Wie gestalte ich personenzentrierte Übergänge im Wohntraining?

Entwurf einer möglichen Herangehensweise


Facharbeit (Schule), 2019

30 Seiten, Note: 1

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Begründung des Themas
1.2 Bezug zu meiner Praxis
1.3 Ziel dieser Facharbeit

2. Begriffliche und theoretische Grundlagen
2.1 Personenzentrierung - Das Fundament
2.2 Aktualisie rungstendenz als Konsequenz
2.3 Übergänge
2.4 Wohntraining
2.5 Bezugsbetreuung: Definition und Abgrenzung

3. Praxisteil
3.1 Vorbereitung
3.1.1 professionelle Beziehung als Voraussetzung
3.1.2 emotionale Stabilität und Motivation
3.1.3 technische und organisatorische Faktoren
3.1.3.1 Die Organisation
3.1.3.2 Das Belegungsmanagement
3.1.3.3 Fachdienste
3.1.3.4 Dienstplan
3.1.3.5 Team
3.1.4 “Rama Dama“ & das alte Leben in die Kiste packen
3.1.5 Die Abschiedsfeier
3.2 Umzug
3.2.1 Der Tag X und die erste Nacht
3.2.3 Ein guter Einstand
3.3 Danach
3.3.1 Das neue Leben in neuen Bahnen
3.3.2 Angekommen und angenommen? - Die neuen Rollen

4. Fazit

5. Literatur- und Quellenverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Begründung des Themas

Herz und Verstand sagen mir, dass es nur dingbar ist, einen Menschen mit Hilfe­bedarf so zu begleiten, dass er selbstbestimmt und unter Mitsprache bei der Ge­staltung seiner eigenen Zukunft einen harmonischen Übergang in seine nächste Lebensphase geht.

Der „personenzentrierte Ansatz“ nach Carl Rogers erscheint mir hier die beste Möglichkeit zu sein, den Aufwand an Bewältigung und Anpassung bei diesem wahrscheinlich „kritischen Lebensereignis“ erheblich zu verringern und drohende negative Auswirkungen, wie Frust, Angst und Haltlosigkeit zu reduzieren, besser noch, ganz zu verhindern. Stellt doch gerade der Beginn dieses neuen Lebens­abschnitts eine enorme Anforderung an unseren Teilnehmer und die Anpassung an seine neue Rolle fordert danach eventuell mehr von ihm, als ihm vorher bewusst war.

1.2 Bezug zu meiner Praxis

Sämtliche Fragen, Eindrücke, Behauptungen und Bedenken resultieren aus meiner Tätigkeit im Wohntraining der Lebenshilfe XY. Als Mitarbeiter in Ausbildung zum Heilerziehungspfleger habe ich hier aktiv und unmittelbar mit den Ein- und Auszügen unserer Bewohner zu tun.

Das Konzept der Einrichtung sowie Vorgaben vom Bezirk Oberbayern erlauben unseren Trainingsteilnehmern eine maximale Wohn- und Trainingsdauer von fünf Jahren bis zum Wiederauszug. Bei insgesamt 20 Trainierenden findet somit ein ständiges Kommen und Gehen statt.

1.3 Ziel dieser Facharbeit

In der vorliegenden Arbeit geht es darum, einen Betreuungsleitfaden anzubieten. Dieser soll dabei helfen, Übergänge von Bewohnern, die aus dem Elternhaus, einem Wohnheim oder einer anderen Wohnform, in das Wohntraining ziehen, im Sinne des Leitbildes der Lebenshilfe XY zu gestalten. In gleichem Maße kann es den Auszug derer begleiten. Diese Arbeit hat die Absicht eine Inspirationsquelle zu sein und bietet die Diskussionsgrundlage als Alternative oder ergänzende Idee zu bisherigen Prozessen.

