Pädagogische Entwicklungen in der Migrationsdebatte


Bachelorarbeit, 2015

44 Seiten, Note: 2

Anonym


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Rückblick zur Migration in Deutschland
2.1 Arbeitsmigration
2.2 Aussiedlermigration
2.3 Flüchtlingsmigration

3. Der pädagogische Umgang mit Migrations- Anderen
3.1 Institution Schule vor der modernen Migration
3.2 Ausländerpädagogik
3.3 Klassische Interkulturelle Pädagogik
3.4 Antidiskriminierungspädagogik
3.5 Migrationspädagogik

4. Kritikpunkte aus rassismuskritischer Perspektive
4.1 Rassismuskritik
4.2 Kritik an der Ausländerpädagogik
4.3 Kritik an der klassischen Interkulturellen Pädagogik
4.4 Kritik an der Antidiskriminierungspädagogik

5. Schule heute: Perspektivenwechsel oder Zirkularität?
5.1 Seiteneinsteigerklassen
5.2 Umgang mit Herkunftssprache

6. Fazit und Ausblick

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Welt verändert sich. Prozesse der Globalisierung und Internationalisierung sind in allen Bereichen zu erkennen. Die internationale Verflechtung vollzieht sich in einem schnellen Tempo. Einen wichtigen Antrieb stellt dabei die Migration dar. Unterschiedliche Kulturen, Sprachen und Lebensstile treffen aufeinander. Es entstehen vermischte Lebensweisen mit einem erweiterten Horizont. Auch wenn noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts der Gedanke, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, bewahrt wurde, wird allmählich jedoch klar und deutlich, dass das Phänomen der Migration unvermeidbar ist. (Mecheril 2010: 9) Ganz im Gegenteil wird sogar in Debatten geäußert, dass Deutschland Migranten aus ökonomischen Gründen braucht. (ebd.: 9)

Ein Blick aus dem Fenster oder die tägliche Fahrt mit dem Zug verdeutlichen diese Tatsache. Eine multikulturelle Gesellschaft mit einer steigenden Tendenz manifestiert sich. Am ehesten verdeutlicht wahrscheinlich ein Besuch in einer Schule diesen Umstand. So haben etwa 30% der Schülerinnen und Schüler in Deutschland laut dem Mikrozensus von 2011 Migrationserfahrungen. (Leiprecht/Steinbach 2015: 14) Dadurch wird klar, dass die Heterogenität mittlerweile auch in den Schulen gegenwärtig ist. Allerdings ist zu hinterfragen, ob die Schule der Heterogenität gerecht wird. Denn in gewisser Weise zählt eine erfolgreiche Integration zu den Zielen der Institution Schule. Die Schule bildet in diesem Sinne den Ausgangspunkt: eine nachhaltige Förderung der Kinder mit Migrationserfahrungen ist erforderlich, um eine reibungslose Integration in die Gesellschaft gewährleisten zu können. Zumal ist das Phänomen der Migration in Deutschland nicht erst seit den letzten zehn Jahren präsent, sondern hat die letzten 60 Jahre Deutschland geprägt. So wurden in der Migrationsdebatte unterschiedliche pädagogische Richtungen eingeschlagen, um dieser gerecht zu werden. Unterschiedliche Meinungen und Ansichten haben das Bild der Schule im Bezug zur Heterogenität geprägt sowie gezerrt.

So stellt sich die Frage, wie sich die Institution Schule über die Jahre hinweg entwickelt hat und inwiefern die Schule auf mögliche altbewährte Systeme zurückgreift. Konnte sich durch die verschiedenen pädagogischen Strömungen eine zukunftsorientierte Grundlage etablieren, oder sind Sichtweisen, die die Migration nicht als „Normalfall“ betrachten, gegenwärtig. (ebd.: 7) Dementsprechend werden im Folgenden zunächst die Anfänge der Migration und deren Folgen beleuchtet, um anschließend die pädagogischen Themenfelder zu betrachten und aus einer rassismuskritischen Perspektive zu diskutieren.

