Wiederkehr der großen Mutter? Überlegungen zum erotischen Sadomasochismus


Diskussionsbeitrag / Streitschrift, 2020

47 Seiten

Jasper Janssen (Autor:in)


Leseprobe


Inhalt

EINLEITENDE GEDANKEN

HINGABE
Die moderne Domina - ein Relikt matriarchaler Kultur?
Magna Mater
Der Kybele-Kult: Blut muss fließen!
Deutung 1: Die Kastration als Opfer
Deutung 2: Kultischer Geschlechtswandel

EIN WEITES FELD: CHRISTENTUM UND SADOMASOCHISMUS
Sadomasochismus als Metapher
Wie die Keuschheit ins Christentum kam: Eunuchenfür das Himmelreich
Exkurs: Der Zölibat: „Wer es fassen kann, der fasse es“. Oder: Hingabe
Die Erfindung der Perversionen: DerEinspruch des Michel Foucault gegen die Repressionshypothese
Die erregte Frömmigkeit: Das Lob der Peitsche
Phänomenologische Parallelen zwischen christlichen und sadomasochistischen Praktiken
Devote Christ_innen, devote Sadomasochist_innen

SM ALS INDIZ? SADOMASOCHISMUS UND MENSCHLICHE NATUR
Kulturpessimismus a la Paglia
Von Schlüsselherrinnen, Göttinnen und keuschen Männern
Die Liberalisierungsthese
Was ist: erotischer Sadomasochismus?
Über das Gewalttabu

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

Sexuell motivierte 'sadomasochistische' Praktiken stellten in den vergangenen Jahrzehnten ein beliebtes Sujet in Literatur, Film und Zeitschriften da; man denke etwa an die einhundert Millionen Mal verkaufte Romantrilogie Shades of Grey, die überdies verfilmt und von einem Millionenpublikum gesehen wurde. Langsam weicht das abgenudelte Klischee der toughen, selbstbewussten Domina, die in schwarzes Leder oder Latex gehüllt reifen Männern den Hintern versohlt, langsam dem Bewusstsein, dass sich unter sadomasochistischer Sexualität eine äußerst heterogene und komplexe Thematik verbirgt.

In ihrem bekannten (und umstrittenen) Werk Die Masken der Sexualität bezieht Camille Paglia die Vokabel 'Sadomasochismus' sowohl auf entspechende erotische Praktiken als auch auf das injeder denkbaren Gesellschaft vorhandene Potential an Aggression und Brutalität. Der wesentliche Zug des Menschen 'Natur' sei die Sexualität. Und hier kommen Aggression und Gewalt ins Spiel: als eine ursprüngliche Triebenergie sei Sexualität ohne Aggression nicht zu haben. Sadomasochistische Praktiken seien schlicht Ausdruck der durch keine kulturellen Grenzen eingehegten 'Natur'. Bereits die im Rahmen antiker Fruchtbarkeitskulte üblichen drastischen Prozeduren hätten das prekäre Potential menschlicher Sexualität thematisiert und demonstriert.

Welche Rolle spielt mit Blick auf den Sadomasochismus das Christentum? Könnte es sein, dass gerade die Abneigung der Christen gegen die zumeist als sündhaft empfundene 'Natur' des Menschen sadomasochistische Intentionen stimuliert hat? 'Lust' und 'Begehren' erschöpfen sich nicht ausschließlich im Vollzug der eigentlich sexuellen Handlungen; affektive Erregung vermag sowohl abstinent Lebende als auch sexuell Aktive zu ergreifen.

Überdies haben christliche Lehrer und Vordenker trotz ihrer skeptischen Haltung (oder vielleicht gerade derentwegen) den Sex 'diskursiviert' (Foucault) und insofern modernen psychologischen, medizinischen und sexualwissenschaftlichen Erörterungen vorgegriffen.

Im Fokus des letzten Abschnitts steht die Frage, wie gewalttätig (und machtaffirmativ) diese Spielart der 'Neosexualitäten' (Sigusch) ist. Paglia wertet die Existenz sadomasochistischer Praktiken als Indiz gesellschaftlicher Dekadenz. Diese Wertung wäre dann gerechtfertigt, wenn sich im Kielwasser sexueller Liberalisierung ein Anstieg von Alltagsgewalt in westlichen Gesellschaften nachweisen lassen würde. Oder wenn zumindest Sadomasochist_innen im außersexuellen Kontext von gängigen Normen, von gängiger Normalität abweichen würden. Bezeugt die rezente Popularität des erotischen Sadomasochismus die Insistenz menschlicherNatur - oder gerade deren kulturelle Wandelbarkeit?

