556-563): Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie. Die Dunkle Triade wird in Kapitel 2.2.4. eingehend beschrieben. Um grundlegende Begriffe und Zusammenhänge zu klären, sollen jedoch die drei Merkmale beschrieben werden.
2.2 Aktueller Forschungsstand
2.2.1 Narzissmus
Das Kapitel soll einen Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung zu Narzissmus geben, soweit für den Kontext dieser Arbeit relevant. Auch wenn klinische Aspekte, wie z.B. Definitionen, immer wieder auftauchen, sind diese eher Randnotizen oder für ein grundsätzliches Verständnis bestimmter Konstrukte unentbehrlich. In dieser Arbeit geht es, auch im Sinne der D3, weniger um die Blickrichtung der klinischen Psychologie, als um Aspekte der Arbeits- und Organisationpsychologie. Aus diesem Grund findet immer wieder die Rekursion auf die organisationale Ebene statt.
Die Definition der zentralen Begriffe soll hier Platz finden, weil sich die Bedeutung und Relevanz der verwenden Konstrukte, einerseits vom alltagspsychologischen Verständnis und andererseits im Detaillierunsgrad und in der Diskussionstiefe abheben soll. Auf der Suche nach einer klaren Definition des Narzissmus könnten Suchende jedoch enttäuscht werden, denn die allgemeingültige Definition dieses Persönlichkeitsmerkmals gibt es nicht und es bestehen recht viele begriffliche Inkonsistenzen, wie auch Pincus & Lukowitsky (2010, p. 437) schreiben:
„Conceptions of personality disorders are currently in flux, and the clinical and empirical literatures on pathological narcissism and NPD suffer from significant phenotypic and taxonomic inconsistencies.“
Zunächst wäre zu erwähnen, dass der Übergang von hochausgeprägten, jedoch subklinischen narzisstischen Merkmalen in eine Persönlichkeitsstörung gegeben sein kann, wobei hier auffällig ist, dass die Beschreibung im ICD-10 wenig diagnostische Trennschärfe zu bieten scheint. So wird die Narzisstische Persönlichkeitsstörung unter der Kodierung F60.80 nur knapp erwähnt und nicht weiter operationalisiert (Dilling & Freyberger, 2016, p. 247), d.h. exakte Diagnosekriterien fehlen und subklinische narzisstische Ausprägungen bleiben unerwähnt. Das Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (DSM-5) ist etwas ausführlicher und listet die Störung unter Kodierung 301.81 (Maier, 2015, p. 918).
Abgesehen von medizinischen bzw. klinisch-psychologischen Kodierungen, kann Narzissmus als ein Persönlichkeitsmerkmal verstanden werden, dass von Überzeugungen der persönlichen Überlegenheit und einem Gefühl des unbedingten Anspruchs auf Sonderbehandlung geprägt ist, wobei gleichzeitig Gefühle der Unzulänglichkeit bestehen (Krizan & Herlache, 2018, pp. 2-3). Das heißt, Menschen mit ausgeprägten narzisstischen Merkmalen leben in einem ambivalenten Spannungsfeld zwischen gelebter Grandiosität und gefühlter Minderwertigkeit, wobei der fragile Selbstwert das zentrale Problem darstellt. Das Narcissism Spectrum Model beschreibt Narzissmus als „(...) a spectrum of personality characteristics that reflects Variation in self-impor- tance and entitlement as a shared phenotype, with narcissism exhibiting different forms of expression spanning distinct dimensions of temperament and functioning.“ (Krizan & Herlache, 2018, p. 6).
Das Konzept eines Spektrums kann in der Psychiatrie und Psychologie als eine Sammlung von Zuständen verstanden werden, die sich in ihrer Schwere oder Ausprägung unterscheiden, aber durch zugrundeliegende generative Prozesse verbunden sind. Ähnliche Spektrum-Modelle werden bei ähnlichen Störungsclustern bereits verwendet, um klinische und subklinische Erscheinungen in die Vorstellung zu integrieren, z.B. bei Angststörungen (Dell'Osso et al., 2015, pp. 295-301) oder emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung (Benazzi, 2006, pp. 68-74). Das Narcissism Spectrum Model beschreibt Self-importance (Selbstüberschätzung) und Entitlement (Anspruchsverhalten) als zentrale Aspekte des Narzissmus, die von Grandiosity (Grandiosität, Großartigkeit, hier: Selbstüberhöhung) und Vulnerability (Verwund barkeit) flankiert werden. Dies wird im Modell mit einer Grafik dargestellt (siehe Abb. 1), bei der die Variation dieser Persönlichkeitsmerkmale durch die Abweichung vom vertikalen Vektor in der Mitte des Spektrums visualisiert wird.