2. Rückblick zur Migration in Deutschland

Die gesellschaftliche als auch soziale Wirklichkeit Deutschlands ist grundlegend durch das Phänomen der Migration geprägt. (Mecheril 2010: 7) Dabei ist es falsch, die Anfänge der Migrationsprozesse an das Ende des zweiten Weltkrieges zu setzen. So hat Deutschland schon im späten 19.Jahrhundert durch starke Auswanderungen als eines der wichtigsten europäischen Emigrationsländer fungiert. (Mecheril/Varela 2010: 23) Allerdings haben sich im Laufe der Zeit die Dimensionen der Migrationsprozesse stark verändert und dazu beigetragen, sich explizit mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Denn die Folgen und Konsequenzen von Desinteresse und Ignoranz gegenüber dem Thema der Migration lassen sich auf jeder Ebene, sei es gesellschaftlich, sozial, pädagogisch oder politisch, spüren. (ebd.: 23f).

Nach dem zweiten Weltkrieg lässt sich in Deutschland eine beeindruckende Einwanderung verzeichnen, deren Spuren bis heute erkennbar sind. Mehrere Millionen Menschen sind in die BRD eingewandert, getrieben von unterschiedlichen Motiven und Anlässen. Um diese Wanderprozesse besser nachvollziehen zu können, lässt sich die Migration nach Deutschland ab 1949 durch drei Migrationswellen typisieren, auf die im Folgenden explizit eingegangen wird.

2.1 Arbeitsmigration

Nach dem zweiten Weltkrieg herrschte in der BRD ein extrem hoher Mangel an Arbeitskräften. Aus eigener Kraft schien es unmöglich, die deutsche Wirtschaft neu zu beleben und anzukurbeln. Aus diesem Grund wurden nach und nach Arbeitsabkommen mit den verschiedensten Ländern unterzeichnet; so 1955 mit Italien, später mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Tunesien, Marokko und letztlich mit Jugoslawien im Jahre 1968. (Seitz 2006: 10) Ausländische Arbeitskräfte waren hierbei willkommen, da sie auch schlechte, zum Teil unangenehme Arbeitsbedingungen in Kauf nahmen. Zu Beginn erhielten die Arbeitskräfte eine einjährige Arbeitserlaubnis. Diese Idee wurde aus zwei Standpunkten begründet: Zum einen sollten die ausländischen Arbeitskräfte sich nicht einleben und niederlassen und zum anderen sollten nach dem Rotationsprinzip die Arbeitskräfte nach einem Jahr ausgetauscht werden. (Mecheril/Varela 2010: 28) Allerdings entpuppte sich das Rotationsprinzip für die Arbeitgeber als zu kostspielig, immer wieder kurzfristige Arbeitskräfte anzulernen, sodass 1964 das Prinzip abgeschafft wurde. Auch wenn ausländische Arbeitskräfte stark begehrt waren, so wurden sie dennoch von der deutschen Bevölkerung abgegrenzt und isoliert. Untergebracht wurden die Arbeitskräfte meist in Baracken nahe der Fabrik. Deutschkurse zählten zur Seltenheit oder mussten auf eigene Kosten bezahlt werden. (Mecheril/Varela 2010: 29) Zu dieser Zeit gab es keinerlei integrationsorientierte Aktivitäten und Bemühungen, sodass lediglich ein Arbeitsverhältnis beabsichtigt wurde. Durch die Ölkrise 1973 wurde dann in Deutschland ein Anwerbestopp beschlossen. In Folge dessen brachten viele ihre Familien nach Deutschland, sodass die Zahl der Migranten kontinuierlich anstieg. (Mecheril/Varela 2010: 30)

2.2 Aussiedlermigration

Die Einwanderung der Aussiedler charakterisiert eine weitere Welle der Migration nach Deutschland. Nicht zuletzt durch den Mauerfall und durch schlechte Lebensumstände, verbunden mit Unterdrückungen, sind sehr viele Aussiedler wieder nach Deutschland eingewandert. Mit Aussiedlern sind Nachkommen deutschsprachiger Siedler gemeint, die schon viele Jahre zuvor, aus Gründen der Unterdrückung und Armut, nach Osteuropa ausgewandert sind und dort ihre Kultur weitergelebt haben. (Seitz 2006: 13) Da es sich bei den Aussiedlern um Deutsche handelt, erhielten diese auch gegenüber anderen Einwanderergruppen einen besseren und gehobeneren Status. Durch die Tatsache, dass es ebenfalls in den meisten Fällen keine sprachlichen Barrieren gab, konnte die Eingliederung überwiegend reibungslos durchgeführt werden. (Seitz 2006: 13)