EINLEITENDE GEDANKEN

Mit der Schwächung politischer und religiöser Autorität (...) wird Hierarchie nunmehr in der Sexualität reaffirmiert, und zwar in der archaisierenden Gestalt des Sadomasochismus (...) Der Sadomasochisms ist von kalter Förmlichkeit und nichts weiter als die komprimierte Darstellung der biologischen Struktur von Sexualität. Jeder Orgasmus ist entweder Beherrschung oder Unterwerfung: beide sexuellen Erfahrungsmöglichkeiten stehen grundsätzlich beiden Geschlechtern zur Verfügung und sich sowohl bei Gruppen wie bei Paaren und Einzelnen. (Camille Paglia, Masken der Sexualität)

Ich habe in meinem Titel den Begriff Erotischer Sadomasochismus gewählt. Damit nehme ich eine Abgrenzung vor. Denn während einmal mit der Benennung Sadomasochismus eine Reihe von sexuellen Praktiken verhandelt wird, existiert, daraus abgeleitet, eine - so stellte es bereits 1940 Theodor Reik fest1 - entsexualisierte Variante: im täglichen Sprachgebrauch werden bestimmte Verhaltensweisen mit den Begriffen 'sadistisch' bzw. 'masochistisch' etikettiert. Überdies hat der Begriff'sadomasochistisch' bereits vor Jahrzehnten in den Sozialwissenschaften Furore gemacht, ich erinnere nur an die von Erich Fromm geprägte Vokabel sadomasochistischer Sozialcharakter2 Sexuell motivierte 'sadomasochistische' Praktiken stellten in den vergangenen Jahrzehnten ein beliebtes Sujet in Literatur, Film und Zeitschriften da; auch wenn erst die weltweit mehr als einhundert Millionen Mal verkaufte Romantrilogie Shades of Grey, die überdies verfilmt und von einem Millionenpublikum gesehen wurde, eine große Öffentlichkeit mit der Thematik der BDSM- Praktiken konfrontiert hat. So weicht das abgenudelte Klischee der toughen, selbstbewussten Domina, die in schwarzes Leder oder Latex gehüllt reifen Männern den Hintern versohlt, langsam dem Bewusstsein, dass sich unter sadomasochistischer Sexualität eine äußerst heterogene und komplexe Thematik verbirgt. Es gibt immerhin Handlungen und Begierden, deren sadomasochistischer Charakter bis heute umstritten ist, so Formen der möglicherweise extrem schmerzhaften Body Modification.

Meine hier vorgebrachten Überlegungen und Thesen wurden maßgeblich von der Lektüre Camille Paglias Die Masken der Sexualität angeregt.3 Es ist die von Paglia betonte Macht der Biologie, welche ihren Blick auf den Sadomasochismus bestimmt. In dem vorangestellten Zitat betont Paglia die 'Natürlichkeit' des Sadomasochismus, dieser wird so zur Conditio Humana. Einzuräumen ist, dass so allen Versuchen, sadomasochistische Sexualität als pervers bzw. abartig zu klassifizieren oder etwa als ein Produkt frühkindlicher Traumatisierungen - also ungünstiger gesellschaftlicher Einflüsse - zu werten, der Boden entzogen ist.

Paglia vertritt einen im Vergleich mit anderen Theoretiker_innen erweiterten Begriff von Sadomasochismus. Sie verwendet die Vokabel 'Sadomasochismus' sowohl für entspechende erotische Praktiken als auch mit Bezug auf das injeder denkbaren Gesellschaft vorhandene Potential an Aggression und Brutalität. Der wesentliche Zug des Menschen 'Natur' sei, meint Paglia, die Sexualität. Und hier kommen Aggression und Gewalt ins Spiel: als eine ursprüngliche Triebenergie - implizit knüpft Paglia an Freud an4 - sei Sexualität ohne Aggression nicht zu haben.5 Sadomasochistische Praktiken seien schlicht Ausdruck der durch keine kulturellen Grenzen eingehegten 'Natur'. Paglia stellt also ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen Sexualität und Brutalität her und verweist auf dessen erhebliche gesellschaftliche und politische Konsequenzen: “Aber Sexualität ist Macht, und alle Macht ist ihrem Wesen nach aggressiv”.6

Mit anderen Worten: Grausamkeiten und Machtstreben haben eine libidinöse Komponente. Mit Blick auf den erotischen Sadomasochismus - heute gewöhnlich als BDSM tituliert - ist diese Beziehung wesentlich. Denn im Fokus dieser facettenreichen Erotik stehen machterotische und gewalterotische Praktiken, die dem äußeren Anschein nach zivilisierter Mentalität zuwiderlaufen.7 Und weil Paglia meint, dass noch moderne SMler lediglich ihr 'natürliches', durch keine soziale Konditionierung oder Kontrollmechanismen gebremstes Potential ausleben, gewinnt die historische Dimension sadomasochistischer Praktiken an Gewicht, denn Paglia sieht rezente sadomasochistische Formate als Regression in archaische Epochen. Hier hat sie auf die im Rahmen antiker Fruchtbarkeitskulte üblichen drastischen Prozeduren verwiesen, die der 'Großen Mutter' gewidmet waren.8

Diese Materie steht im Fokus meines ersten Teils. Dabei spielen die Aspekte 'Hingabe' und 'Keuschheit' eine wesentliche Rolle - mithin Aspekte, die auch in rezenten sadomasochistischen Handlungen relevant sind.

