Wie die Resilienz von Pflegekindern gestärkt werden kann. Ansätze für eine veränderte Kinderrechtspraxis in der Kinder- und Jugendhilfe


Textbook, 2021

72 Pages


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Abstract

1 Einleitung

2 Das Pflegekinderwesen
2.1 Stand der Forschung
2.2 Rechtliche Grundlagen
2.3 Kinderrechtspraxis
2.4 Das Zusammenspiel der Akteure
2.5 Der Schutzauftrag

3 Das Pflegekind und seine Besonderheiten
3.1 Die Bindungen des Pflegekindes
3.2 Die Entwicklungsaufgaben des Pflegekindes
3.3 Die Vulnerabilität des Pflegekindes
3.4 Resilienz von Pflegekindern

4 Umsetzung des Kinderrechts auf Beteiligung

5 Ansätze für die deutsche Praxis

6 Fazit

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

Triebfeder der meisten in der Sozialen Arbeit Tätigen ist der Wunsch, andere darin zu unterstützen, dass sie ihr Leben als ein gelingendes Unterfangen empfinden, ein nach den eigenen Vorstellungen und Werten gelungenes. Doch was braucht es, sich den Herausforderungen, Aufgaben oder Hürden des Lebens gewachsen zu fühlen, womögliche Traumen oder Verletzungen einigermaßen unbeschadet zu überstehen, eventuell sogar gestärkt aus Krisen hervorzutreten? Es gibt diese Menschen, die sich offenbar nicht unterkriegen lassen, die Kämpfer, die ein unerschütterliches Selbstvertrauen erfüllt, welches sie, trotz ihres Lebensdramas zuversichtlich ihren Weg beschreiten lässt.

Die Kinderromanfigur Pippi Langstrumpf, Halbwaise, von ihrem Vater massiv vernachlässigt, stellt in überspitzter und verharmloster Form einen solchen Menschen dar. Sie ist Kindern der Inbegriff des starken Mädchens, das sich durch sein junges Leben boxt. Astrid Lindgren, die Erschafferin dieser Figur, stattete sie mit übermenschlichen Kräften aus, die Pippis unbeirrbare Überzeugung, ihre Geschicke selbst steuern zu können, verbildlichen. Ihr Trauma ist zugleich die Quelle ihrer Stärke: völlig allein auf sich gestellt sucht sie sich Verbündete, stellt sich selbst auf Augenhöhe mit den Erwachsenen und wird dadurch zu einem gleichberechtigten Interaktionspartner. Ihre Erfolge bestärken sie, ihre Freunde stehen ihr zur Seite. Sie ist Meister ihres Lebens. Liegt hier womöglich das Geheimnis ihrer Unverwundbarkeit? Ähnlich einer Karikatur, bewegt Lindgren den Leser durch den aufgezeigten Kontrast der Lebensverhältnisse ihrer Figur zur Realität, zum Nachdenken über die tatsächliche Situation von Kindern1 in unserer Gesellschaft.

Wann und unter welchen Bedingungen wird es Kindern ermöglicht, sich an den Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, zu beteiligen? Wann und bei welchen Gelegenheiten fühlen sie sich als Subjekt ihrer Lebenswelt? Stehen jene, die es sich zur beruflichen Aufgabe gemacht haben, sicherzustellen, dass es Kindern in unserer Gesellschaft „gut“ geht, tatsächlich in der Form zur Verfügung, dass sie eine Ressource für das Kind und seine Entwicklung darstellen?

Kinder als Adressat*innen der Sozialen Arbeit finden sich in unterschiedlichen Bereichen, z. B. in der offenen Jugendarbeit oder der Schule. Im Kontext von „Jugendamt“ sind die Berührungspunkte zwischen Fachkräften und Kindern weniger direkt, da der Kontakt zumeist über die Eltern zustandekommt. „Beziehungen“ entstehen dann erst, wenn Hilfen zur Erziehung eingeleitet wurden. Haltungen der Professionellen gegenüber den Klient*innen werden sichtbar, wenn Hilfepläne entwickelt, Entscheidungen getroffen und Prozesse begleitet werden. Die Bereitschaft in der Kinder- und Jugendhilfe, Kinder als Subjekt wahrzunehmen und sie folglich, (ganz selbstverständlich) anzuhören, wenn es um sie geht und ihre Meinung in alle fachlichen Überlegungen miteinzubeziehen, soll mit dieser Arbeit auf den Prüfstand gestellt werden. Untersucht werden zudem mögliche Zusammenhänge zwischen Beteiligungsmöglichkeiten und Bewältigungskompetenzen. Dieser Aspekt ist besonders für stark belastete Kinder von Bedeutung, deren Ressourcen begrenzt sind. Somit wird die These aufgestellt, dass sich die mangelhafte Umsetzung der Rechte auf Beteiligung von Pflegekindern an den Hilfeprozessen nachteilig auf ihre Resilienz auswirkt.

Im ersten Teil der Arbeit erfolgt eine allgemeine Betrachtung des Pflegekinderwesens in Deutschland und eine Überprüfung des Forschungsstandes auf diesem Gebiet. Daraufhin werden die rechtlichen Grundlagen zur Hilfeform der Vollzeitpflege erläutert. Anschließend wird die Kinderrechtspraxis in der Kinder- und Jugendhilfe auf Liebels (2017) Feststellung hin untersucht, dass sich die Kinderrechte, trotz Implementierung in der deutschen Gesetzgebung und den Handlungsanweisungen der Jugendämter, immer noch in einem vorrangig „protektionistischen, legalistischen“ Rahmen bewegen. Dem Kind werde dadurch seine Subjektstellung versagt. Für die Hilfeprozesse im Pflegekinderwesen sind die Beteiligungsrechte von besonderer Relevanz sind. Aus diesem Grund werden vorrangig diese Kinderrechte im Fokus der Untersuchung stehen.