2. Begriffliche und theoretische Grundlagen

2.1 Personenzentrierung - Das Fundament

Vorweg muss geklärt sein, dass „personenzentriert“ nicht heißt, eine Person losgelöst von ihrem Umfeld zu betrachten und auftretende Schwierigkeiten aus­schließlich auf sie selbst zurückzuführen. Es besteht die große Gefahr, Menschen ohne das ihnen zugehörige Umfeld zu sehen, noch mehr aber, wenn es sich um Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Störung handelt. Diese Menschen erscheinen manchmal schwierig und es können Probleme auftreten. Sodann werden die Personen aber selbst zum Problem gemacht und das sollte nicht sein. Viele andere Faktoren, nicht nur die Person selbst, müssen hier in Betracht gezogen werden, wenn wir nach Ursachen und Lösungen für sogenan­ntes „Problemverhalten“ suchen.1

Ein Lösung kann man hierfür in der humanistischen Psychologie finden. Diese sieht in Jedem eine eigenständige, in sich wertvolle Persönlichkeit und respektiert die Verschiedenartigkeit der Menschen. Keine zwei Personen sind gleich, auch nicht zwei mit der gleichen Beeinträchtigung oder dem gleichen Krankheitsbild.

„Ein humanistisches Menschenbild geht davon aus, dass jeder Mensch grundsätzlich auf Selbstaktualisierung und Wachstum angelegt und zu Veränderung und Problemlösung fähig ist. Diese Fähigkeiten können jedoch verschüttet oder beeinträchtigt sein, z.B. durch Entwicklungsstörungen, traumatische Erlebnisse, mangelnde Förderung, Krankheit, Alterungsprozess, Behinderung.“2

Dieser individuellen Verschiedenartigkeit entsprechen vielfältige und ganz unter­schiedliche Möglichkeiten, das Leben zu bewältigen. Im Grunde wissen nicht wir, was für den Anderen wirklich gut ist, sondern am allerbesten die Person selbst. Und weil die wenigsten direkten Zugang dazu haben, ist es die Aufgabe des Bezugsbetreuers, diese versteckten Ressourcen ausfindig zu machen und zu fördern.

Personenzentriert arbeiten heisst also, andere Menschen in ihrer ganz persönlich­en Eigenart ernst nehmen, versuchen ihre Ausdrucksweise zu verstehen und sie dabei unterstützen, eigene Wege zu finden, um - innerhalb ihrer begrenzten Mög­lichkeiten - angemessen mit der Realität umzugehen.

Personenzentriert arbeiten bedeutet aber auch, mit den betroffenen Personen, nicht für sie Probleme lösen, Projekte entwickeln, Entscheidungen treffen; das heißt, ihre unterschiedlichen Fähigkeiten, Bedürfnisse und Ansichten berücksich­tigen und einbeziehen und ihnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten Selbstverant­wortung zutrauen.

Personenzentriert arbeiten heißt ebenso, die Ressourcen eines Organismus - sei das nun eine Person oder eine Gemeinschaft - wahrnehmen und fördern sowie als Person wahrnehmbar zu sein. Dazu gehört die Bereitschaft, sich mit dem eigenen Anteil an einer Situation auseinander zu setzen.

Und es heißt auch, den Bezugsrahmen klar erkennen. Da ist einerseits der gege­bene Rahmen der Institution, der finanziellen Mittel, der jeweiligen Kompetenzen usw., der berücksichtigt und für alle Beteiligten transparent gemacht werden muss. Andererseits ist es notwendig, einen Rahmen zu setzen, damit Ressourcen frei werden und Fähigkeiten sich entwickeln können. Den geeigneten Rahmen zu erkennen und zur Verfügung zu stellen, ist ein zentraler Aspekt personenzen­trierter Arbeit mit Menschen, die in irgendeiner Form Betreuung oder Begleitung brauchen.3

Carl Rogers hat drei allgemeine Grundlagen zu hilfreichen, menschlichen Beziehungen formuliert, die eine Atmosphäre positiver Wertschätzung schaffen und dem Anderen die Möglichkeit zur Entwicklung bieten und die Marlis Pörtner so beschreibt:

- Empathie (oder einfühlendes Verstehen) ist das Bestreben, das Erleben und die Gefühle des Gegenübers genau und sensibel zu erfassen, mich in seinen inneren und äußeren Bezugsrahmen so einzufühlen, als ob ich der andere wäre, und dennoch nie außer acht zu lassen, daß ich ich selbst und nicht der andere bin. Empathie ist nicht Identifikation. Einfühlendes Verstehen dient nicht dazu, das Gegenüber zu interpretieren oder einzuordnen, sondern ist ein Versuch, sich möglichst genau in sein Erleben und in seine Welt hineinzuversetzen. Die Erfahrung, verstanden zu werden, ist an sich schon entwicklungsfördernd.
- Wertschätzung (oder nicht-wertendes Akzeptieren) bedeutet, daß ich mein Gegenüber ohne zu werten akzeptiere, als ganze Person, so wie sie im Augenblick ist, mit all ihren Schwierigkeiten und Möglichkeiten.
- Kongruenz (oder Echtheit) heißt, daß mir meine eigenes Erleben bewußt ist und ich es trennen kann von dem, was ich beim Gegenüber wahrnehme. Kongruenz heißt, dem anderen Menschen als Person begegnen und sich nicht hinter einer professionellen Maske verstecken. Das erfordert, daß ich meine

Gefühle, Impulse und Eindrücke zulasse und akzeptiere, aber nicht, daß ich sie dem anderen Menschen in jedem Fall ungefiltert an den Kopf werfe. Ich muß abschätzen können, wann es im Rahmen meiner Aufgabe sinnvoll ist, meine Gefühle mitzuteilen und wann nicht. Zur Kongruenz gehört auch, daß die Rahmenbedingungen der jeweiligen Situation klar und für alle Beteiligten durch­schaubar sind.4

Das Arbeiten mit Menschen ist für mich generell ein sehr hohes Gut. Personenzentriertes Arbeiten ist dann zusätzlich eine wundervolle Möglichkeit, speziell den Menschen mit Unterstützungsbedarf nicht als zu bearbeitendes Objekt, sondern durch Wertschätzung und einfühlendem Verstehen, vollkommen gleichwertig mit allen Anderen zu erfahren. Eine Win-win-Situation entsteht.

Es ist sinnvoll, besonders unter dem Kollegium viel mehr und (immer) öfter entschieden über das Thema Personenzentrierung zu sprechen. Zu sehr ist man in alten Strukturen verhaftet und läßt dadurch wertvolle Entwicklungsmöglichkeiten für den Bewohner vergehen.

2.2 Aktualisierungstendenz als Konsequenz

Rogers Hypothese besagt, daß das Individuum über Möglichkeiten verfügt, um „sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte, seine Grundeinstellungen und sein selbstgesteuertes Verhalten zu verändern.“5

Was meint er damit?

Im Laufe des Lebens entwickelt sich ein Selbstkonzept des Organismus, welches man als „Kondensat oder Verdichtung“6 aller subjektiven Erfahrungen im Leben über die eigenen Person beschreiben kann.

Das „Self-as-object“ meint dabei die Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Einschät­zung der eigenen Person, also, wie eine Person über sich als selbst denkendes, erinnerndes und wahrnehmendes Objekt denkt.

Das „Self-as-process“ meint dabei mehr das Selbst als aktiv handelndes Element, als handelnde Person.

Rogers versteht das Selbst also nicht wie Freud als eine innere Instanz, sondern als das Objekt psychischer Prozesse wie Denken, Erinnern und Wahrnehmen. Ort dieser Prozesse ist die über den Organismus erfahrene Wirklichkeit, das „phäno­menale Feld“, welches ein individueller Bezugsrahmen ist und welches nur das Individuum selbst kennt.7

Der Mensch als eine Anhäufung von Erfahrungen des Lebens - von [...] [sämtlichen Wahrnehmungen] als Interaktionen mit der Umwelt - ist somit das Selbst. Dieses Selbst ist die Prüfungsinstanz zwischen subjektiver und objektiver Wirklichkeit. Es muß also zwischen „Innen“ und „Außen“ vergleichen und was viel schwieriger ist, auch unterscheiden können. Dabei ist es doch immer bestrebt, seine integrierte innere Struktur aufrecht zu erhalten.