Im Gegensatz zu den anderen monotheistischen Religionen hat der Modus der Keuschheit (der vielfach eine Form der Hingabe darstellt) im Christentum weit über dessen institutionelles Personal hinaus eine wesentliche Rolle gespielt. Könnte es sein, dass gerade die Abneigung der Christen gegen die zumeist als sündhaft empfundene 'Natur' des Menschen sadomasochistische Intentionen stimuliert hat? Die These einer 'christlichen Vorgeschichte' des Sadomasochismus9 scheint jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen zu sein. Das Exempel 'Keuschheit' erweist, dass 'Lust' und 'Begehren' über eine ausschließlich sexuell verstandene Lust hinausgehen; es ist affektive Erregung, welche aus welchem Grund auch immer sowohl abstinent Lebende als auch sexuell Aktive ergreifen kann.

Das Christentum hat die menschliche Sexualität nicht nur diffamiert und zu vermeiden versucht - was vielfach kritisiert wurde und wird. Gerade im Zuge ihrer skeptischen Haltung haben christliche Lehrer und Vordenker den Sex wieder und wieder zur Sprache gebracht, bzw. - mit Foucault gesprochen - diskursiviert und insofern modernen psychologischen, medizinischen oder aber sexualwissenschaftlichen Erörterungen vorgegriffen.

Zuletzt diskutiere ich Paglias These des SM als Conditio Humana mit Bezug auf die gegenwärtige BDSM-(Sub?-)Kultur. Der Sex, soweit hat Pagla recht, sagt etwas über die Gesellschaft aus, in der er stattfindet. Im Fokus steht die Frage, wie gewalttätig (und machtaffirmativ) diese Spielart der 'Neosexualitäten' (Sigusch) ist. Die These Paglias wäre lediglich dann gerechtfertigt, wenn sich ein Anstieg von Alltagsgewalt in westlichen Gesellschaften nachweisen lassen würde. Oder wenn zumindest die diese Erotik Praktizierenden im außersexuellen Kontext gewaltaffinen Lösungen von Problemen und/oder antidemokratischen politischen Gepflogenheiten einen größeren Kredit einräumen als der Rest der Gesellschaft, also von gängigen Normen, von gängiger Normalität abweichen. Ich werde zu zeigen versuchen, dass sadomasochistischer Sex nicht genetisch veranlagte Tendenzen des Menschen 'beweist', sondern - wenn es sie denn gibt - deren Plastizität, soll heißen: kulturelle Wandelbarkeit - offenlegt.

HINGABE

Die moderne Domina - ein Relikt matriarchaler Kultur?

Lady Sophia (die sich in Wirklichkeit anders nennt) "ist eine absolute und faszinierende Persönlichkeit. (...) Sie ist die wahre matriarchale Amazone in der SM-Szene, eine wahre Lady! (...) Matriarchale Lebensformen gibt es vereinzelt auch heute noch. Aufgrund von kultureller Assimilierung und fortschreitender Globalisierung sind sie aber leider zum Aussterben verurteilt. Diese übriggebliebenen matriarchalen Kulturen sind lebende Beweise, dass von Frauen dominante Gesellschaftsformen geschichtliche Realität sind. Letztes greifbares Resultat ist unter anderen (sic!) Lady" Sophia. Die Lady hebt ihren natürlich angeborenen und für ihre Kunden vorteilhaften Sadismus hervor, bietetunter 'Vorlieben/Neigungen' u.a. Flagellation, Feminisierung, Keuschhaltung und Rohrstockerziehung an, während der Intimkontakt mit Kunden zu ihren 'Tabus' zählt.

Diesen Eintrag können Interessierte auf der Webseite galerie-de-sade.de lesen, auf der professionelle, auf sado-masochistische Exerzitien spezialisierte Sexarbeiter_innen ihre Dienste anbieten.

Mit ihrer Annonce könnte sich Lady Sophia auf einen 2014 erstellten Eintrag von Snow Queen zum Thema 'Matriarchat' im Lexikon der Sklavenzentrale berufen. Die Sklavenzentrale ist das verbreiteste Internetportal der BDSM-Community im deutschsprachigen Raum mit über 200000 registrierten Mitgliedern. Der Begriff ist hier ergänzt durch den in Klammem gesetzten Terminus 'Female Supremacy'. Synonym könne auch der englische Ausdruck 'Gynocrazy' verwandt werden, so die Autorin. Der Ausdruck 'Female Supremacy' bezieht sich in erster Linie auf eine sadomasochistische Konstellation, in der eine dominante Frau ('Femdom') einen submissiven Mann mehr oder weniger völlig beherrscht, möglicherweise in Form einer '24/7-Beziehung' (soll heißen: 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche). Dabei kann es zu einer weitgehenden Kontrolle der männlichen Sexualität bis hin zu deren vollständiger Unterdrückung kommen, möglicherweise unter Zuhilfenahme eines Keuschheitsgürtels, in radikalerer Variante gegebenenfalls durch Sterilisation (vermutlich meint Snow Queen hier Kastration und/oder Penektomie - durch eine Sterilisation wirdjedenfalls nicht die Sexualität eines Mannes unterdrückt, sondern lediglich seine Zeugungsfähigkeit; J.J.).