Es folgt eine genauere Betrachtung des Zusammenspiels der Akteure im Hilfeprozess, zu denen neben der Hauptperson, - dem Kind -, der Pflegekinderfachdienst, Herkunfts- und Pflegefamilie gehören. Mit der Übergabe des Kindes an die Pflegefamilie besteht der Schutzauftrag des Jugendamtes in aktiver Form weiter. Der Ausübung des Wächteramtes in diesem speziellen Bereich widmet sich der nächste Abschnitt. Das Pflegekind weist aufgrund seiner Biografie Besonderheiten auf, die es näher zu betrachten gilt. Es wird der Versuch unternommen, aus diesen Spezifika Indikationen für eine besondere Vulnerabilität des Pflegekindes abzuleiten. Das darauf folgende Kapitel wird sich mit Resilienz von Individuen im Allgemeinen und im Speziellen beschäftigen, wobei die Bedeutung der sozialen Ressourcen für die Entwicklung von Resilienz des Pflegekindes herausgestellt werden soll.

Gibt es Argumente die gegen eine Beteiligung von Kindern sprechen? Oder besteht ein Zusammenhang zwischen der kontinuierlichen Mitbestimmung des Kindes am Hilfeprozess und der Ausbildung einer Resilienz, die es dem Kind ermöglicht, seine Krisen (aus seiner Sicht) erfolgreich zu meistern? Der Erörterung dieser Fragen folgen Überlegungen zu sozialpädagogischen Strategien zur Resilienzförderung.

Ein Exkurs in das nordamerikanische Pflegekinderwesen erschließt neue Aspekte, die auf der Überlegung basieren, dass die Informiertheit des Kindes Voraussetzung für die Ausübung von Mitbestimmung ist. In Verknüpfung mit den Ergebnissen zur Resilienzförderung werden abschließend Ansätze für die deutsche Praxis diskutiert.

2 Das Pflegekinderwesen

Als Pflegekinder werden Kinder oder Jugendliche bezeichnet, die vorübergehend oder auf Dauer nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie leben können. Dies kann zum einen durch den vorübergehenden Ausfall der Eltern in Folge von akuter Krankheit, Krisen durch Arbeitslosigkeit, Trennung oder Scheidung begründet sein. Aber auch hoch belastete, instabile Familiensituationen (z. B. Alkohol- oder Drogenabhängigkeit und psychische Erkrankung der Eltern, Vernachlässigung, Misshandlung, etc.) können dazu führen, dass Kinder aus ihren Familien genommen werden müssen, um sie vor negativen Konsequenzen für ihr Wohl zu schützen (vgl. Stadt Mainz - PKD 2014).

Die Herausnahme eines Kindes aus seiner Familie wird dann unumgänglich, wenn sämtliche Unterstützungsangebote des Jugendamtes ausgeschöpft sind, die die Familie befähigen sollten, das Kind wieder allein zu versorgen. Besteht für den jungen Menschen keine Möglichkeit, in seinem familiären oder sozialen Umfeld aufgefangen zu werden, kommt je nach Alter und psychischer Verfassung des Kindes die Aufnahme in eine geeignete Pflegefamilie zur Bewältigung der Situation in Frage (vgl. ebd.). Die Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII) „soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten“.

Der Paragraph lässt somit einerseits Spielraum für Pflegeverhältnisse, die Kindern helfen, sich aus zerstörerischen und nicht reparablen Beziehungen zu lösen, andererseits aber auch für solche, die auf einer für Pflegeeltern, Pflegekind und leibliche Angehörige befriedigenden wechselseitigen Akzeptanz beruhen (vgl. Gintzel 1996: 58). Im ersten Fall fungiert eine Pflegefamilie dann eher als Ersatz-, im letzteren als Ergänzungsfamilie.

Ein Blick auf die Entwicklung des Pflegekinderwesens in Deutschland zeigt, dass die Kritik an der traditionellen Erziehungshilfe in Form von Anstalts- und Heimerziehung zu einer Aufwertung und einem Ausbau des Ersatzfamilienkonzepts geführt hat. Parallel zu dem Ausbau familienunterstützender Hilfen im Vorfeld von Inobhutnahmen, bzw. Inpflegenahmen, die Ausdruck des Bestrebens sind, Kindern und Jugendlichen förderliche Entwicklungsbedingungen in ihren Herkunftsmilieus zu sichern, erfolgte ab 1968 eine Trendwende in Hinblick auf die Fremd­platzierungspraxis in den Jugendämtern. Zu dieser Zeit lebten noch zwei Drittel aller Kinder und Jugendlichen, die im Rahmen der Jugendhilfe fremduntergebracht waren, in Heimen. Bis zum Jahr 1978 verschob sich der Anteil der in Pflegefamilien untergebrachten Kindern und Jugendlichen auf drei von fünf im Vergleich zur Heimunterbringung. Nach der Wiedervereinigung verzeichnete die Jugendhilfestatistik wieder einen Trend zur Unterbringung in stationären Einrichtungen. Dies wird zum Teil auf die damals noch vorherrschende Dominanz der Heimerziehung in den neuen Bundesländern zurückgeführt (vgl. ebd.).

Helming et al. (2010) stellen in der Einleitung des Handbuchs „Pflegekinderhilfe in Deutschland“ heraus, dass die Pflegekinderhilfe in Deutschland lange vernachlässigt wurde. Dennoch wurde aufgrund der zuvor beschriebenen Veränderungen der kommunalen Praxis, der rechtlichen Grundlagen sowie neuer empirischer Befunde, die Notwendigkeit einer Qualifizierung und Weiterentwicklung des Pflegekinderwesens erkannt.