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Die Selbstüberschätzung, die für das Individuum nur zu einem gewissen Grad im jeweiligen Moment bewusst zugänglich ist, stellt dar, warum narzisstisches Verhalten nicht auf die willkürliche Darstellung der eigenen Grandiosität nach außen limitiert ist, sondern vielmehr von ich-syntonen Verhaltensweisen ausgegangen werden kann. Der Aspekt der Verwundbarkeit führt nochmals den Aspekt der Dysfunktionalität ins Auge, denn Narzissmus ist keineswegs als heroisches und leistungssteigerndes Merkmal zu sehen, sondern trägt auch leidensgenerierende Züge, unter denen nicht nur die Menschen in der Umgebung des narzisstischen Individuums leiden, sondern auch das betroffene Individuum selbst. Ähnlich dem paradoxen Verhältnis zwischen dem grandiosen, selbstherrlichen Habitus einerseits und der Verwundbarkeit andererseits, scheint Narzissmus nach heutigem Verständnis eine Welt der Paradoxie zu eröffnen, so schreiben Krizan & Herlache:
"As mentioned ear- lier, the notion that narcissistic individuals embody qualities that are at some level paradoxical or self-contradictory (e.g., hubris alongside insecurity) is a long-standing and distinc- tive aspect of narcissism scholarship. The existence of such a “narcissistic paradox” became widely accepted as the psy- chodynamic concept of splitting became the key idea for understanding narcissism.“ (Krizan & Herlache, 2018, p. 20)
Trotz der bisherigen Überlegungen bleibt offen, ob Narzissmus förderlich oder schädlich für eine Organisation ist. Campbell et al. (2011, pp. 272-273) schreiben dazu nicht nur, dass es üblich wäre, Narzissmus an der Spitze von Organisationen zu finden, sie beschreiben auch den Spagat zwischen dem Lob für Leidenschaft, Vision und Innovationskraft dieser Personen und andererseits der Aburteilung für mangelnde Empathie und ihrer Überempfindlichkeit gegenüber Kritik.
Ein Ansatz für dieses Schisma wäre, wie Campbell et al. in der vorzitierten Arbeit vorschlagen, das Konstrukt des Narzissmus selbst in eine helle Seite und eine dunkle Seite aufzuteilen. So werden beispielsweise die mit positivem Selbstwertgefühl verbundenen Komponenten des Narzissmus als gesund oder hell und die mit dem Anspruch verbundenen als ungesund oder dunkel beschrieben. Das Problem bei diesem dichotomen Ansatz ist jedoch die Gefahr einer Stigmatisierung und einer einseitigen Konnotation, welche in diesem Kontext schwer operationalisierbarer Begriffe („hell“ und „dunkel“) darstellen, die eher einem alltagspsychologischen Konstrukt anmuten und Assoziationen wie „gut“ und „böse“ wecken könnten. Letzteres greift zu kurz und führt zu moralisierenden Annahmen. Außerdem greift die Arbeit an einer weiteren Stelle zu kurz, denn dem Gedanken der Ambivalenz, also dass die gleiche Persönlichkeitskonfiguration beides aufweisen kann, also sowohl eine helle als auch eine dunkle Seite enthalten kann, wird nicht Rechnung getragen. So können Menschen mit hochausgeprägten narzisstischen Merkmalen zunächst selbstbewusst und charismatisch wirken. Mit der Zeit werden diese Merkmale jedoch zu einem Gefühl des überhöhten Anspruchsdenkens und der Unfähigkeit, aus Fehlern zu lernen (Hogan & Kaiser, 2005, p. 176). Campbell et al. (2011, pp. 272-273) beschreiben mit Bezug auf das organisationale Setting auch die Erscheinung produktiver narzisstischer Individuen, die leicht unproduktiv werden können, wenn sie von Gefühlen der Grandiosität und Paranoia überwältigt werden. Hier wären sicher die Moderatorvariablen interessant, also: Welche Variablen führen im Rettungsdienst zu einer Steigerung des Grandiositätsgefühls und zu einer Zunahme der paranoischen Phänomene? Ein weiterer Aspekt ist, dass diese Dynamik die Organisationsdiagnose im Bezug auf Narzissmus erschwert.