In einem zwei Jahre später hinzugefügten Nachtrag heißt es, dass die Gleichsetzung der beiden Begriffe unglücklich gewählt worden sei. Denn 'Female Supremacy' bezeichne eine Lebensform bzw. Weltanschauung, derzufolge Frauen absolute Vormacht und Vorrang gegenüber Männern haben, beziehe sich also definitiv auf eine nicht-egalitäre Konstellation. Anders dagegen der Begriff 'Matriarchat'. Denn dieser meine eine egalitäre Gesellschaftsform, in der Frauen freilich eine zentrale Rolle spielen, aber keineswegs den Männern übergeordnet seien. Die mütterliche Sippe stelle die eigentliche Familie dar, Ehe und Monogamie würden abgelehnt, der biologischen Vaterschaft werde keine herausragende Bedeutung zugemessen. Es handele sich um ein Reich der erotischen Freiheit und Freizügigkeit.

Die erotische Dominanz von Frauen innerhalb der SM-Szene im21. Jahrhundert auf der einen Seite, die Theorie/der Glaube, dass es in grauer Vorzeit von Frauen beherrschte Gesellschaften gegeben habe, auf der anderen Seite, wie passt dies zusammen? Ist von Frauen ausgeübte Dominanz tatsächlich das Überbleibsel einer matriarchalen Kultur, steht sie zumindest in deren Tradition? Gab es überhaupt nachweisbar ein Matriarchat (dessen Schwundspuren Lady Sophia noch in der Jetztzeit als existent vermutet)?

Magna Mater

Die moderne Sichtweise ist wesentlich geprägt durch die Darstellung, die das Matriarchat bei Johann Jacob Bachofen erfahren hat. Bachofen, ein Schweizer Rechtshistoriker, hat in seinen Abhandlungen erfolgreich das Bild eines - man beachte den Ausdruck! - 'gynaikokratischen' Zeit- und Weltalters propagiert, in dem die Auswirkungen des Muttertums als ein Liebe, Freiheit, Frieden, Gleichheit, Brüderlichkeit, Humanität und Solidarität beförderndes Prinzip den Alltag bestimmt haben soll. Bachofens 1861 erschienenes Werk DasMutterrecht erwies sich als eine wirkungsmächtige Anregung für linke politische Utopien, für Feministinnen, Ethnologen, Philosophen, Psychologen, Literaten, erotische Freidenker und viele mehr. Doch zugleich formulierte Bachofen eine Warnung: eine gynaikokratisch bestimmte Gesellschaft trage den Kern ihres eigenen Verfalls in sich, wenn sie sich nicht auf eine vaterrechtlich dominierte Stufe fortentwickeln würde.10

Bachofens Theorie von einer 'Weiberherrschaft' auf einer früheren Stufe der menschlichen Evolution ist heute wissenschaftlich längst nicht mehr haltbar.11 Nachweisen ließen sich lediglich matrilineare (hier ist die Abstammung in mütterlicher Linie wesentlich) und matrilokale (hier zieht der Bräutigam zur Familie seiner Frau) Gesellschaften.12

Immerhin hat Bachofen gesehen, dass sich mit dem Übergang hin zum Ackerbau Fruchtbarkeitskulte ausgebildet hatten, in deren Zentrum zumeist Vegetationsgöttinen standen.

Eine herausragende historische Bedeutung gewann der ursprünglich in Phrygien beheimatete Kult um die als Erdgöttin verehrte Kybele und ihren Geliebten Attis. Grundlage des Kults ist ein Mythos, den der griechische Reiseschriftstellers Pausanus aufgezeichnet hat. Pausanus zufolge ließ Zeus im Schlaf seinen Samen auf die Erde fallen. Es entstand das Zwitterwesen Agdistis, ein unbezwingbares, grausames und wildes Wesen, welches raubte, mordete und zerstörte. Aus Furcht vor Agdistis' Stärke veranlassten die Götter Dionysos, Agdistis zu entmannen. Der so von seiner Männlichkeit befreite Agdistis wurde zur Großen Mutter Kybele, aus den abgetrennten Genitalien entstand ein Mandelbaum. Der Flussnymphe Nana fiel eine Frucht des Baumes in den Schoß; sie gebar Attis, der zu einem wunderschönen Jüngling heranwuchs. Kybele, welche die von ihrem Vater zur Strafe eingesperrte und dem Hungertod preisgegebene Nana mit Speisen am Leben erhalten hatte, bis Attis geboren worden war, verliebte sich leidenschaftlich in denjungen Mann. Glücklich zogen die Beiden durch die phrygischen Berge. Doch heiratete Attis die Tochter des Königs von Pessinus. Rasend vor Eifersucht erschien Kybele auf der Hochzeit, schlug die Gäste mit Wahnsinn. Auch Attis verlor den Verstand, lief hinaus in den Wald, kastrierte sich unter einer Pinie, verblutete. Kybele bat Zeus darum, Attis wieder zum Leben zu erwecken. Dieser gewährte lediglich, dass Attis' Leib nie verwesen solle. Kybele bestattete Attis, setzte eine aus Eunuchen bestehende Priesterschaft ein und stiftete einen Kult.