Vor dem Hintergrund angespannter öffentlicher Haushalte, wurde die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen reformiert und familienorientierte ambulante und teilstationäre Hilfen ausgebaut. Es zeigte sich jedoch, dass letztere oftmals nicht ausreichten und eine Fremdunterbringung der betroffenen Kinder oder Jugendlichen unumgänglich wurde. Zu dieser Zeit gewannen familiäre Betreuungsformen als wirtschaftlich günstigere Alternative zur Unterbringung in einem Heim in Deutschland an Bedeutung (vgl. ebd.: 15).

Mit dem Inkrafttreten des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII), dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, am 1. Januar 1991, veränderte sich der Duktus des „Pflegekinderwesens“ in den Jugendämtern grundlegend. Die ursprünglich vornehmliche Aufgabe der Pflegekinderaufsicht wandelte sich zu einer auf Kooperation ausgelegten Beratung und Begleitung von Pflegepersonen und Pflegekindern sowie deren Herkunftsfamilien (vgl. Landkreis Limburg-Weilburg 2014).

Die Anforderungen an Pflegefamilien sind im Laufe der Zeit deutlich gestiegen, da die Bedürfnisse von Pflegekindern komplexer und vielfältiger geworden sind. Mittlerweile liegt der Kontakterhalt zur Herkunftsfamilie verstärkt im Interesse der Betroffenen und der Pflegekinderhilfe. Dieses spiegelt sich in den bundesrechtlichen Vorgaben aus dem BGB und SGB VIII wieder, die handlungsleitende Konzeptionen auf Landes- und kommunaler Ebene bereithalten. Die Umsetzung erfolgt in den einzelnen Jugendämtern jedoch sehr unterschiedlich, so dass keine einheitlichen Qualitätsstandards in der Pflegekinderarbeit herrschen. Dies zeigt sich ins­besondere hinsichtlich der Umgangskontakte und Rückführungen, der Auswahl und Einschätzung der Eignung von Pflegepersonen, ihrer Vorbereitung auf die Pflegetätigkeit und Begleitung. Ferner zeigen sich signifikante Unterschiede hinsichtlich der Art und des Umfangs der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Hilfeprozessen sowie der Beziehungsgestaltung zu den Kindern und Jugendlichen von Seiten der zuständigen Fachkräfte (vgl. Helming et al. 2010: 15 f.).

Im Fokus dieser Arbeit stehen jungen Menschen, die sich in auf Dauer angelegter Vollzeitpflege gemäß § 33 SGB VIII befinden. Hierzu sind folgende Fakten zu bemerken: Die Pflegekinderhilfe ist mit durchschnittlich 41 Monaten die am längsten dauernde erzieherische Hilfeform. Im Jahr 2017 wurden 74.969 Kinder und Jugendliche in Vollzeitpflege gezählt (Statistisches Bundesamt 2018). Mit 25 % ist der Anteil der Pflegekinder, die aufgrund von Gefahr für das Kindeswohl in diese Form der Pflege aufgenommen werden, am größten (vgl. van Santen 2017: 111).

2.1 Stand der Forschung

Untersuchungen zum Pflegekinderwesen nahmen ihre Anfänge in den 1970er Jahren. Junker et al. (1978) forschten in Hinblick auf soziale und psychologische Aspekte und nahmen die Beziehung des Pflegekindes zu seiner Pflegefamilie sowie deren besondere Situation in den Blick. Sie interessierten sich jedoch auch damals bereits für die Strukturen des Pflegekinderwesens. Ihre Ergebnisse fassten sie in dem Bericht „Pflegekinder in der Bundesrepublik Deutschland“ zusammen. Dieser stellte, als Konsequenz auf erkannte Mängel und Missstände, Empfehlungen an die Pflegekinderdienste sowie rechtliche Änderungsvorschläge bereit, die noch heute wichtige Bestandteile der heutigen Pflegekinderhilfe sind (vgl. Reimer 2017: 26 f.).

Eine regelmäßige Erwähnung der zentralen Akteure der Pflegekinderhilfe, nämlich der Pflegekinder, ist erst in den jüngeren Forschungsbestrebungen festzustellen. Vor allem ihre Perspektive wurde über lange Zeit außer Acht gelassen. Reimer sieht es als symptomatisch, „dass in vielen Studien über Pflegekinder geredet wird, aber selten mit ihnen“. Sie beruft sich auf Studien von Heun (1984) und Kötter und Cierpka (1997), die auf Befragungen von Erwachsenen zum Erleben von Pflegekindern basieren.

Die Umsetzung von Mitbestimmung in der heimstationären Unterbringung ist aufgrund der professionellen Unterstützung durch Fachkräfte leichter umzusetzen, als in Pflegefamilien. PIB Pflegekinder in Bremen gGmbH, Familien für Kinder gGmbH Berlin und das Kompetenzzentrum Pflegekinder e.V. kündigten im Juni 2018 ein gemeinsames praktisches Forschungsprojekt an. Mit ICH MISCHE MIT! soll speziell Kindern und Jugendlichen, die in Pflegefamilien leben, ein Erprobungsraum für Partizipation geboten werden. Gemeinsam mit ihren Pflegefamilien werden sie sich unter Leitung erfahrener Sozialpädagog*innen, Künstler*innen und methodischer Expert*innen in spielerischen Workshops über Fragen austauschen, die Themen folgender Art behandeln:

„Welche Rechte haben Kinder? Wo können sie sich an Entscheidungen ihr Leben betreffend beteiligen – und in welcher Form? Wo muss Mitsprache beginnen können – und wo stößt Mitbestimmung an ihre Grenzen? Was für Vereinbarungen können innerhalb des „kleinen Systems“ Familie getroffen werden, die auch Kompetenzen für die weichenstellenden Hilfeplangespräche sowie für die „große Vereinbarung“ gesellschaftliche Teilhabe vermitteln?“ (Kompetenzzentrum Pflegekinder - Service für Fachdienste 2018).