Braun beschäftigte sich ebenfalls mit den Auswirkungen auf die Organisation und analysierte fünfundvierzig Forschungsartikel in einem systematischen Review (Braun, 2017, pp. 1-22) mit dem Schwerpunkt Leadership-Narcissism. Inklusionskriterien waren neben dem Assessment von Leadership-Narcissism ein Fokus auf subklinische Ausprägungen und das Vorhandensein einer Outcome-Messung. Es hat sich gezeigt, dass Narzissmus Konflikte, Aggressionen und Mobbing in einer Vielzahl von Kontexten außerhalb von Organisationen vorhersagt. Ob Narzissmus generell als prädikativer Faktor für kontraproduktives und sozialunverträgliches Arbeitsverhalten beschrieben werden kann, ist jedoch fraglich.
Im Hinblick auf Konflikte prognostiziert Narzissmus ein niedrigeres Niveau der Anpassung in Beziehungen, d.h. narzisstische Individuen reagieren eher auf die Folgen von negativem Verhalten der Partner auf eine Weise, die eher destruktiv als konstruktiv für die Beziehung ist (Campbell & Foster, 2002, pp. 484-495). Gleiches gilt für White-Collar-Crime (auch: „Corporate Crime“), also ein wirtschaftskriminelles Verhalten, das Aggression ohne direkte/körperliche Gewalt gegen Menschen beschreibt (Gaertner et al., 2008; Blickle et al., 2006), wobei Letzteres vor allem bei narzisstischer Kränkung durch Bedrohung des Egos (Bushman & Baumeister, 1998, pp. 219-229) und soziale Zurückweisung aufzutreten scheint (Foster et al., 2003, pp. 469-486). Bisher zeichnet sich in zwischenmenschlichen Beziehungen und in Bezug auf kriminelles Verhalten also ein defizitäres Bild für narzisstische Individuen, im Hinblick auf deren Einsatz in einer gesunden Organisation. Interessant wäre weiterhin die Forschung bezüglich der Interaktion von narzisstischen Individuen mit hilfsbedürftigen Menschen.
(Campbell & Campbell, 2009, pp. 214-232) bringen mit dem Contextual Reinforcement Model einen weiteren Aspekt ins Spiel, der bisher gefehlt hat: Den Kontext. Hier wird der Fragestellung begegnet, ob Unterschiede im narzisstischen Verhalten beobachtbar sind, wenn Menschen coram publico (z.B. Arbeitsstelle) oder in einem nicht-öffentlichen Setting (z.B. zu Hause) agieren. Es findet eine Unterteilung in Emerging Zone und Enduring Zone statt und spielt sich außerdem vor dem Hintergrund der Nutzen und Kosten ab. Das Modell soll hier Erwähnung finden, da Kosten und Nutzen für Individuen und Organisationen kontextabhängig betrachtet werden und gerade der Kontext ein wichtiges Puzzleteil in einem komplexen Muster zu sein scheint. So werden hier nicht nur die destruktiven Seiten, sondern auch den möglichen Nutzen des Narzismuss für das narzisstische Individuum und die Organisation darstellt. Die Nutzen des Narzissmus sind demnach primär in der Emerging Zone zu finden, also die Situationen, in denen es um unbekannte Personen, Frühphasenbeziehungen und kurzfristige Zusammenhänge geht, zusammenfasst. Hier wäre auch die Anfangsphase eines Jobs zu sehen. In der Emerging Zone geht es also darum, erstmal zu glänzen, sich einen Status zu erarbeiten und zu beeindrucken. Die Kosten sind vor allem in dauerhaften und nachhaltig ausgelegten Settings beheimatet, also in der Enduring Zone. In dieser Zone bzw. Zeitphase, die sich der Emerging Zone anschließt, muss die Leistung, der Eindruck und die Beziehung zu anderen Individuen aufrechterhalten werden. Nach einer Einarbeitungsphase, denkbar auch nach der Probezeit, geht einem Individuum mit