Im phrygischen Pessinus wurde das angebliche Grab des Attis verehrt. Jeden April beging man im dortigen Kybeleheiligtum ein fünftägiges Fest. Das Kultobjekt im Heiligtum war ein kleiner unbehauener schwarzer Stein, der vorgeblich vom Himmel gefallen war. In diesem Stein war die lebensspendende Kraft der Göttin aufbewahrt.

Als die Römer im Zweiten Punischen Krieg (218 -201 v.Chr.) unter den Attacken Hannibals litten, fanden sie in den Sybillinischen Reden den Schicksalsspruch: Dir fehlt die Mutter, drum such - ich befehl es dir, Römer - die Mutter. Nach Konsultation des Delphischen Orakels überführten die Römer den Kultstein von Pessinus nach Rom. Man arbeitete den faustgroßen schwarzen Meteoriten in eine schwarzgesichtige Silberstatue ein und stellte diese auf dem Palatin aus. Der Sieg über die Karthager 202 v. Chr. wurde dem Schutz der Großen Mutter zugerechnet. Auf diese Weise wurde dieser Kult wichtiger Bestandteil des römischen Staatskultes und blieb bis in das nachchristliche 5. Jahrhundert populär.13 Im Römischen Imperium wurde Kybele zur Magna Mater schlechthin.

Der Kybele-Kult: Blut muss fließen!

Kybele ist eine ambivalente Göttin: allesgebährende Urmutter und Stifterin eines Kultes, mit dessen Hilfe sich auch aggressive Leidenschaften ausleben lassen. Agdistis galt als der Großen Mutter dunkler Aspekt. Attis wurde aus der Frucht eines Baumes geboren, unter einem Baum starb er, war zugleich Sohn, Geliebter und Opfer der Kybele. Auf diese Weise symbolisiert der Attis-Mythos das Sterben und die Wiedergeburt der Natur und bedeutet zugleich die Überwindung der Polarität zwischen Frau und Mann durch Selbstkastration. Die Götter waren Vorbild: es entwickelten sich Kastrationsriten nach ihrem Beispiel.

Denn berühmt,jaberüchtigt ist der Kybele/Attis-Kult, da sich im Rahmen der alljährlichen festlichen Umzüge die Galloi (Priester der Kybele) nach orgiastisch gesteigerter Raserei mit scharfen Steinen selbst coram publico entmannten - ein Akt der Hingabe an die Große Mutter!14 Nach der Selbst-Kastration erhielten die Galloi Frauenbekleidung und Schmuck; sie trugen diese Utensilien von da an. Das Ritual der Selbstverstümmelung wurde zum eigentlichen Merkmal des Kults im Priesterstaat Pessinus (so Plutarch), es blieb zunächst auf Kleinasien und Anatolien beschränkt. Nach dem Transfer des Kultes nach Rom blieben seine blutigen Aspekte anfangs umstritten, es war römischen Bürgern verboten, Priester der Göttin zu werden. Die Priester stammten aus der Heimat des Kultes. Doch faszinierten der ekstatische Charakter der Rituale, die Tänze und die farbenfrohe Bekleidung der Teilnehmer der Prozessionen die immer zahlreicher werdenden Schaulustigen. Unter der Regentschaft von Claudius wurde nun ein großes mehrtätiges Frühlingsfest im März gefeiert. Den Höhepunkt stellte der dies sanguinis dar: der 'Tag des Blutes'. Hier fügten sich die Galloi mit Messern und Beilen blutende Wunden zu, hier geißelten sie sich mit scharfen Peitschen. Auf dem Höhepunkt des Festes entmannten sich die Novizen in Ekstase. In die römische Adaption des Kultes wurde überdies die taurobolische Taufe integriert: der Myste oder Priester steht in einer Grube, wird überrieselt vom Blut eines über ihm geschlachteten Stiers. Möglicherweise ist das Stieropferritual - der Stier wurde anlässlich seiner Schlachtung kastriert - ein Ersatz für die Kastration der Kybele-Mysten.15 Die rituelle Selbstentmannung war keineswegs beschränkt auf den Kybele/Attis-Kult. Lukian beschreibt den Kult um die syrische Göttin (Dea Syria)'. im Rahmen eines großen Festes in Bambyke-Hierapolis fand die reale Kastrationszeremonie der Priester statt, die sich außerdem in Ekstase selbst geißelten, die lange Haare und bunte Gewänder trugen und sich die Augen schminkten. Die Parallelen zum Kult der Kybele sind unübersehbar, was für einen gemeinsamen Kern der Kulte spricht.16 Die Drastik des ursprünglichen Kultes hat verschiedene Deutungen angeregt.