Als Höhepunkt der Einwanderung von Aussiedlern gilt der Zeitraum von 1987 bis 2003. Allein zwischen 1987 und 1990 sind knapp eine halbe Million Aussiedler eingewandert, unter ihnen auch sehr viele junge Menschen. Auch wenn die ältere Generation keine sprachlichen und somit sozialen Probleme hatte, so befindet sich die junge Generation in einer heiklen und problematischen Situation, die auf Hilfe angewiesen ist. (Mecheril/Varela 2010: 27)

2.3 Flüchtlingsmigration

Die Absicht für eine Flucht kann viele Gesichter haben: Umweltkatastrophen, kriegerische Auseinandersetzungen, religiöse oder politische Verfolgungen, Gründe der Armut oder aufgrund einer instabilen Wirtschaft mit unzureichenden Arbeitsmöglichkeiten. So sind in diesem Zuge sehr viele aus der damaligen DDR als auch allgemein Vertriebene nach Deutschland geflüchtet. (Mecheril/Varela 2010: 32) In den 1980er Jahren wurden Flüchtlinge mit einer breiten Akzeptanz aufgenommen. Doch als die Zahl der Flüchtlinge immer weiter anstieg, wurden erste Maßnahmen getroffen. So wurde am 1. Juli 1993 der Grundgesetzartikel 16 verändert, um die Flüchtlingszuwanderung gewissermaßen einzugrenzen und so besser kontrollieren zu können. (ebd.: 33) Flüchtlinge hatten sodann das Recht, in dem Ankunftsland Asyl zu beantragen. Ihre Lebenslage jedoch konnte nicht ihren Erwartungen entsprechen. Flüchtlinge wurden und werden in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht und unterliegen oft rassistischen Anschlägen. Ihre Abgrenzung führt zu einer mangelnden Eingliederung in die Gesellschaft. (ebd.: 34) Gleiches gilt auch für die Kinder der Flüchtlinge, die in der schulischen Laufbahn zu homogenen Klassen, so genannte Seiteneinsteigerklassen, zusammengeführt werden und so ebenfalls unter der Segregation leiden. (Seitz 2006: 11) Ungeachtet der Form der Migration entwickelt sich Deutschland zu einer zunehmend heterogenen Gesellschaft. Dabei ist es wichtig, die Idee, dass Migration für Deutschland nur randständig sei, zu überholen. (Mecheril/Varela 2010: 24) Denn Migration ist ein Ausdruck von zunehmender Globalisierung und Individualisierung in der heutigen Weltgesellschaft. (Düvell 2006)

3. Der pädagogische Umgang mit Migrations- Anderen

3.1 Institution Schule vor der modernen Migration

Die Nachkriegszeit kann aus der Perspektive des Schulwesens als eine Zeit der Ruhe und Stagnation bezeichnet werden. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 wird das Schulformat aus der Weimarer Republik übernommen und fortgeführt: das dreigliedrige Schulsystem, aufgeteilt in Grundschule, Sekundarschule I und Sekundarschule II. Bis zu Beginn der 1960er Jahre treten sodann keine Veränderungen oder Initiativen, die wegweisend sind, in den Vordergrund. (Schmitz 1980: 91)

Das Konzept des „Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen“ vom Jahre 1959 kann als der Beginn eines tiefgreifenden Umbruchs des Schulwesens bezeichnet werden. Der Nachkriegsboom bleibt nicht auf wirtschaftlicher Ebene begrenzt, sondern dringt ebenfalls in die Schulen ein. Mit der Modernisierung entfernen sich gleichzeitig alte, über Jahre hinweg andauernde Traditionen aus dem Bereich der Schule. (ebd.: 92) Motiviert und angetrieben werden die Veränderungen unter anderem durch die von Georg Picht im Jahre 1964 hervorgehobener Bildungskatastrophe, wonach das Bildungswesen den zukünftigen Anforderungen nicht mehr gerecht sein könne. Weitere wichtige Impulse liefern Dahrendorf, der Bildung als ein Bürgerrecht versteht und die Soziologie, die den beruflichen und sozialen Status der Art des Schulbesuches zuschreiben. (ebd.: 92)