Die Initiatoren des Projekts betonen, dass selbstbewusste Mitbestimmung ein wichtiger Baustein in der von der Jugendhilfe begleiteten Vita von Pflegekindern ist. Die zitierten Fragestellungen machen jedoch deutlich, dass die Grenzen der Mitwirkung noch auszuhandeln sind. Eine einheitliche Vorstellung von den Rechten der Kinder scheint noch nicht zu existieren. Es kann vermutet werden, dass sich das Nachdenken und der Austausch über Kinderrechte förderlich auf die Anerkennung dieser auswirken wird. Ferner liegt die Annahme nahe, dass die Kinder und Jugendlichen allein durch die Benennung ihrer Rechte eine Stärkung ihres Status erleben. 2008 überprüfte Daniela Reimer die Forschungslandschaft zum Thema Pflegefamilie und machte eine Konzentration auf bindungstheoretische Fragestellungen aus. Sie sprach diesen ihre Relevanz nicht ab, hielt sie jedoch zu dieser Zeit bereits als ausreichend erforscht. Sie forderte Untersuchungen, die das Erleben der Pflegekinder aus eigener Perspektive in den Fokus nehmen, - wie sie Ortswechsel und Übergänge erleben, welche Bedeutung anderen Personen im Netzwerk der jungen Menschen zukommt. Diese könnten, so ihre Anregung, in Form von Langzeitstudien über die Sozialisationsprozesse von Pflegekindern mit dem Schwerpunkt auf ihre Sichtweise geleistet werden (vgl. Reimer 2008). Beinahe zehn Jahre später war es soweit, dass Reimer ihre eigene Longitudinalstudie zu dem Thema präsentieren konnte: „Wie gut entwickeln sich Pflegekinder?“ (Reimer/Petri 2017). Pflegekinder, die bereits zwischen den Jahren 2007 und 2011 für Interviews zur Verfügung gestanden hatten, wurden als junge Erwachsene erneut zu ihren Erfahrungen befragt. Zum Thema Beteiligung am Hilfeprozess fanden sich keine Aussagen in der Studie. Dem Pflegekinderdienst wurde insbesondere als unterstützende Instanz bei der Auseinandersetzung des Pflegekindes mit der eigenen Herkunft eine Bedeutung zugemessen, da Pflegeeltern diese Themen oftmals nicht selbst mit dem Pflegekind besprechen können. Immerhin kamen Reimer und Petri zu dem Schluss, dass die Aufgabe als Vermittlungsinstanz voraussetzt, dass es der Fachkraft des Pflegekinderdienstes gelingt, ein Vertrauensverhältnis zu dem jungen Menschen aufzubauen. „Damit sich ein solches entwickeln kann, müssen Pflegeeltern akzeptieren, dass ihr Pflegekind Einzelkontakte zu der Fachkraft hat und diese nach Bedarf in Anspruch nimmt“ (ebd.: 66).

Diese Arbeit widmet sich den Resilienz fördernden und behindernden Faktoren im Hilfeprozess der Vollzeitpflege. Aus diesem Grund darf hier ein kurzer Blick auf den Stand der Forschung in diesem Feld nicht fehlen. Das vormals vorrangige Hauptaugenmerk der Gesundheitswissenschaften, der Psychologie und der Pädagogik auf die Ursachen und Bedingungen für die Entstehung psychischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten veränderte sich seit den 1990er Jahren in der Form, dass Faktoren, denen ein gesundheitsfördernder bzw. –mindernder Einfluss zugestanden wurde, in den Fokus der Forschung gerieten. Mit der ersten deutschen Resilienzstudie untersuchte die Bielefelder Invulnerabilitätstudie explizit die seelische Widerstandskraft von Kindern, deren Entwicklung aufgrund ihrer Fremdplatzierung in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe einem besonderen Risiko ausgesetzt war (Lösel/Bender 2008: 58). Das besondere Interesse galt hierbei der Ermittlung von Schutzfaktoren, die zu einer resilienten Entwicklung außerhalb der eigenen Familie beizutragen vermögen. Auch wenn Kinder in Langzeitpflegeverhältnissen in familienähnlichen Verhältnissen aufwachsen, kann dennoch behauptet werden, dass ihre Aufwachsbedingungen durch womögliche traumatisierende Vorerfahrungen, Trennung von ihren primären Bindungspersonen, andere Beziehungsabbrüche und weitere erschwerende Herausforderungen im Alltag derart beeinträchtigt sind, dass Parallelen zu Heimkindern angenommen werden können.

2.2 Rechtliche Grundlagen

Die Arbeit der Pflegekinderdienste basiert rechtlich zunächst auf Artikel 6 des Grundgesetzes, wonach die Familie (inklusive ihrer Kinder) von staatlicher Seite zu schützen sei. Darüber hinaus hat das Jugendamt sein Handeln am Übereinkommen über die Rechte des Kindes zu orientieren.