Deutung 1: Die Kastration als Opfer

Der schottische Ethnologe James G. Frazer beschäftigt sich in seinem bekannten Werk The Golden Bough ausführlich mit dem Kybele-Kult. Sollen der Attis-Mythos und die daraus abgeleiteten Rituale die einmalige Entstehung der Welt erklären? Diese Interpretation reicht laut Frazer nicht aus. Warum sollten sich die Galli Jahr für Jahr wieder selbst entmannen, nur weil der Himmelsgott am Anfang des Weltenlaufs derart verstümmelt war? Der Brauch der rituellen Kastration sei entstanden als Reaktion auf die immerwährende Herausforderung, die Fruchtbarkeit der Erde erhalten zu müssen, welche doch alljährlich durch den Wechsel der Jahreszeiten gefährdet war. Damit sie den Boden befruchten, werden die abgetrennten Genitalien begraben.17 Frazer vermutete weiter, dass die rituelle Selbstkastration der Priester nicht durch den Attis-Mythos inspiriert worden ist, sondern dieser lediglich die bereits etablierte Praxis rechtfertigt hat.18

Es ist keineswegs nur die Entmannung durch öe/^Vkastration, die die Fruchtbarkeit der Vegetation gewährleisten soll. Sakral bedingte Kastrationen waren im Altertum weit verbreitet. Frazer nennt die Kulte um Astarte und Atunis, führt weiter einige Exempel von afrikanischen Ethnien auf.19 Auch im alten Ägypten mag es derartige Praktiken gegeben haben.20 Piotr O.Scholz stellt in seiner Kulturgeschichte der Eunuchen und Kastraten fest: „Die Anfänge des Eunuchentums und der Kastration liegen in den Fruchtbarkeitskulten der archaischen Zeit, aus denen sich auch Kastrationsriten nach dem Vorbild der Götter entwickelt haben, die schließlich den Grund für die Entmannung, besonders der Beschützer der Königsfrauen, lieferten. Wenn Göttinnen von Selbstentmannten umgeben waren, verlangten ihre irdischen Ebenbilder das gleiche, und die im Mythos verankerten Menschen folgten ohne Überlegung und Skrupel dem Vorbild der Götter.“21

Im hier verhandelten Zusammenhang sadomasochistischer Sexualität ist allerdings nur die Entmannung durch Selbstkastration, die eine radikale Form der Keuschheit erzwingt, von Interesse. Allenfalls eine auf Wunsch des Entmannten durch Andere vollzogene Kastration lässt sich damit gleichsetzen. Formen derEntmannung durch Gewaltanwendung, die aus mannigfaltigen Gründen inszeniert wurden, waren bis in diejüngste Vergangenheit grausam22 und möglicherweise von sadistischen Motiven geprägt - eine im heutigen Sinne sadomasochistische Basis hatten sie nicht. Der Gedanke, dass der Verzicht auf Sexualität und Fortpflanzung die Unsterblichkeit befördere, war - und ist! -vielen ethischen und religiösen Traditionen gemein.23 Gerade den Priestern wurde in vielen archaischen Kulturen absolute Keuschheit abverlangt: ein Selbstopfer als Hingabe, als Weg zur Erlösung. Wer seiner Virilität beraubt ist und infolgedessen keusch lebt, ist zugleich aus sittlicher und kultischer Perspektive rein.24

Diese Sichtweise hat sich in der Sprache niedergeschlagen und wirkt mitunter noch in der Gegenwart fort. Der Altphilologe Walter Burkert verweist im Zusammenhang seiner Diskussion der Praxis der Selbstkastration (Attis-Komplex) auf eine Legende, derzufolge sich verfolgte Biber ihre Hoden abbeißen und diese ihren Jägern zuwerfen (ein Verhalten, das er als Selbsterhaltungsmaßnahme interpretiert). Wesentlich ist Burkerts Hinweis auf die Beziehung des lateinischen Ausdruck für Biber (castor) zu castus: keusch, rein,jungfräulich, (heilig) und zu castrare (durch die Kastration inklusive Penektomie wird eine vollkommene Keuschheit erzielt!).25 Burkerts Hinweis lässt sich ergänzen: das Adjektiv castus steckt zugleich in lat. castigare (züchtigen, strafen). Noch in den deutschen Ausdrücken 'Kasteiung' und 'sich kasteien' - heißt: sich freiwilligen Entbehrungen und Leiden auszusetzen inklusive der Beschränkung oder Abtötung der Sinnlichkeit (soll heißen: der sexuellen Begierden!) um eines höheren Gutes Willen - steckt dieser Aspekt. Die Praktiken des Sich-selbst-Geißelns oder Sich-geißeln-lassen der rituellen Reinheit willen sind hier erfasst. Bei Conrad Schwenck kann man lesen, das 'castus' einmal im engeren Sinne durch Scheren gereinigt bedeutet hat. Im Niederdeutschen hat man früher das Beschneiden der Bäume 'Keuschen' genannt.26 'Castigare', so Schwenck, hat weiter die Bedeutung von einschränken'. in diesem Sinne wird Einer in seinem Tun in Schranken gehalten, eben durch: Züchtigung.