Einen der wichtigsten Umstellungen stellt die Kirche dar. Durch die Bildungsreform verliert die Kirche ihren Status und ihren Einfluss im Bildungswesen und wird gänzlich abgelöst; lediglich der Religionsunterricht bleibt erhalten. Des Weiteren werden spezielle Landschulwesen als überholt verstanden und in der Folge aufgelöst. (ebd.: 92) Zudem findet die Geschlechtertrennung ebenfalls ihr Ende: reine Mädchenschulen stellen auf eine Koedukation um. (Konrad 2007: 104) Die Koedukation, so Nohl (2010), sei ferner eine Absicht zur Homogenisierung gewesen, die im späteren Verlauf allerdings ins Schwanken kommt. (Nohl 2010: 23) Allgemein betrachtet hat das Bild der Schule eine allgemeine Veränderung durchlaufen. So hat sich die Schule zu einem zentralen Bestandteil der Lebenswelten der Jugendlichen entwickelt, die sich explizit auf die Bedürfnisse der Jugendlichen richte. Die Vorstellung der Schule als ein Ort des Unterrichtes sollte aufgegeben werden zugunsten eines Ortes des Austausches und der Entfaltung. (Konrad 2007: 106f)

Selbstverständlich markierten Ungleichheiten und Differenzierungen, die als Diskriminierung interpretiert wurden, einen zentralen Punkt innerhalb des Konzeptes. So wurde eine größtmögliche Chancengleichheit mit der Reform erhofft. Zu den diskriminierten Gruppen zählen folgende: die Gruppe der Mädchen, Bewohner und Kinder vom Land und Arbeiterkinder bzw. Kinder aus Familien unterer Schichten. (Herrlitz u.a 2009: 173) In diesem Zusammenhang spielte das Prinzip der „materiellen Chancengleichheit“ eine interessante Rolle. Mit „materieller Chancengleichheit“ ist gemeint, dass der Staat diskriminierten Familien Hilfeleistungen stellen muss, um den vollen Gebrauch des Grundrechtes gewährleisten zu können. (ebd.: 174) So teilten sich die Meinungen bezüglich dessen, was den wirklich mit dem Prinzip gemeint sei. Dahrendorf war der Ansicht, dass die benachteiligten Gruppen durch ein gemeinsames Problem gekennzeichnet seien: der „Traditionalismus der Unmündigkeit“, den es mit der Reform zu überwinden galt. (ebd.: 174) In diesem Sinne sprach er sich für eine Unterstützung der betroffenen Familien durch den Staat und der Schule aus, mit der langjährige Einstellungen überwunden und der Modernisierung angepasst werden sollten. Denn gewissermaßen verlangt die Modernisierung des Schulwesens in diesem Kontext den Bruch mit veralteten Sitten und Gewohnheiten, um eine Chancengleichheit für alle ermöglichen zu können. (ebd.: 174) Sozialdemokraten jedoch vertraten wiederum einen anderen Standpunkt. Ihrer Auffassung zu Folge sollten einerseits durch das Prinzip der Kompensation in der Schule die Defizite der unterprivilegierten Kinder angeglichen werden. Andererseits erhofften sich die Sozialdemokraten durch die Erweiterung höherer Bildungsabschlüsse eine Veränderung der Lebensverhältnisse, welche Ungleichheiten in der Bildung zur Folge hätten. Das Zusammenspiel beider Aspekte könne dann langfristig soziale Ungleichheiten verhindern und vermindern. So wurde in der Folge die integrierte Gesamtschule eingeführt, um die geforderten Absichten in die Tat umsetzen zu können. (ebd.: 175) Um die gewünschten höheren Bildungsabschlüsse zu ermöglichen, wurden weiterhin die schulischen Inhalte verwissenschaftlicht, sodass immer mehr Wert auf forschendes, entdeckendes und soziales Lernen gelegt wurde. Auf diese Weise sollten Ungleichheiten im Bildungswesen überwiegend vermieden und vorhandene beseitigt werden. (Konrad 2007: 103)