So heißt es in Artikel 3 der Kinderrechtskonvention (CRC): „(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Trotz zahlreicher Annäherungen an eine Definition, gilt der Begriff „Kindeswohl“ nach wie vor als unbestimmter Rechtsbegriff, der unter verschiedenen Kriterien immer am Einzelfall gemessen werden muss (vgl. Alle 2010: 13). Berücksichtigt werden dabei die Bedürfnisse der Kinder bspw. nach der Bedürfnispyramide nach Schmidtchen (1989: 106 ff.).

In der Vollzeitpflege bedarf es Regelungen für die Beziehungen zwischen Eltern, Pflegeeltern, Kind und Jugendamt. Diese finden sich sowohl im BGB als auch im achten Sozialgesetzbuch, welches die Formen der Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII) beschreibt.

Das BGB regelt vor allem die sorge- und umgangsrechtlichen Verhältnisse zwischen Eltern, Pflegeeltern und Kind, die Regelung der örtlichen Zuständigkeit und des Datenschutzes (vgl. Küfner/Schönecker 2010: 49). Neben der möglichen Inanspruchnahme auf freiwilliger Basis, kann die Vollzeitpflege im Fortgang eines familiengerichtlichen Entzugs der elterlichen Sorge von Vormund oder Ergänzungspfleger*in herangezogen werden. Eine Unterbringung nach § 33 SGB VIII, in Folge einer Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) als Krisenintervention, ist ebenfalls möglich. „Vollzeitpflege kann als Kurzzeit-, Langzeit- oder Dauerpflege, als Verwandten- oder Fremdpflege, als Bereitschaftspflege, in sozial-, sonder- und heilpädagogischen Pflegestellen oder auch in Erziehungsstellen gewährt werden“. Der Begriff der Vollzeitpflege findet also nicht nur für die Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 33 SGB VIII Verwendung, sondern betrifft „alle Unterbringungen in einem familiären Setting über Tag und Nacht“ (ebd.).

Bei Kindern, deren seelische Gesundheit voraussichtlich mehr als sechs Monate „von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht“, spricht der Gesetzgeber von einer drohenden „seelischen Behinderung“. Betrifft dies laut Gutachten eines Facharztes ein Pflegekind, wird die Vollzeitpflege um Eingliederungshilfe nach § 35a SGB III ergänzt. Hierbei ist zu betonen, dass im Gegensatz zur Hilfe zur Erziehung, das Kind und nicht die Sorgeberechtigen anspruchsberechtigt sind.

Die wichtigste Rechtsbeziehung zwischen Eltern und Kindern, nämlich die elterliche Sorge, ist in den §§ 1626 ff. BGB detailliert dargelegt. Besondere Relevanz für die Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII liegt im Kernbereich der Personensorge (§§ 1631 ff. BGB). Für die Fälle, in denen die Ausübung der elterlichen Sorge durch einen Elternteil dem Kindeswohl zuwider läuft, kann der Elternteil hierhingehend in der Ausübung entsprechend der §§ 1666 ff. BGB begrenzt werden (vgl. Kokott-Weidenfeld/Reidel 2013: 39).

Mit der Reform des Kindschaftsrechts (1998) im Bürgerlichen Gesetzbuch wurde ein Umdenken in Bezug auf das Umgangsrecht von Kind und Eltern eingeläutet, welches ebenfalls zum Themenkomplex der elterlichen Sorge gehört (vgl. Helming et al. 2010: 16). Mit §§ 1684 ff. BGB verfolgt der Gesetzgeber insbesondere den Rechtsanspruch des Kindes auf Umgang zu seinen Eltern und anderen Personen, mit denen es in enger sozial-familiärer Beziehung steht. Die Eltern sind in der Umkehr berechtigt, aber auch verpflichtet, diesen Umgangsanspruch zu erfüllen (vgl. Kokott-Weidenfeld/Reidel 2013: 139). Pflegekinderverhältnisse werden von dieser Rechtsnorm demnach auch tangiert. So erstreiten sich Herkunftseltern vermehrt das Recht auf Kontakte zu ihrem fremdplatzierten Kind. Das Ermöglichen und die Gestaltung von Kontakten zur Herkunftsfamilie bietet nach wie vor Konfliktpotential, während dies bei Kindern, die in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe untergebracht sind, inzwischen selbstverständlicher Bestandteil der Hilfeplanung ist (vgl. Helming et al. 2010: 16).

Mit der Ablösung des Gesetzes für Jugendwohlfahrt (JWG) durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, SGB VIII) im Jahr 1990, änderte sich die Praxis hinsichtlich der Ausgestaltung der Hilfeprozesse. Die ehemals „obrigkeitsstaatlichen Erlaubnis- und Aufsichtsverfahren“ mit Kontrollauftrag in der Hauptsache, wandelten sich zu einem „kooperativen Beratungs- und Unterstützungsverhältnis“ (§§ 36, 37 SGB VIII) (vgl. Helming et al. 2010: 8). Mit dem Instrument der Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII) erhielt der Hilfeprozess eine andere Qualität, da nunmehr ein beteiligungsorientierter Verfahrensweg festgeschrieben wurde, der die Personensorgeberechtigten und den jungen Menschen fortan in die Entscheidung der Inanspruchnahme einer Hilfe miteinzubinden hatte (vgl. ebd.). Das § 36 SGB VIII zu Grunde liegende Recht auf Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ergibt sich aus § 8 SGB VIII:

„(1) Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Sie sind in geeigneter Weise auf ihre Rechte im Verwaltungsverfahren sowie im Verfahren vor dem Familiengericht und dem Verwaltungsgericht hinzuweisen.“

Das im Jahr 2012 in Kraft getretene Bundeskinderschutzgesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen brachte u. a. eine Erweiterung des § 8 SGB VIII mit sich. Diese ergänzte das bereits bestehende Beteiligungsrecht um das Recht auf Beschwerde, welches sich allerdings nur auf junge Menschen in stationären Einrichtungen bezieht (§ 8b Abs. 2 S. 2). „Beschwerdestellen und Ombudsmänner/-frauen kennt das Gesetz (SGB VIII) nicht“ (Schruth 2012: 82).