ausgeprägten narzisstischen Merkmalen also „die Luft aus“ und gute Performanz und sozial erwünschtes Verhalten werden nicht weitergeführt. Die Begründung für die Kosten der Enduring Zone liegt den Autoren folgend darin, dass in der Emerging Zone mehr Benefits geerntet werden können, als dies in der Enduring Zone der Fall wäre. Diese Benefits können sein: Generierung eines positiven Selbstbildes, positiver Affekt bis zu emotionalen Rauschzuständen, Erfolg in der Anfangsphase, Erfolg in der Partnersuche, Erzeugung von Sympathie in den ersten Meetings, aufstrebende und entwickelnde Führung, Erfolg bei anfänglicher Ressourcengewinnung aus der organisationalen Umwelt, Resilienz gegenüber negativen Rückmeldungen und Erfolg bei öffentlichen Aufführungen. Als Kehrseite der Medaille können jedoch auch Überheblichkeit und damit schlechte Entscheidungen und schlechte Leistungen im privaten (nicht-öffentlichen) Bereich zu beobachten sein. Es wird betont, dass auch die Enduring Zone Nutzen abwerfen kann, wie z.B. positive Selbsteinschätzung, eine hohe Wahrscheinlichkeit einen gewissen Bekanntheits- bzw. Berühmtheitsgrad zu erreichen, höhere Stufen der uneingeschränkten Soziosexualität et cetera. Die Kosten dürfen jedoch nicht ignoriert werden. Diese können aus einer Sucht nach Selbstentfaltung, zwanghaftes Konsumverhalten, pathologisches Glücksspiel, zu zuversichtliche Entscheidungsfindungen, Schwierigkeiten beim Lernen aus Feedback, schlechte Management-Bewertungen, Beziehungsproblemen und sogar Haftstrafen bestehen. In der Emerging Zone könnte vor allem das Führungsverhalten narzisstischer Individuen von Nutzen für die Organisation sein, während Aggression nach Bedrohung als Zeichen der narzisstischen Kränkung ein Risiko ist. In der Enduring Zone konnten die Autoren keinen Nutzen für die Organisation identifizieren, jedoch Risiken, wie z.B. Aggression, schlechte Bewertung des Führungsverhaltens, unberechenbares Führungsverhalten, auch auf interpersoneller Ebene. Sogar ein erhöhtes Inhaftierungsrisiko konnte festgestellt werden. Werden aus Enduring Zone, Emerging Zone, Nutzen und Kosten vier Felder generiert, ist das Gesamtbild visualierbar (siehe Abb. 2). Für das Selbst hat der Narzissmus nur ein sehr geringes Ausmaß an Nachteilen (z.B. -1). Im Gegensatz dazu hat der Narzissmus bei der anderen Seite eine insgesamt sehr viel negativere Konsequenz (z.B. -12), d.h. die Kosten der Anderen sind höher, als die Kosten des narzisstischen Individuums. Die grafische Darstellung visualisiert auch die Vorteile und die Kosten des Narzissmus für das Individuum. Für das Selbst hat der Narzissmus eindeutig Vorteile in der Emerging Zone, wobei diese Vorteile sogar die Kosten überwiegen. Für andere in der Emerging Zone kann der Narzissmus auch Vorteile bieten, obwohl diese Vorteile durch die potenziellen Kosten ausgeglichen werden. Eine interessante Fragestellung für die zukünftige Forschung wäre, ob eine positive Korrelation zwischen Narzissmus und einem Lebenslauf besteht, die viele kurze Beschäftigungsverhältnisse beschreibt, die ggf. auch Erfolge beinhalten. Dies könnte bedeuten, dass narzisstische Beschäftigte die Organisation zu Beginn der Enduring Zone verlassen. Zu berücksichtigen wäre jedoch, dass durch die prekäre Situation des Arbeitsmarkts (Breining, 2014) und die ständig verbesserten Arbeitsbedingungen mit Abwerbeinitiativen (Schrader, 2019) durchaus ein Bias entstehen könnte.