Ein Blick auf die Situation der Institution Schule in den 1960er Jahren macht deutlich, dass die Debatte zum Thema Diskriminierung und Ungleichheiten ein großes Echo erzeugen kann; so stark, dass heute immer noch in politischen als auch pädagogischen Diskursen dem Thema der Diskriminierung ein hoher Stellenwert zugeschrieben wird. Mit den internen Problemen beschäftigt setzen überdies die Migrationsbewegungen an. Durch den Anwerbestopp der Arbeiter zu Beginn der 70er Jahre werden sodann Familienmitglieder nach Deutschland geholt. (Seitz 2006: 10) Allmählich wird eine extraordinäre Heterogenität in den Schulen bemerkbar, sodass eine Dynamik im Bildungswesen erforderlich wird. (Nohl 2010: 22)

3.2 Ausländerpädagogik

Die Arbeitsmigration stellte zunächst keinerlei Probleme und Schwierigkeiten für den damaligen deutschen Staat dar. Denn man war der Ansicht, dass die ausländischen Arbeitnehmer nach dem erhofften Rotationsprinzip nur über kurze Zeiträume in Deutschland verbleiben und anschließend wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Zumal kamen die Arbeitnehmer überwiegend ohne Familien nach Deutschland. Somit fiel die Anzahl der schulpflichtigen Kinder der ausländischen Arbeitnehmer nicht ins Gewicht, weshalb sowohl die Sozial-und Bildungspolitik als auch die Erziehungswissenschaften zunächst keinen Handlungsbedarf sahen. (Seitz 2006: 15) Erst durch das Nachholen von Familien und Kindern rückte die Pädagogik allmählich in den Mittelpunkt. Jedoch war die Bildungspolitik auf eine derartige Entwicklung des Schulwesens nicht vorbereitet und wurde teilweise überlaufen. Als pädagogische Reaktion wurde in Folge dessen Anfang der 70er Jahre die Ausländerpädagogik bzw. Assimilationspädagogik eingeführt. (Nohl 2010: 22)

Im Jahre 1964 beschloss die Kultusministerkonferenz die allgemeine Schulpflicht auch für ausländische Kinder. Mit diesem Beschluss sollte sich das Schulwesen auf entscheidende Veränderungen einstellen. Damals wurde in den Schulen das Prinzip der Homogenisierung durchgeführt, um den Unterricht effektiver durchführen zu können. Doch mit der Schulpflicht für ausländische Kinder entstand innerhalb der Schulen eine nicht übersehbare Heterogenität, die das Schulprinzip auf den Kopf stellte. (ebd.: 23)

Das grundlegende Problem für den gemeinsamen Unterricht stellte die Sprache dar. Die ausländischen Kinder mussten in kürzester Zeit die deutsche Sprache erlernen, um am Regelunterricht teilnehmen zu können. Infolgedessen wurde Deutsch als Fremdsprache in den Schulen eingeführt. Doch mit der immer länger andauernden Aufenthaltsdauer der Migranten wurde die Fremdsprachendidaktik nach kurzer Zeit durch die Zweitsprachdidaktik ersetzt, welche sich intensiver und speziell auf die Situation der ausländischen Kinder richtete.(Bogyo-Löffler 2011: 17) Somit wurden jüngere Schüler, bei denen vermutet wurde, dass sie die deutsche Sprache schnell erlernen, in den Regelunterricht und ältere Schüler, im Alter von 7 Jahren, in Vorbereitungsklassen eingeschult, in denen sie die erforderlichen Deutschkenntnisse erwerben sollten. Mit diesem Vorgehen sollte das Prinzip der Homogenisierung in den Schulen größtenteils aufrecht gehalten werden. (Nohl 2010: 24) Doch angesichts der immer weiter steigenden Anzahl ausländischer Schüler wurden außerdem zusätzlich auch noch sogenannte National- und Ausländerklassen eingeführt. Hinzuzufügen ist jedoch, dass zu solchen Klassen nur in den seltensten Fällen zurückgegriffen wurde. Ein weiterer Beschluss der Kultusministerkonferenz bestand darin, dass der Anteil von ausländischen Schülern in den Regelklassen nicht mehr als 1/5 übersteigen solle. Diese Maßnahme wurde hinsichtlich der Sorgen und Befürchtungen der Eltern, dass ein zu hoher Ausländeranteil das Unterrichtsklima gefährden und ihre Kinder schädigen würde, eingeführt. (ebd.: 24) Zu diesem Zeitpunkt wurde immer noch der Gedanke bewahrt, dass die ausländischen Arbeitnehmer eines Tages in ihre Heimat zurückkehren würden. In diesem Sinne verfolgte die Bildungspolitik eine Doppelstrategie. (Geier 2011: 18) Die Schüler sollten nicht nur in das Schulsystem angepasst werden, sondern die Schule sollte außerdem dafür sorgen, dass die Rückkehrfähigkeit der Schüler erhalten bliebe. Diese wurde entweder durch die Nationalklassen oder durch muttersprachlichen Ergänzungsunterricht in der Nationalsprache am Nachmittag gesichert. Somit wurde versucht, die Distanz der Kinder zu ihrer Herkunftskultur zu reduzieren. (ebd.: 19) Hierbei sei angemerkt, dass die Verfahrensweise der Ausländerpädagogik eine indirekte Paradoxie aufweist. Auf der einen Seite findet eine Anpassung, eine Assimilierung der Kinder statt. Auf der anderen Seite jedoch werden die ausländischen Schüler nach Möglichkeit von den deutschen Schülern separiert und in verschiedene Klassen eingeteilt und somit auf Distanz gehalten. Nach Hoff (1995) treten hier ein „Assimilierungsdruck“ und eine „Segregationspraxis“ in einer widersprüchlichen Mischung auf. (Nohl 2010: 25)