Dies geht sogar soweit, daß, auch wenn sich eine Person in ihrer Persönlichkeit immer weiter von der Realität entfernt, doch versucht wird, die innere Ordnung aufrecht zu erhalten - also einen Zustand innerer Übereinstimmung mit dem Selbstbild beizubehalten. Dieses Bestreben des Organismus bezeichnet man als Selbst-Konsistenz.

Hierbei bewertet sich das Individuum in seinem Verhalten und seinem Selbst­konzept schließlich, unabhängig von der Außenwelt, selbst - verschönt somit das Bild, das es von sich selber hat. „Diese Selbst-Wertschätzung ist die psycho­logische Grundlage seiner Existenz und die Erfahrungen werden so organisiert, daß dieses bestehende Wertesystem nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann.“8 Verhalten und Selbstkonzept sind also konsistent - stimmen überein.

Rogers unterscheidet zwischen drei Arten von Übereinstimmung und Nichtüber­einstimmung die durch dieses „Verhalten“ zustande kommen können:

- zwischen dem Selbst, wie es vom Individuum wahrgenommen wird und dem konkreten organismischen Erleben (Konsistenz)
- zwischen der subjektiven Wirklichkeit des phänomenalen Feldes und der „tat­sächlichen“ Realität der äußeren Welt
- zwischen dem tatsächlichen und dem gewünschten Selbst. Ein Selbstkonzept, „wich the individual would most likely posess [sic!], upon which he places the highest value for himself. In all another [sic!] respects it is defined in the same way as the self-concept.“9 /10

Durch ungünstige Lernprozesse kann es also dazu kommen, daß neue Erfah­rungen nicht mehr in das Selbstkonzept integriert werden können.

Man kann es auch so umschreiben, daß die Person unter ungünstigen Umständen ihren eigenen neuen Erfahrungen und Wahrnehmungen nicht mehr vertraut oder ganz einfach „außen vor“ läßt. Denn die neuen Erfahrungen werden dem Bewußtsein vorenthalten, damit Selbst-Konzept und bestehende Erfahrungen weiterhin konsistent bleiben - denn eine Inkongruenz wäre wiederum eine Bedro­hung der Selbst-Konsistenz an sich.

Die hieraus folgende Diskrepanz oder eigentliche Inkongruenz zwischen der Selbst-Wahrnehmung und den neuen Erfahrungen stellt aber eine Bedrohung für den Menschen dar, wenn sie nicht durch Symbolisierung in dessen Bewußtsein dringen kann.

Denn dies alles hat zur Folge, daß es nun einen Widerspruch zwischen Selbstkon­zept und dem äußeren Erleben gibt. Organismus und Selbst streben in unter­schiedliche Richtungen.

Ängste, Schuldgefühle, Selbstabwertung und Abwehrhaltungen (also negative de­fensive Prozesse) den neuen Erfahrungen gegenüber sind die Folge.11

Nach Rogers Auffassung ist dieses dem Organismus aber zuwider.

Dem Organismus wohnt nämlich eine Tendenz inne, die danach strebt, sich zum Positiven hin zu entwickeln - kongruent zu sein. Diese Positiva sind Ziele wie etwa Gesundheit, körperliches und seelisches Wachstum, Selbstverantwortlichkeit und weitere Bedürfnisbefriedigungen. Dieses lebenslange Streben findet aber, wie oben beschrieben, statt in einem [...] Spannungsfeld zwischen Autonomie und Anpassung, Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Integration und Differenzierung.

Bei dieser Aktualisierung hin zum [.] [Positiven], macht der Organismus also subjektive Erfahrungen, denn er steht in einem individuellen Kontext zu seiner Außenwelt. Diese individuellen Erfahrungen, Eindrücke und Reize werden vom Organismus bewertet und zwar hinsichtlich ihres positiven Nutzens für die Aktualisierung hin zum Positiven, zur Vervollkommnung - zur Selbstverwirk­lichung.