2.3 Kinderrechtspraxis

„Das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedete und mittlerweile von 196 Staaten ratifizierte Übereinkommen über die Rechte des Kindes ist weiterhin Gegenstand rechtlicher und moralischer Auseinandersetzungen“ (Krappmann 2013). Als komplexes Gebäude der Kinderrechte formuliert die Kinderrechtskonvention2 allgemeinste Anforderungen der Gerechtigkeit in der Haltung gegenüber Kindern, bis hin zu Individualansprüchen gegenüber dem Staat. Im Folgenden soll jedoch die grundlegende Anerkennung des Kindes als Träger eigener Rechte durch die CRC im Fokus stehen, welche dessen Subjektstellung und damit seine Menschenwürde über alles stellt. Daher gilt es zu erarbeiten, welcher Haltung und welchen Handelns es bedarf, um das Kind als Subjekt anzuerkennen.

Bereits vor der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention war es engagierten Menschen ein Anliegen, sich über die Rechte von Kindern Gedanken zu machen. So setzte sich Janusz Korczak unter dem Eindruck seiner Erfahrungen mit den ihm anvertrauten Waisen im Waisenhaus Dom Sierot pädagogisch mit Fragen auseinander, die sich kritisch mit der allgemeinen Haltung, dass der Status des Kindes in Opposition zum Status des Menschen stünde, befassten. Er sah hier die Verbindung zu Machtinteressen von Erwachsenen. Nach seiner Vorstellung gebe es keine Kinder, nur Menschen. So schrieb er bereits 1899: „Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es bereits“ (Korczak1967/2018).

So war Korczak quasi ein Vordenker der verschiedenen, kontrovers diskutierten Konzepte von Paternalismus gegenüber Kindern. Der heutige Diskurs um Menschenrechte von Kindern in Verbindung mit der daran orientierten Praxis, wirft die Frage auf, ob paternalistische Denkströmungen mit den Kinderrechten vereinbar sind. Was ist mit Paternalismus gemeint? Der Begriff wird vornehmlich in der Moral- und Rechtsphilosophie diskutiert, wobei es um hierarchische Beziehungsmuster geht, die den „unterlegenen“ Akteur in seiner Freiheit oder Autonomie einschränken (vgl. Liebel 2017: 384). Für den Paternalismus dient die Eltern-Kind-Konstellation (bzw. dem Wortursprung nach, die Vater-Kind-Konstellation) als Modell, wonach „die durch Einsicht und Erfahrung überlegenen Eltern, Sorge für das Wohl und die Entwicklung ihrer noch unmündigen Kinder, und zwar im Ernstfall auch ohne Rücksicht auf deren eigene Wünsche“, tragen (Grunert 2006). In Abgrenzung zum Begriff Adultismus, der den Machtmissbrauch gegenüber Kindern und Jugendlichen bzw. die Diskriminierung Minderjähriger durch Erwachsene bezeichnet (Dudenredaktion o. J.a) wird Paternalismus gegenüber Kindern zumeist damit gerechtfertigt, dass er dem Wohl der Kinder dient oder in ihrem Interesse geschieht.

In der Geschichte der Kinderrechte lassen sich nach Liebel (2017) zwei Strömungen erkennen, wobei es in der einen Denkweise um den Schutz der Kinder vor Gefahren und Risiken geht. Zwar ist von Kinderrechten die Rede, sie werden jedoch nicht als deren subjektive Rechte verstanden, sondern vielmehr als ihr Anspruch auf Sorge für ihr Wohl durch sich dazu verpflichtende Erwachsene bzw. Staaten (vgl. ebd.: 388). Das davon abweichende Paradigma versteht die Kinderrechte als subjektive Rechte und strebt eine aktive Mitwirkung der Kinder in der Gesellschaft an. Liebel (2017: 387) vertritt die Auffassung, dass im Verhältnis von Erwachsen und Kindern dann von Paternalismus gesprochen werden sollte, „wenn Erwachsene gegen den geäußerten oder anzunehmenden Willen des Kindes in dessen Leben eingreifen […].“

In Bezug auf Pflegekinder könnte dies ggfs. zutreffen, wenn diese ihre eigene Not nicht selbst erkennen können und die Bindung zu den Eltern stärker ist, als das Gefühl für die Gefahr in der sie sich möglicherweise befinden. Die Vorstellungen über die Interessen der Kinder beschäftigen Teams in Jugendämtern, stationären Einrichtungen und Familiengerichten. Die Frage ist, wie lassen sich diese am besten eruieren. Neben den Maßstäben zur Überprüfung der Verfügbarkeit von Grundvoraussetzungen für die Bedürfnisbefriedigung der Kinder und die Förderung ihrer Entwicklung, bleibt ein weites Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten, was denn nun das Beste für das Kind ist. Der Soziologe Lothar Krappmann (2013: 7 f.) befasste sich mit der Frage, ob Kinder zur Bestimmung des Kindeswohls beitragen könnten, welches, wie zuvor bereits ausgeführt, bis heute nicht eindeutig definiert ist. Er weist darauf hin, dass der Grundgedanke der Kinderrechtskonvention in der originalsprachlichen Beschreibung von „Kindeswohl“, als „best interests of the child“ sichtbar wird, nämlich:

„Das Kind ist ein Subjekt, das seine eigenen Meinungen und Handlungsziele hat“ (ebd.).