Die Homogenisierung in den Schulen führte in kurzer Zeit dazu, dass die Defizite und Mängel der ausländischen Schüler in den Vordergrund rückten. Da die Bildungsstandards damals nie in Frage gestellt wurden, konnten sie demzufolge auch nicht geändert werden. Dies hatte zur Folge, dass die ausländischen Kinder in schulischen Belangen assimiliert und angepasst wurden. (ebd.: 25) Hinzu kam, dass durch einen weiteren Beschluss der KMK im Jahre 1970 Initiativgruppen gegründet wurden, um sowohl schulbegleitend als auch außerschulisch den ausländischen Kindern bei Problemen und Schwierigkeiten gezielte Hilfestellungen zur Verfügung zu stellen, ebenfalls mit einem kompensatorischen Charakter. (Seitz 2006: 17)

Der Ausländerpädagogik liegt zu Grunde, dass Defizite und Mängel immer auf Seiten der ausländischen Kinder identifiziert wurden und diese durch kompensatorische Mittel zu beseitigen waren. Die Defizitannahmen der Ausländerpädagogik sind auf drei Bereiche zu konkretisieren. (Nohl 2010: 27) Wie schon erwähnt, lagen offensichtliche Defizite im Bereich der Sprache vor. Damit verbunden war auch der Sprachgebrauch unzureichend; der restringierte Sprachcode der ausländischen Schüler entsprach nicht dem elaborierten Sprachcode der deutschen Schüler und zugleich nicht dem Sprachcode, der ebenfalls in der Schule zur Anwendung kam. Schlussfolgernd ist auch eine defizitäre Primärsozialisation ein wesentliches Merkmal, welches laut der Ausländerpädagogik die ausländischen Schüler charakterisiere. Demzufolge vertritt die Familie, zugleich auch die Primärsozialisation, die Herkunftskultur und die Schule, die Sekundärsozialisation, die Kultur des Aufnahmelandes. Die Distanz zwischen diesen beiden Kulturen führe bei dem Kind zu einem kulturellen Widerspruch und letztlich zu einer Orientierungslosigkeit, welche eine Anpassung an die vorhandene Gesellschaft nicht ermögliche. Denn die bestehende Kultur und die in Normen und Werten homogene deutsche Gesellschaft, die ein wesentliches Merkmal der Ausländerpädagogik darstellen, waren von allen Zweifeln und Mängeln freigesprochen und in keiner Weise zu kritisieren. (ebd.: 32)

An diesem Punkt knüpft auch die Studie von Schrader et al. (1976) an, die Mitte der 70er Jahre ein Phasenmodell entwickeln, welches den Weg der Sozialisation und Akkulturation der ausländischen Kinder beschreibt. (vgl. Schür 2013: 62) Auch wenn die Studie von einer unhinterfragbaren und feststehenden deutschen Kultur ausgeht beabsichtigt sie, dass Theoriedefizit der Sozialisation ausländischer Kinder zu reduzieren. Für ihre Theorie greifen Schrader et al. (1976) auf die Sozialisationstheorie von Dieter Claessens (1972) zurück. (ebd. 62)