Tabelle 1: Übersicht über Nutzen und Kosten des Narzissmus in Enduring- und Emerging-Zone modifiziert nach Campbell & Campbell (2009, p. 219)
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Abb. 2: Ausmaß der Kosten und Nutzen für das narzisstische Individuum und Andere (Eigene Grafik, modifiziert nach Campbell & Campbell (2009, p. 221)
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Einer Metaanalyse von Grijalva (2015, p. 280) folgend, die 31 Jahre Narzissmus- Forschung mit über 355 Arbeiten und 470.00 Versuchspersonen untersuchte, besteht ein konsistenter Geschlechtsunterschied in der Ausprägung narzisstischer Merkmale. Obwohl der Geschlechtsunterschied im Narzissmus von einigen Konventionen als klein angesehen werden könne, wäre er in seiner Größenordnung vergleichbar mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Risikobereitschaft, im Neurotizismus und im Selbstwertgefühl. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Männer im Vergleich zu Frauen eher dazu neigen, andere auszubeuten und zu glauben, dass sie selbst etwas Besonderes sind und daher Anspruch auf Privilegien haben. Der zweitgrößte Geschlechtsunterschied (ebenfalls zugunsten von Männern) betrifft die Leadership-Authoritäts-Facette des Narzissmus. Mit anderen Worten: Männer zeigen im Vergleich zu Frauen mehr Durchsetzungsvermögen, Motivation zur Führung und den Wunsch nach Macht und Autorität über andere.
In Bezug auf das Gesundheitswesen gibt es einige Befunde, die jedoch den Rettungsdienst komplett auslassen. Myers et al. (2018, p. 1) schreiben beispielsweise „Overconfidence has long been noted as a potential problem among doctors, but the practice of surgery has a particular reputation for arrogant, ego oriented behaviours. In a study of personality traits among UK healthcare professionals, surgeons were found to have significantly higher levels of narcissism (a personality characteristic that manifests in egotist, arrogant, or dominant attitudes10) than their non-surgeon colleagues.“
Im weiteren Verlauf beschreiben Sie, dass Chirurginnen und Chirurgen signifikant höhere Narzissmus-Werte aufweisen würden als Ärztinnen und Ärzte andere Fachrichtung und beziehen sich dabei eine Arbeit von Bucknall et al. (2015, p. 1363), die interessanterweise schließen „Health care professionals expressed low levels of dark triad personality traits. The suggestion that health care professionals are avaricious and untrustworthy may be refuted, even for surgeons.“
Fazit: Nach diesem Subkapitel sollte gewahr geworden sein, dass Narzissmus aus vielen Facetten besteht und Nutzen und auch Kosten generieren kann. Die Nutzen für die Organisation scheinen im Vergleich mit den Kosten und Risiken jedoch auf sehr fragilen Beinen zu stehen. Die Kontextabhängigkeit, als wichtiger Punkt im Verständnis des Narzissmus, beschreibt ein dynamisches Geschehen und erklärt Veränderungen im Verhalten von narzisstischen Beschäftigten. Auch hier Bedarf es weiterer Forschung im Rettungsdienst und im Gesundheitssektor allgemein, auch im Hinblick auch die Interaktion narzisstischer Individuen mit Hilfsbedürftigen. In Bezug auf Vorhandensein bzw. Verlauf von Emerging - und Enduring Zone im Rettungsdienst wären Längsschnittsdaten wünschenswert.
2.2.2 Machiavellismus
Namensgeber ist Niccolo Machiavelli, der mit seiner im 16. Jahrhundert erschienene Schrift „Il Principe“ (Machiavelli, 1986, p. N.N.) schwer moralisch verurteilt wurde. Machiavelli beschäftigte sich in diesem Werk mit der Ergreifung und Erhaltung politischer Macht, wobei er eine „Der-Zweck-heiligt-die-Mittel-Politik“ in den Vordergrund stellt, bei der moralische Prinzipien stets dem Selbstzweck des Individuums untergeordnet werden und betrügerische und rücksichtslose Methoden zum Einsatz kommen. Machiavelli beschreibt ein ganzes Arsenal von Taktiken zur Zweckerfüllung, z.B. emotionale Manipulation, Allianzbildung, Einschüchterung, Schmeichelei und ein Eindruckschinden, das heute unter Impression Management (Bourdage et al., 2017, p. 537) bekannt ist und Managementfähigkeiten vortäuschen soll, die entweder nicht vorhanden sind oder aus anderen (z.B. ökonomischen) Gründen nicht eingesetzt werden sollen.