Diese Aktualisierungstendenz hin zur „wahren“ Selbstverwirklichung geschieht aber nur unter günstigen äußeren Umständen, wie bei der Personenzentrierung [und dem Empowerment].12

Auch Menschen mit einer Beeinträchtigung, und sei sie noch so schwer oder schwerwiegend, wohnt diese Tendenz zur Selbstaktualisierung inne. Fachleute sind oft einfach zu "blind", um sie zu bemerken bzw. hindern die Person daran. In dieser Hinsicht sind Viele zu befangen durch die heilpädagogische, zielorientierte Sichtweise. Da muß dann ein Bewohner zählen lernen, weil wir meinen, das gehört dazu, um sich in der Welt zurecht zu finden. Aber vielleicht wird er genau mit dieser gut gemeinten Maßnahme daran gehindert, sich zu entwickeln und eigene Möglichkeiten zu finden, sich in der komplexen Umwelt mit ihren Anforderungen zu orientieren.

2.3 Übergänge

Als „Übergänge“ oder „Transitionen“ werden Ereignisse bezeichnet, die für die Be­troffenen bedeutsame Veränderungen mit sich bringen.

Transitionsforscher sprechen auch von „verdichteten Entwicklungsanforderungen“ und meinen damit, dass auf diejenigen, die in einen Transitionsprozess eintreten, in einem gedrängten Zeitrahmen viel Neues einströmt, auf das sie reagieren müssen, und zwar mit intensiven und beschleunigten Lernprozessen.

Risiken und Chancen sind in diesem Prozess Schlüsselbegriffe, denn Anforderun­gen und auch Krisen können zu Überforderungen führen. Sie können aber auch als Entwicklungsimpulse, d.h. als Auslöser für Entwicklungsprozesse wirken, wenn sie im günstigsten Falle als Herausforderung erlebt werden.

Es ist leicht nachvollziehbar, dass unter verdichteten Entwicklungsanforderungen Stärken und Schwächen der Betroffenen erkennbar werden, aber auch, dass eine gute Vorbereitung und eine gute Begleitung in diesem Prozess entscheidend zur Bewältigung beitragen können.

Mit dem Begriff „Transitionen“ soll deutlich gemacht werden, dass es sich um ein wissenschaftlich fundiertes entwicklungs- und familien-psychologisches Konzept handelt, das sich vom alltagssprachlichen „Übergang“ unterscheidet. Auch wenn die Begriffe „Übergang“ und „Transition“ gleichberechtigt im fachlichen Sinne verwendet werden, ist es doch wichtig zu wissen, dass mit Übergängen im Sinne von „Transitionen“ bestimmte theoretische Vorgaben und wissenschaftliche Er­kenntnisse verbunden sind.13

Der französische Ethnologe Arnold van Gennep14 war vor gut hundert Jahren einer der ersten, der darüber reflektiert hatte, wie Menschen ihre Übergänge wahrneh­men und leben. Er hatte in verschiedenen Kulturen beobachtet, wie Übergänge rituell gestaltet werden. Rituale helfen den Menschen, lebensgeschichtlich einschneidende Übergänge zu durchleben. Dazu gehören Begrüssungsrituale von Neugeborenen, Initiationsfeiern von Jugendlichen, Hochzeits- und Bestattungs­rituale. Ausgehend von diesen ethnologischen Beobachtungen hat er Strukturen herausgearbeitet, in welchen sich solche Übergänge vollziehen. Diese Muster geben auch heute Orientierung, wenn es darum geht Übergänge wahrzunehmen, zu gestalten und zu leben.

Van Gennep unterscheidet bei einem Übergang drei Phasen: Er beschreibt eine Ablösungsphase, eine Zwischen- oder Umwandlungsphase und eine Wieder­angliederungsphase. Damit benennt er die wichtigsten Elemente, die es bei einem Übergang zu gestalten gilt.