Die Familie, so Claessens (1972), bilde das zentrale Medium zur Weitergabe von Normen und Werten. Auf diese Art und Weise werden Normen und Werte nicht nur gelehrt, sondern in bestimmten Situationen angewandt und dementsprechend konkretisiert. Deshalb kann es sogar passieren, dass die Normen und Werte der Familie mit der der Gesellschaft nicht übereinstimmen. Dieses Paradoxon, so Nohl (2010), könne dennoch gelebt werden, da bei häufiger praktischer Unter- oder Hintergehung von gesellschaftlichen Normen die Autorität der darüberstehenden Werte grundsätzlich nicht berührt, sondern eher gestärkt werden. (Nohl 2010: 38) Sozialisation bedeute demnach die Tradierung und Internalisierung von kulturellen Elementen. Wenn nun die kulturelle Rolle aus der Familie mit der der Gesellschaft übereinstimmt, dann vollzieht sich der Prozess der Integration und Sozialisation. Ist dies nicht der Fall, so wird die Lage kompliziert und zugespitzt. Für den letzteren Fall differenzieren Schrader et. al (1976) zusätzlich drei Enkulturationsprozesse bei ausländischen Kindern, indem sie ihr Einreisealter mit der Minderheitensubkultur verknüpfen. ( ebd.: 40) Schulkinder, die in ihrem Heimatland nicht nur durch die Familie, sondern auch durch die Schule sozialisiert wurden, so Schrader et al. (1976), besitzen schon eine abgeschlossene monokulturelle Basispersönlichkeit. Die Ausprägung der kulturellen Rolle führe dazu, dass diese Kinder mit Problemen im Bereich der Schule und der Freizeit hinsichtlich der fremden Kultur und Sprache konfrontiert werden. Eine Veränderung der Wertorientierungen im Aufnahmeland halten Schrader et al. (1976) für ausgeschlossen. (ebd.: 40)

Vorschulkinder die nach Deutschland einreisen, sind schon mit der Kultur ihres Heimatlandes vertraut. Durch die Migration jedoch würde dieser Prozess der Enkulturation unterbrochen und es entstehe eine unvollkommene Basispersönlichkeit, weshalb Schrader et al. (1976) daraus schließen, dass ein Enkulturationsdefizit bezüglich der Heimat-als auch der Fremdkultur entsteht. Die daraus resultierende diffuse Basispersönlichkeit der Kinder führt dazu, dass sie sich je nach sozialer Situation mit der Heimat- oder Fremdkultur identifizieren. (ebd.: 40) Das Kleinstkind wird zum einen von der Minderheitensubkultur der Familie und zum anderen von der deutschen Kultur geprägt, wodurch sich eine vorläufige Basispersönlichkeit entwickelt. Diese Grundlage kann letztlich zur Assimilation beitragen, sodass aus ihnen „Neu-Deutsche“ werden können. (Nohl 2010: 40) Die Studie von Schrader et al. (1976) hatte für die Ausländerpädagogik einen hohen Stellenwert und war von großer Bedeutung. Erstmals konnte dadurch das Einreisealter der Kinder eingeschränkt und Lehrkräfte so fortgebildet werden, dass sie den Kindern Hilfestellungen bei der Verarbeitung des Kulturschocks und den sich anschließenden Persönlichkeitsproblemen geben konnten. Zudem konnten durch die Studie weiterhin sowohl die Integrations- als auch Anpassungsprobleme den ausländischen Kindern zugeschrieben werden, um die vorhandenen Strukturen und Systeme nicht zu belasten. (Schür 2013: 65)

Zusammenfassend ist erkennbar, dass die Ausländerpädagogik von innen heraus dicht und teilweise lückenlos konzipiert ist, um die sogenannten Ausländer und Fremden nicht ohne weiteres zu akzeptieren. Das wichtigste Element der Ausländerpädagogik bildet der innere Kern, der in keiner Weise in Frage gestellt wird. Der Kern besteht aus Normen und Werten der Mehrheitsgesellschaft. (Nohl 2010: 42) Die Familie trägt dafür Sorge, ihren Kindern diese Werte weiterzugeben. Bei ausländischen Kindern wird dieser Prozess insofern kompliziert, da ihnen die Familie als Sozialisationsinstanz fehlt. Hinzu kommt der Grad der Sozialisierung der ausländischen Kinder; denn je größer die kulturelle Rolle des Herkunftslandes ausgeprägt ist, desto schwieriger wird die Identifizierung mit den Werten und Normen des Aufnahmelandes. Somit könne nur eine rein instrumentelle Integration, bezogen auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Migranten, vollzogen werden. (ebd.: 43)