Der daraus entstandene Begriff Machiavellismus beschreibt eine zynische Sicht auf den Menschen, den Glauben an die Wirksamkeit manipulativer Taktiken und eine stark ausgeprägte Orientierung am persönlichen Nutzen (Externbrink & Keil, 2017, p. 10). Eines der gängigsten Diagnostika, der Mach-Fragebogen, wurde von Christie und Geis (1970, pp. 10-34) mit einem Persönlichkeitsfragebogen in Psychologie und Managementlehre übertragen und ist bis heute in überarbeiteter Form gebräuchlich. Mach-IV ist eine 10-Item-Skala, die mit einer 7-stufigen Likert-Skala arbeitet und auf die drei machiavellistischen Dimensionen abzielt (Láng, 2017, p. 2): 1. Interpersonelle Taktiken (z.B. "Der beste Weg, mit Menschen umzugehen, ist ihnen zu sagen, was sie hören wollen"), 2. zynische Ansichten über die menschliche Natur (z.B. "Die meisten Männer vergessen einfacher den Tod ihres Vaters als den Verlust ihres Eigentums") und 3. eine utilitaristische Moral (z.B. "Menschen, die an unheilbaren Krankheiten leiden, sollten die Wahl haben, schmerzlos hingerichtet zu werden“). Der Fragebogen erklärt mit den drei Dimensionen den Kern des Machiavellismus also äußerst zutreffend, weswegen er auch hier Erwähnung findet.
Austin et al. (2007, pp. 186-187) zeigten, dass hohe Mach-Werte, also hohe Werte auf der Mach-IV-Skala, mit emotionaler Intelligenz negativ korreliert waren und wie in früheren Arbeiten (z.B. Jakobowitz & Egan, 2006, pp. 337-338) festgestellt wurde, ebenso mit Agreeableness und Conscientiousness. Mit Agreeableness (Verträglichkeit) und Conscientiousness (Gewissenhaftigkeit) sind die Big-Five-Persönlich- keitsmerkmale gemeint, die bereits von anderen Autoren mit malevolenten Eigenschaften in Bezug gesetzt wurden (z.B. Garcia & González Moraga, 2017, pp. 3845-3845). Ein ebensolches Korrelationsmuster beschreiben die Autoren für hohe Mach-Werte und die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu kontrollieren, wobei dies auf die Emotionen Anderer nicht zuzutreffen scheint. Sprich: Die Kontrolle eigener Emotionen fällt dem machiavellistischen Menschen durchaus schwer, was jedoch nichts an seinen Fähigkeiten ändert, die Emotionen von anderen Menschen zu manipulieren.
Ali & Chamorro-Premuzic (2010, pp. 230-232) zeigten, dass weibliches Geschlecht signifikant mit einem geringeren Machiavellismus-Wert assoziiert war, als männliches Geschlecht. Zu intersexuellen Menschen wurden keine Daten erhoben. Machiavellismus war außerdem hoch mit der primären Psychopathie und mäßig mit der sekundären Psychopathie korreliert, sowie negativ mit Lebenszufriedenheit anhand der Satisfaction with life scale (SWLS). Machiavellismus wurde auch von anderen Forschenden negativ mit Lebenszufriedenheit und Intimität assoziiert, was jedoch nicht überraschend ist, wenn man bedenkt, dass diese Eigenschaft mit negativen Emotionen und einem Mangel an zwischenmenschlichen Affekten in Beziehungen verbunden ist (McHoskey et al., 1998, p. 193).