Ablösungsphase:

Jeder Übergang beginnt im „Alten und Vertrauten“ und bedeutet einmal sich zu lösen und Abschied zu nehmen. Abschied nehmen und die entsprechende Trauerarbeit gehören zum Übergang. Sich lösen von „Altem“ ist aber nicht nur mit Trauer verbunden, manchmal macht sich die ganze Gefühlspalette bemerkbar. Oft gehört eine Portion Wut dazu: Wut als Energieelement eine Veränderung einzu­leiten; einzustehen für das, was mir wichtig ist und mich mit dem „Alten“ nicht mehr zufriedenzugeben. Oft ist dieser Ablösungsprozess auch von Angst begleitet, denn ich weiss ja noch nicht, wo mich das „Neue“ hinführen wird. Vielleicht bin ich auch erleichtert, dass das „Alte“ nicht mehr sein wird und zugleich vermisse ich das „Alte“ und „Vertraute“ - so mischen sich Freude und Trauer.

Zwischen- oder Umwandlungsphase:

Wenn ich zu einem Übergang aufbreche und die Zelte abgebrochen habe, dann bin ich noch nicht am neuen Ort. Ich bin also noch nicht im „Neuen“, aber auch nicht mehr im „Alten“. Zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“ scheint es eine Art Zwischenbereich zu geben: der Bereich des „nicht mehr“ und des „noch nicht“. Unsere französischen Nachbarn sprechen vom „l'entre-deux“, dem „Ort dazwisch­en“. Oft ist dies der Ort der Wandlung, weshalb van Gennep auch von der Umwandlungsphase spricht: was im „Alten“ funktioniert, wird im „Neuen“ nicht mehr tauglich sein. Ich muss mich verändern. Gleichzeitig werde ich durch den Übergang auch selbst verwandelt. Dieser Zwischenbereich wird oft als Bedrohung wahrgenommen: meine Identität steht auf dem Spiel. Ich möchte in dem Moment wieder zurück zu dem als sicher erlebten Ausgangspunkt. Es ist einer der wich­tigsten Momente eines gelingenden Übergangs, diesen Moment der Verunsich­erung und der Gefährdung zu durchschreiten, ich möchte fast sagen: zu überleben. Auch das Durchleben dieser Phase wird von einer breiten Gefühlspalette begleitet.

Wiederangliederungsphase:

Wenn ich den Prozess der Umwandlung durchlebt habe, wenn ich den Übergang „überlebt“ habe, geht es als Nächstes darum, sich im „Neuen“ einzufinden, seinen neuen Platz einzunehmen, mit der neuen Identität leben zu lernen. Erst in diesem Moment wird die Veränderung sicht- bzw. spürbar, erst jetzt wird manifest, was ich vorher geahnt habe. Jetzt bin ich im „Neuen“: verändert, gereift, geläutert. Dieses sich im „Neuen einfinden“ braucht seine Zeit und Kraft. Und auch hier gilt: noch einmal wird das ganze Gefühlsspektrum durchlebt, so dass ich mich im „Neuen“ verankern und heimisch werden kann.

Zu diesem „Vor-etwas-Unbekanntem-stehen“ gehört auch existenzielle Angst. Diese Angst zu überwinden braucht Mut. Mut ist somit ein entscheidendes Element, damit Übergänge gelingen, sonst bleibe ich schon vor dem Übergang stehen oder im Übergang selber stecken. Rollo May, ein Mitbegründer der existenziellen Psychotherapie, umschreibt die Situation so: „Wir sind aufgerufen, etwas Neues zu tun, uns einem Niemandsland zu stellen, in einen Wald vorzudringen, in dem es keine ausgetretenen Pfade gibt und aus dem noch niemand zurückgekehrt ist, der uns leiten könnte. Dies ist, was die Existenzialisten als die Angst vor dem Nichts bezeichnen. In die Zukunft hineinzuleben, bedeutet in das Unbekannte hineinzuspringen, und dies fordert ein Ausmass an Mut, für das es keinen unmittelbaren Präzedenzfall gibt und dessen sich wenige Menschen bewusst sind.