Die Ausländerpädagogik, so Nohl (2010), sieht die Migranten von Anfang an als Ausländer. Denn durch einen gemeinsamen Wertekonsens, der stets homogen ist, werden andere zumal zum Fremden und zum Ausländer. Daher ist die Frage nach einer kulturell pluralen Gesellschaft nicht nötig. Folglich trage die Ausländerpädagogik nach Nohl (2010) ihren Namen zu Recht. (ebd.: 43)

3.3 Klassische Interkulturelle Pädagogik

Verstärkte Bemühungen zur Integration der zweiten Migrantengeneration, primär verstanden als Hilfe zur Berufseinmündung, und die Anerkennung der faktischen Einwanderung statt einer „Gastarbeiterbeschäftigung“ (Bogyo-Löffler 2011: 21)

Die Forderungen und Empfehlungen des „Kühn-Memorandums“ vom Jahre 1979 kennzeichneten allmählich das Ende der Ausländerpädagogik. (ebd.: 21) Die zuvor noch auf politischer Ebene bestehende Einstellung, Deutschland sei kein Einwanderungsland, schien auch nicht mehr lange haltbar zu sein. (Schür 2013: 60) Zumal verbreitete sich innerhalb der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, so Auernheimer (2012), die Ansicht, dass Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden war. Dieser Standpunkt ging auch aus dem Kühn-Memorandum hervor, als eine ihrer Prämissen. Letztendlich markierte die Neuorientierung von einer „Gastarbeiterbeschäftigung“ zur Einwanderung den Übergang, um sich stärker als zuvor nach Ansätzen der Migrationsforschung und nach pädagogischen Konzepten in Ländern mit längerer Einwanderungstradition umzusehen.(Auernheimer 2012: 41) Weitere Umstrukturierungen, sei es auf sozialwissenschaftlicher oder auf pädagogischer Basis, veranlassten zu einer neuen, aus einer anderen Perspektive basierenden, Denkweise. So motivierte und regte Heckmanns (o.J) Veröffentlichung „Die Bundesrepublik – ein Einwanderungsland?“ die öffentlichen Diskurse noch einmal an und würdigte erstmals den Stellenwert der Migrantenkulturen. (ebd.: 42) Wie schon erwähnt, setzte mit der Interkulturellen Pädagogik ein Perspektivenwechsel ein, der den Adressatenkreis erweiterte, wenn sogar nicht völlig wechselte. Die einheimische Bevölkerung selbst rückte durch die Überwindung des anpassungsorientierten Ansatzes in den Fokus. Aus der Defizitannahme heraus eröffnete sich eine Differenzannahme, bei der jene Kulturen in der Theorie zwar unterschiedlich, in der Praxis jedoch ebenbürtig und gleichwertig gestellt waren. Das Miteinander und die Verständigung zwischen den Kulturen sollten sich herauskristallisieren. Kulturelle Unterschiede sollten nun mehr als Ressource für eine kollektive Gesellschaft genutzt werden. (Nohl 2010: 49) Auernheimer (2012) bezeichnet diese Idee der Gesellschaft als die einer „multikulturellen Gesellschaft“, in der die Leitmotive aus dem Gleichheitsprinzip und der gegenseitigen Anerkennung, hinsichtlich sprachlicher und religiöser Vielfalt, bestehen sollen. (Auernheimer 2012: 19f)

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Details

Titel
Pädagogische Entwicklungen in der Migrationsdebatte
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Fakultät für Bildungswissenschaften)
Note
2
Jahr
2015
Seiten
44
Katalognummer
V539729
ISBN (eBook)
9783346159984
ISBN (Buch)
9783346159991
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Migration, Rassismus, Ausländerpädagogik, Interkulturelle Pädagogik, Antidiskriminierungspädagogik, Migrationspädagogik, Seiteneinsteigerklassen, Herkunftssprache
Arbeit zitieren
Anonym, 2015, Pädagogische Entwicklungen in der Migrationsdebatte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/539729

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