Deutung 2: Kultischer Geschlechtswandel

Auf einen Aspekt der Entmannungsprozedur, die die Priester der Kybele und die Mitglieder ähnlicher Gruppen an sich selbst durchgeführt haben, soll hier noch eingegangen werden: durch die Kastration veränderten die Galli ihre sexuelle Identität, sie wurden zu Androgynen. Androgynität symbolisiert in der Vorstellungswelt archaischer Kulturen die ewige Sehnsucht der Menschen nach Vollkommenheit.27

Der Kybele-Kult weist Parallelen zu dem rezenten Kult um die in Südasien verehrte Göttin Bahuchara Mata auf, die für Fruchtbarkeit und Transformation steht. Ihre Anhänger (Schätzungen schwanken zwischen 700.000 und mehreren Millionen) pflegen als ein 'drittes Geschlecht' einen ganz eigenen Lebensstil. Die Hijras werden als Männer geboren; ein größerer Teil unterzieht sich einer ohne medizinische Versorgung durchgeführten rituellen Totalentmannung, die einen mythologischen Hintergrund hat und in der Öffentlichkeit ihrer Gemeinde von anderen Hijras durchgeführt wird. Die Hijras tragen Frauenbekleidung schminken sich und lackieren sich ihre Fingernägel, weisen aber aufgrund ihrer meist starken Behaarung dennoch ein männliches Erscheinungsbild auf. Aktuell definieren sich auch Transvestiten und Transsexuelle als Hijras, die zumeist in Kommunen zusammen leben.28

Trotzdem lässt es die Kontinuität des archaischen und schmerzhaften Kastrationsrituals bei den modernen Hijras als sinnvoll erscheinen, nicht eine von aktuellen Gesichtspunkten geprägte Deutung zu bevorzugen. Die kultische Entmannung erscheint als Versuch der 'mythisch Denkenden' (so Ernst Cassirer), die sexuell-religiöse Determiniertheit zu überwinden und auf diese Weise den Göttern gleich bzw. ihrer Omnipotenz teilhaftig zu werden.29 Der deutsche Ethnologe Hermann Baumann versuchte zu zeigen, dass sich mit der Genese archaischer Hochkulturen, die intensiven Bodenbau mit Körnerfrüchten unter Einsatz des Pflugs betrieben haben, eine spezifische Kosmo- und Anthropogonie ausgeformt hat, für die die Konzeption einer androgynen Urgottheit, in der sich die ursprüngliche Einheit von Himmel und Erde verkörpert hat, wesentlich war.30 Ein prominenter Zug androgyner Mythik sei der kultische Geschlechtswandel gewesen. Ein prägnantes Exempel ist hier die religiös motivierte Kastration der Kybele-Priester, die sich durch diese Praxis verweiblichten und an die Gottheiten annäherten. „Nur sekundär“ habe diese Prozedur dem Zweck gedient, kultische Reinheit herzustellen.31

Zurück zu der eingangs gestellten Frage nach der Beziehung zwischen historischem 'Matriarchat' und aktuellem Sadomasochismus. Keuschheit, Züchtigung, Abstinenz in mannigfaltigen Formen - moderne Sadomasochist_innen reinszenieren archaische Prozeduren: "Die Muttergöttin gibt Leben, aber sie nimmt es auch (...) Die animalische Fruchtbarkeit der Göttin fand im Ritus eine ebenso grausame wie dramatische Darstellung. Ihre Anhänger und Anhängerinnen übten die Selbstkastration und Brustamputation, geißelten sich, fügten sich Schnittwunden zu und zerstückelten Tiere. Damit, dass sie die Erfahrung des Opfers bis zum Äußersten trieben, beschworen sie die Schrecken der chthonischen Natur. Heute überlebt solch ein Verhalten nur noch im sexuellen Sadomasochismus, der allgemein als pervers gebranntmarkt wird“.32 Eine zeitgenössische Domina, die schlägt, die Männer keusch hält, die sie feminisiert, die sie demütigt, steht in der Tradition einer Großen Mutter, die nie dem idyllischen Bild entsprach, dass Matriarchatsjünger_innen zei chneten.

Archaische Prozeduren weisen unstrittig phänomenologische Übereinstimmungen (und - möglicherweise - physiologische Parallelen im betroffenen Organismus) mit rezenten erotischen Praktiken auf. Im Gegensatz zu diesen waren sie eingebunden in religiös-rituelle Kontexte. Die körperlichen und seelischen Kasteiungen, die sich die Priester der Kybele und auch die Hjiras zumuteten, hatten einen transzendenten Sinn, der den Handlungen moderner SMler_innen abgeht, die ihre 'Lust' befriedigen möchten33 - selbst dann, wenn dies darauf hinausläuft, auf eine orgiastische Lösung ihrer Spannung zu verzichten, also auf Lustverzicht.

EIN WEITES FELD: CHRISTENTUM UND SADOMASOCHISMUS

Sadomasochismus als Metapher

Das Buch Genesis sei, schreibt Camille Paglia, eine männliche Unabhängigkeitserklärung von den alten Mutterkulten. Das hier artikulierte Aufbegehren gegen die Natur habejeden kulturellen Fortschritt erst möglich gemacht möglich - „Alles Große in der westlichen Zivilisation entspringt dem Kampf gegen unsere Ursprünge“.34 35 Das jüdische Bilderverbot richtete sich gegen heidnische Fruchtbarkeitskulte, welche die Gottheit in derNatur sahen. Es ermöglichte den Juden, ihre Schöpferkraft aufDisziplinen wie Theologie, Philosophie, Literatur, Rechtslehre und Wissenschaft zu konzentrieren (bzw.: ihre libidinose Energie zu sublimieren).