Dieser Mut muss aus dem Herzen des Menschen wachsen. Das französische Wort für „Mut“, „Courage“ ist etymologisch mit „Coeur“, deutsch „Herz“, verwandt. Mutig sein heisst also, mit dem Herzen dabei sein, beherzt das Leben wagen. Das Leben wagen bedeutet eben auch, sich die Übergänge zuzumuten. Ohne diesen Mut kommt es zu einem Lebensstillstand. Transaktionsanalytisch ausgedrückt heisst das: Es braucht im Übergang Mut, den sich gegen jede Veränderung sträu­benden Skriptbotschaften ein Stück Autonomie abzugewinnen.

Damit Übergänge gelingen und Mut in die Kraft kommt, brauchen sie eine „Gestalt“. In allen Kulturen und Religionen wurden und werden die grossen lebensgeschichtlichen Übergänge durch Rituale gestaltet. In vielfältigen Formen werden die verschiedenen Phasen eines Übergangs zelebriert und gefeiert. Diese Festzeiten sind Unterbrüche im normalen Lebensablauf, sie werden oft als etwas Besonderes hervorgehoben. Namentlich die Umwandlungsphase wird mannigfal­tig mit besonderen Handlungen, Vorschriften (wie Fasten, Kleiderregeln, Abson­derung) und Geschichten gestaltet.

[...]


1 vgl. M. PÖRTNER (2008): Ernstnehmen Zutrauen Verstehen. Personenzentrierte Haltung im Umgang mit geistig behinderten und pflegebedürftigen Menschen. 6. überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta, S.18

2 M. PÖRTNER (1999), Vortrag 5.11.99 in Kassel, Arbeitstagung der DGSGB, o.S. 4 von 30

3 M. PÖRTNER (2008), S. 20

4 M. PÖRTNER (2008), S. 29

5 C. ROGERS (1981): Der neue Mensch. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 66

6 vgl. VGL. A. HEIGL-EVERS/F. HEIGL/J. OTT/U. RÜGER (1997): nach https://www.carlrogers.de persoenlichkeitstheorie-selbstverwirklichung-aktualisierungstendenz-universelle-formative- tendenz.html

7 vgl. H. QUITMANN (1996): nach https://www.carlrogers.de/persoenlichkeitstheorie- selbstverwirklichung-aktualisierungstendenz-universelle-formative-tendenz.html (Stand: 15.02.2019)

8 H. QUITMANN 1996

9 sinngemäß übersetzt: „Ein Selbstkonzept, welches das Individuum höchstwahrscheinlich besitzen würde, worauf es den höchsten Wert für sich selbst legt. Ansonsten ist es genauso definiert wie das Selbstkonzept.“

10 H. QUITMANN 1996

11 H. QUITMANN (1996)

12 vgl. https://www.carlrogers.de/persoenlichkeitstheorie-selbstverwirklichung-aktualisierungs tendenz-universelle-formative-tendenz.html (Stand: 15.02.2019)

13 W. GRIEBEL & R NIESEL (2011): Übergänge verstehen und begleiten. Transitionen in der Bildungslaufbahn von Kindern, Berlin: CornelsenScriptor, S. 176

14 Französischer Ethnologe, bekannt durch Arbeiten über sogenannte „Übergangsriten“ 9 von 30

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Wie gestalte ich personenzentrierte Übergänge im Wohntraining?
Untertitel
Entwurf einer möglichen Herangehensweise
Hochschule
Akademie Schönbrunn  (Fachschule für Heilerziehungspflege der Akademie Schönbrunn am Standort Gut Häusern)
Veranstaltung
Praxis- und Methodenlehre
Note
1
Jahr
2019
Seiten
30
Katalognummer
V539570
ISBN (eBook)
9783346152367
ISBN (Buch)
9783346152374
Sprache
Deutsch
Schlagworte
übergänge, entwurf, herangehensweise, wohntraining
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Wie gestalte ich personenzentrierte Übergänge im Wohntraining?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539570

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