In der Formulierung sei die Aufforderung zu erkennen, dass die Klärung, was zum Wohl des Kindes ist, bzw. worauf das Kind ein Recht hat, aus der Sicht des Kindes und unter Einbeziehung seiner Person zu geschehen habe.

Mit der Frage, wie der Kindeswohlbegriff sinnvoll mit den Rechten der Kinder verbunden werden kann, beschäftigt sich auch der Philosoph Schickardt (2012), der mit seiner Arbeit Grundlagen für eine rechtebasierte Kinderethik formuliert. Gerade bei unmündigen Kindern sei der Kindeswohlbegriff von herausragender Relevanz, da es ethisch und praktisch besonders wichtig sei, „diesen Kindern Rechte zuzusprechen, mit denen ihre wichtigsten Interessen normativ und effektiv geschützt werden“ (vgl. ebd.).

Da sich seiner Auffassung nach die inhaltliche Bestimmung des Kindesinteresses nicht allein an Rechtsnormen orientieren darf, ist es erforderlich die Rechte von Kindern auf eine Ebene mit denen Volljähriger zu stellen. Eingriffe der Erwachsenen in das Leben eines Kindes, deren Rechtfertigung von dieser Haltung geprägt sind, nennt der Autor „weichen“ Paternalismus. Im Gegensatz dazu steht der „harte“ Paternalismus, der ein zwar gutgemeintes, jedoch willkürliches Handeln meint.

Es herrscht Einigkeit darüber, dass junge Menschen immer zu einem gewissen Grad auf den Schutz durch Erwachsene angewiesen sind und diese, aufgrund bestimmter Erfordernisse, Entscheidungen an ihrer Stelle treffen, ohne sie miteinzubinden, z. B. wenn Gefahr in Verzug ist und ein sofortiges Eingreifen erforderlich wird. Eine von Liebel geforderte antipaternalistische Praxis rechtfertigt ihr Handeln nicht einzig mit der Tatsache, dass es sich um ein Kind handelt. Vielmehr zeichnet diese sich dadurch aus, dass sie das vermeintlich schwächere Kind darin unterstützt, „die aus dem Klein- oder Schwachsein in der gegebenen Gesellschaft sich ergebenden Nachteile zu kompensieren“ (Liebel 2017: 393). Konflikthafte Situationen, bei denen es um Kinderinteressen geht, könnten „im Sinne geteilter Verantwortung“ (ebd.), das Kind miteinbeziehend, bewältigt werden. Situationen mit Konfliktpotential stellen solche Lebenslagen dar, in denen Kinder von Inpflegenahme betroffen sind.

In Artikel 12 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, dem Kind das Recht auf freie Meinungsäußerung „in allen das Kind berührenden Angelegenheiten” zuzusichern, vorausgesetzt, es ist in der Lage, sich seine eigene Meinung zu bilden. Diese Meinung ist „angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife zu berücksichtigen“.

Betroffene Kinder anzuhören und ihre Wünsche insofern ernst zu nehmen, dass sie in Entscheidungen mit einfließen, trifft laut Landsdown (2005: 17) gleichsam auf Kritiker, die befürchten, dass Kinder dadurch z. B. respektlos würden. Sie kontert, dass das Gegenteil der Fall sei, wenn Kindern Gehör geschenkt wird, da sie gleichsam lernen, dass diese Prozesse auf Gegenseitigkeit beruhen: „[…], learning that they will have their views taken seriously necessitates taking on board the lesson that other people’s views must also be listened to and respected. In this way, children are given the opportunity to understand the reciprocal and mutual responsibilities that arise with rights”.

Artikel 12 sei nicht so zu verstehen, dass Kindern die Entscheidungsverantwortung zu übertragen sei, sondern es vielmehr um demokratische Aushandlungsprozesse ginge (vgl. ebd.).

Die Frage, die sich zudem aufdrängt, - was brauchen Kinder, um sich auf Augenhöhe beteiligen zu können? Ist nicht Information Voraussetzung für die Befähigung zur Teilnahme an Entscheidungsprozessen? Die repräsentative Bottom-up-Studie „Berufliche Realität im ASD (2018), ergab, dass von allen Befragten nur eine Interviewpartnerin bestätigte, dass Kinder über das Recht auf Beteiligung und Beschwerde auch innerhalb der Einrichtung informiert werden (vgl. Beckmann et al. 2018: 104). Auch wenn sich dieses Beispiel nicht auf Pflegefamilien bezieht, liegt die Vermutung nahe, dass Kinder bezüglich ihrer Optionen auch in diesem Zusammenhang nur unzureichend aufgeklärt werden.

Das Ergebnis einer (von der Verfasserin dieser Arbeit selbst) bundesweit durchgeführten stichprobenartigen Email-Befragung3 bei 31 Jugendämtern ergab fünf Reaktionen mit Antworten zu zwei Fragen, wovon sich eine Frage auf die Informierung der Pflegekinder bezog. Es findet in den folgenden Zitaten eine Beschränkung auf die erkenntnisleitenden Antworten statt, deren Interpretation hermeneutisch4 hergeleitet ist.

Frage 1: In welcher Form werden Pflegekinder durch Ihren Fachdienst zu Beginn der Hilfe über die neue Situation, ihre Rechte, Perspektiven etc. aufgeklärt (mündlich durch Fachkraft, Dritte, Pflegeeltern oder schriftlich durch Broschüre o. ä.)?