Für das Arbeitsplatz-Setting im Rettungsdienst scheinen der negativ gestimmte, misstrauische, unterkühlt agierende und taktierende Prototyp des Machiavellismus nicht gerade wünschenswert zu sein. Vielleicht könnte sogar ein Schaden für Hilfsbedürftige, andere Beschäftigte oder die Organisation entstehen. Diese Annahme scheint jedoch zu kurz zu greifen. Collins (2014, pp. 324-327) führte an 76 Studierenden in Gesundheitsmanagement („Health Care Management“) und 86 Studierenden in einem Gesundheitsfachberuf („Patient Care Professionals“) eine Mach-IV- Messung durch, mit der Fragestellung, ob es bezüglich der machiavellistischen Ausprägungen Unterschiede gibt. Hier wurde 15,4% (25) mit hohen Machs (12 aus der Gruppe der Gesundheitsfachberufe und 13 aus der Gruppe der Gesundheitsmanager) und 84,6% (137) als niedrige Machs bewertet (74 aus der Gruppe der Gesundheitsfachberufe und 63 aus der Gruppe der Gesundheitsmanager). Das heißt einerseits waren hohe Machs in beiden Gruppen in gleicher Ausprägung vorhanden und niedrige Machs waren bei den Angehörigen der Gesundheitsfachberufs-Studiengänge mehr vorhanden, als bei den Managern. Andererseits gibt die Arbeit Aufschluss über die Häufigkeit der Verteilung, wobei leider die Grundgesamtheit keine Erwähnung findet. In der Diskussion wird hervorgehoben, dass machiavellistische Ansichten zwar umstritten, jedoch nicht unter allen Umständen untauglich sind. Hier wird mit dem Satz
„Having a low percentage of health care professionals with little to no focus on organizational profits may be as detrimental as having a low percentage with little to no focus on patient care“ (Collins, 2014, p. 326) davon ausgegangen, dass gewinn- und finanzbasierte Interessen und Fähigkeiten für beide Gruppen wichtig sind. So profitiert beispielsweise die Organisation von einer wirtschaftlich stabilen Führung einer Kostenstelle und zumindest sekundär auch Beschäftigte. Der Studie folgend, hätten Organisationen versucht, die Korrupten und Inkompetenten mit einer solchen Rachsucht auszusondern, dass die damit verbundenen Eigenschaften wie Kreativität, Ehrgeiz und Strategieorientierung gleichermaßen strafbar waren. Das eröffnet die bewusst provokativen Fragen: Sind Machiavellisten für die Organisation (oder zumindest Schlüsselpositionen in der Organisation) sogar essentiell? Wie viele Machiavellisten braucht eine Organisation? Zum Nutzen für die Organisation schreibt Collins das Folgende
„High Machs, thought to make decisions based only on their self-interest, may be organizationally beneficial if their self-interests are aimed toward organizational success given that quality patient care linked to overall organizational success.“ (Collins, 2014, p. 326)
Weiterhin könnte eine spannende Frage sein, welche Maßnahmen das machiavellistische Individuum möglichst nah an die Ziele der Organisation anbindet. Zurückkommend zur zitierten Studie schließt die Autorin, dass mit Machiavellismus verbundene Eigenschaften wie Risikobereitschaft, Kreativität und strategische Ausrichtung in größerem Umfang zum Überleben von Organisationen erforderlich sein könnten, als in der Vergangenheit gefordert wurde. Hier werden also zwei Seiten der machiavellistischen Medaille hervorgehoben und gleichzeitig wird thematisiert, dass Fragen wie „Sind machiavellistisch-auffällige Menschen schädlich für die Organisation?“ nicht einfach und dichotom beantwortet werden können.
Bratek et al. (2015, pp. 344-347) folgern aus Ihrer Untersuchung an 509 Medizinstudierenden bzw. Candidates, Medical Trainees, Residents und Specialists in Polen, die anhand eines Mach-IV-Fragebogen befragt wurden, dass das Niveau des Machiavellismus unter den Medizinstudenten relativ hoch ist, jedoch auf den ver- schiedenen Stufen der medizinischen Karriere allmählich abnimmt (siehe Abb. 3 und 5).
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Abb. 3: Machiavellismus - Altersverlauf (Bratek et al., 2015, p. 345)
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Abb. 4: Machiavellismus - Frauen und Männer (Bratek et al., 2015, p. 345)
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Abb. 3: Machiavellismus - Quali fi kationen (Bratek et al., 2015, p. 345)
Hier wurden auch geschlechtsspezifische Unterschiede festgestellt, nämlich das Männer deutlich höhere Machs erreichten als Frauen (siehe Plot in Abb. 4). Intersexuelle Menschen finden auch hier keine Erwähnung.