Zwei kontrastierende Antworten veranschaulichen, wie sehr die Auffassung über Kinderrechte variieren kann:

„Der Kreis […] bringt überwiegend Kinder unter, denen die Situation erklärt wird, aber keine Rechtsbelehrung“. und „Die Pflegekinder werden, bevor sie in die Pflegefamilien kommen, durch die Fachkraft des Pflegekinderdienstes kindgerecht im persönlichen Gespräch über die neue Situation und ihre Perspektiven, aber auch über ihre Rechte aufgeklärt“.

Bei dem ersten Beispiel scheint eine legalistische Idee von „Rechten“ vorzuherrschen. Die Formulierungen („Belehrung“, „erklären“) lassen eine paternalistische Haltung der Fachkraft vermuten.

Die Wortwahl der zweiten Antwort („kindgerecht“, „persönlich“, „aufklären“5 ) lässt auf eine Subjektstellung des Kindes schließen.

In der Sozialen Arbeit ist der Grundsatz mittlerweile unbestritten, dass die Adressat*innen an den sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen sind. Die Begründung liegt sowohl ganz prinzipiell in einer am Subjekt, seiner Lebenswelt und seinem Eigensinn orientierten Haltung der Professionellen, als auch im eher technologischen Sinn, nämlich in der höheren Wirksamkeit der Interventionen. Dieser Anspruch gilt fraglos auch für Kinder, die zu Klient*innen Sozialer Arbeit geworden sind (vgl. Reimer/Wolf 2010: 479). Da dies jedoch abhängig vom Entwicklungsstand gemacht wird und in der Gesetzgebung bislang keine Altersgrenzen oder Maßstäbe für die Einschätzung des Reifegrades vorgegeben sind, hat jede Fachkraft im Hilfeverfahren selbst eine Beurteilung vorzunehmen, welches Maß der Beteiligung des Kindes altersgemäß ist (vgl. Beckmann et al. 2018: 110).

Die Einschätzung des Entwicklungsstandes des Kindes kann nur über das persönliche Gespräch oder die Beobachtung des Kindes in Interaktion erfolgen. Die genannte Befragung der Allgemeinen Sozialen Dienste ergab jedoch, dass die Beteiligung jüngerer Kinder im pädagogischen Alltag manchmal unterbleibt, was zum Teil auf eine hohe Arbeitsbelastung zurückgeführt wird. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der Forschungsgruppe Pflegekinder der Universität Siegen aus ihrem „Leuchtturmprojekt PflegeKinderDienst“ (LVR-Landesjugendamt 2011). Auf der Grundlage des erhobenen Interviewmaterials ehemaliger Pflegekinder, waren die Forscher in der Lage, eine praxisorientierte Arbeitshilfe zur Vollzeitpflege zu erarbeiten. Im Erleben der Interviewpartner*innen ließ sich ein deutlicher Unterschied zwischen einer tatsächlichen Beteiligung und einer „Scheinbeteiligung“ ausmachen. So entstand häufig der Eindruck, „dass Partizipation lediglich als ein formalisierter Prozess missverstanden wird“ (ebd.: 16). Wenn die interviewten Kinder und Jugendlichen jedoch an den für ihr Leben schwerwiegenden Entscheidungen beteiligt und ihre Ängste und Wünsche von einem kompetenten, vertrauensvollem Erwachsenen gehört wurden, der sie dazu über die Gründe und Folgen der Geschehnisse aufklärte, dann konnten die Belastungen deutlich besser bewältigt werden. Die empfohlenen Standards, die aus den Erhebungen abgeleitet wurden, sind an das Stufenmodell der Partizipation nach Petersen angelehnt (zit. in ebd.):

- Kinder und Jugendliche sind über das, was mit ihnen geschieht, auf eine ihrem Entwicklungsstand angemessene Weise zu informieren.
- Sie sind mit ihren Wünschen, Befürchtungen und Meinungen zu hören und diese wertzuschätzen.
- Entscheidungen sind soweit wie möglich partnerschaftlich auszuhandeln oder von Kindern und Jugendlichen selber treffen zu lassen.
- Bei allen Entscheidungen – auch wenn diese aus gewichtigem Grund gegen den Willen des Kindes getroffen werden – ist um ihre Zustimmung zu werben.

[...]


1 Gemäß Art. 1 der UN-KRK ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, soweit die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht nicht früher eintritt. Wenn im Folgenden von Kindern die Rede ist, sind daher Jugendliche immer mit gemeint.

2 Synonym für das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child, CRC)

3 Datum der Befragung: 01. Dezember 2018

4 „Die Hermeneutik als Interpretations- und Deutungskunst verfolgt methodisch einen qualitativen Ansatz mit dem Ziel eines besseren Verstehens“ Aeppli et al. (2016).

5 Im Sinne von „Klarheit in etwas Ungeklärtes bringen“, „jemandes […] ungenügende Kenntnis über etwas […] beseitigen“ Dudenredaktion (o. J.b)..

Excerpt out of 72 pages

Details

Title
Wie die Resilienz von Pflegekindern gestärkt werden kann. Ansätze für eine veränderte Kinderrechtspraxis in der Kinder- und Jugendhilfe
Author
Year
2021
Pages
72
Catalog Number
V540677
ISBN (eBook)
9783963551208
ISBN (Book)
9783963551215
Language
German
Keywords
Pflegekinderwesen, Resilienz, Kinderrechte, Pflegefamilie, Pflegekind, Resilienzförderung, Sozialpädagogik, Partizipation, Vulnerabilität, Schutzauftrag, Kinderrechtspraxis
Quote paper
Yvonne Mehigan-Byrne (Author), 2021, Wie die Resilienz von Pflegekindern gestärkt werden kann. Ansätze für eine veränderte Kinderrechtspraxis in der Kinder- und Jugendhilfe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/540677

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