Als Outcome der vorher zitierten Arbeit von Bratek et al. lässt sich festhalten, dass es eine abflachende Ausprägung der Machs entlang der Studien- bzw. Berufsjahre zu geben scheint. Die Folgerung bezüglich der relativ hohen Machs ist schwierig, da eine breite Vergleichsbasis zwischen den verschiedenen Berufen und Branchen fehlt bzw. inkonsistent zu sein scheint. Auch hier zeigt sich, dass andere Arbeiten mit Vorsicht und im Kontext des Themas zu zitieren sind. Bratek et al. (2015, pp. 1112) beziehen sich recht allgemein auf Wertheim et al. (1978, pp. 134-242), in dem sie schreiben „ Wertheim, Widom, and Wortzel (1978) found that law students showed the highest scores in Machiavellianism in comparison with other occupati- ons.“ In der Arbeit wurden jedoch 37 Jahre vorher lediglich Jura-, Management-, Er- ziehungs- und Social-Work-Studierende vor dem Hintergrund von Karriere-Chance verglichen. Ob diese Folgerungen ins Jahr 2020 übertragbar sind, ist fraglich.
Malik et al. (2016, pp. 12-27) untersuchten kontraproduktives Verhalten am Arbeitsplatz („counterproductive work behaviour“). Im Zuge der quantitativen Arbeit wurden 156 Beschäftigte (42,6% Frauen, 57,4% Männer, Angaben zum dritten Geschlecht fehlen) auf Ebene der Geschäftsleitung, der Aufsichtseben und der Arbeitenden mit einem Mach-IV-Fragebogen befragt, der im Verlauf mit einer verkürzten und getesteten Version der Counterproductive Work Behavior Checklist (Spector & Fox, 2002, pp. 269-288) positiv korreliert wurde (r=0,659, p=0,01), was heißt, dass Individuen mit hochausgeprägten machiavellistischen Merkmalen die Tendenz haben, in kontraproduktives Verhalten am Arbeitsplatz verwickelt zu sein. Sie kamen ferner zum Ergebnis, dass machiavellistische Individuen sich von ethischen Überlegungen frei zu fühlen scheinen, aber sich dennoch nicht immer unethisch verhalten. Die Auswertung zeigt, dass sich Menschen mit hohen Machs auf unethische Praktiken am Arbeitsplatz einlassen um extrinsische Belohnungen wie Status, Autorität und Macht zu erhalten, die Präferenz für kontraproduktives Arbeitsverhalten auf weniger intensives Verhalten beschränkt ist und dass keine Neigung zu schwererem kontraproduktivem Arbeitsverhalten wie Diebstahl, Sabotage, Produktionsabweichungen und Rückzug von der Arbeit besteht. Die Autoren definierten hier Missbrauch im Sinne von Abuse, also „harmful and nasty behaviors that a ect other people“, als weniger invasives Verhalten. Auch hier ist eine Limitation, dass ein Self-Report ein gewisses Bias-Risiko durch sozial erwünschte Antworten aufweist. Auffällig ist auch der hohe Anteil von Befragten mit hohen Machs (75%).
Ein interessanter Punkt ist, dass die organisationswissenschaftliche Forschung dazu tendiert hat, prosoziales Verhalten als ein positives Ergebnis darzustellen, das in Organisationen gefördert werden sollte. Dieses prosoziale Verhalten wurde jedoch sehr einseitig ausgelegt. Erst in jüngster Zeit haben Forschende jedoch begonnen, prosoziales Verhalten anzuerkennen, das zwar dazu beiträgt, das positive Image einer Organisation auf eine Weise aufrechtzuerhalten, aber gleichzeitig gegen ethische Normen verstößt (Castille et al., 2018, pp. 1-10). Die eben zitierten Forschenden beschäftigen sich in diesem Zuge mit unethischen, prosozialen Verhaltensweisen, wobei „prosozial“ in diesem Kontext auf die Organisation bezogen ist. Zusammenfassend ist das interessante Outcome der Arbeit, dass Machiavellis- ten im Sinne der ausgeprägten Fähigkeit zur amoralischen Manipulation rationale Opportunisten sind, die ohne moralischen Kompass bereit sind, die Interessen ihrer Organisation zu schützen, wenn auch auf unethische Weise. Auch hier zeigt sich die Multidimensionalität von Persönlichkeitsausprägungen bzw. die Resultate dieser Ausprägungen im organisationalen Setting.
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