Diesen vom Judentum inszenierten welthistorischen Bruch habe das Christentum nur zum Teil fortgeführt. Sobald sich die Kirche nach ihrer frühchristlichen und byzantinischen Phase in Rom etabliert hatte, hätten die Relikte des heidnischen Italien Übergewicht gewonnen; Christus verwandelte sich in Adonis zurück. Bereits Frazer habe in Der Goldene Zweig auf die Parallele zwischen dem Bild der trauernden Göttin, die ihren sterbenden Liebhaber im Arme hält, und der Pietà der christlichen Kunst verwiesen. Das christliche Ritual von Tod und Erlösung sei ein Überbleibsel der heidnischen Mysterienreligion.36 Ein zentrales Gebot wie das der Nächstenliebe bewahrt laut Paglia heidnische - dionysische! - Anteile: die christliche Liebe oder Agape sei ohne Eros nicht zu haben.37 Ein weiterer paganer Zug habe sich durch die Etablierung des Zölibats eingeschlichen, stelle dieser doch einen Kastrationsersatz dar.38 Conclusio: das Christentum weist eine Reihe von heidnischen und - der Interpretation Paglias zufolge - sadomasochistischen Zügen auf. Zwar reicht die Geschichte des SM dem strikten Wortsinne nach lediglich bis ans Ende des 19.Jahrhunderts zurück.39 Doch lässt sich mindestens eine christliche Vorgeschichte des Sadomasochismus skizzieren, die sowohl eine historische als auch eine phänomenologische Dimension besitzt. Und eine metaphorische Dimension, auf die ich zunächst eingehe.

Der Arztund Sexualforscher AlfredEulenburg argumentierte 1895, dass die christliche 'Sklavenmoral' (Friedrich Nietzsche) masochistische Tendenzen begünstige, „indem der nach Erfüllung drängende Trieb zur Selbstdemüthigung, zur Askese, zum Märtyrerthum bei seiner Befriedigung zur Quelle höchsten Wollustgefühls wird“.40 Der Medizinistoriker Vern Bullough diagnostizierte, dass sich via Christentum vehemente sadomasochistischen Tendenzen in der westlichen Kultur etabliert hätten.41 Der Psychoanalytiker Theodor Reik behauptete 1941, dass das Christentum eine masochistische Struktur aufweise: Die Begriffe 'Gehorsam', 'Demut' und 'Hingabe' hätten innerhalb des christlichen Glaubens eine ebenso zentrale Bedeutung wie innerhalb des Sadomasochismus - der Umfang der Leidensdarstellungen und Kasteiungen des Körpers sei im Vergleich mit anderen Buchreligionen beispiellos.42 Der Mediziner und Sexualwissenschaftler Iwan Bloch hat sogar eine generelle Nähe zwischen religiösen und sexuellen Gefühlen behauptet; „in beiden Fällen wird die Hingabe, die Entäußerung der eignen Persönlichkeit als ein Lustgefühl empfunden...Die Identität beider Empfindungen erklärt ihr häufiges Ineinanderübergehen, ihre beständige assoziative Verknüpfung...Die religiöse Kasteiung, Buße, Selbstzerfleischung spiegelt sich wieder in der geschlechtlichen Selbstpeinigung“.43 Um den Geschlechtstrieb niederzukämpfen, notabene auszurotten, sei der Asket gezwungen, ständig an Sex zu denken, um vor ihm auf der Hut zu sein. Dann werde die Askese zum Mittel, sich den sexuellen Genuss in einer anderen Form und auf gesteigerte Weise zu verschaffen.44 Der Publizist Wolfgang Pohrt konstatierte einen christlichen Hang zum Sadomasochismus und verwies auf die optische Präsentation der christlichen Ikone als halbnackter, mit Nägeln ans Kreuz Geschlagener und mit einer Dornenkrone Bekränzter. Über Jahrhunderte habe das Christentum die Lust eingeübt, sich selbst zu kasteien und andere zu quälen - eventuell hätten diese Züge Christen zu den weltweit erfolgreichsten Eroberern gemacht.45

Erich Fromm sprach im Zusammenhang mit dem Christentum von sozialem bzw. politischem Masochismus. In seinem frühen, 1939 publizierten Aufsatz Das Christusdogma entfaltete er den Gedanken, dass sich masochistische Züge erst nach einer urchristlichen Phase in den etablierten Katholizismus eingeschlichen hätten, er spricht hier von einer verhüllten Wiederkehr der Religion der Großen Mütter. Während das Urchristentum deutliche demokratische und egalitäre Züge aufgewiesen habe, habe es sich im römischen Imperium zur katholischen Religion herrschender Schichten gewandelt und seinen revolutionären Charakter verloren.46 Die christliche Kirche sei zum Spiegelbild der absolutistischen Monarchie des römischen Reiches und so zur staatserhaltenden Macht geworden, welche im Laufe der Zeit den herkömmlichen Kaiserkult ersetzt habe. Diese Neujustierung habe einen radikalen Ausdruck im Christusbild gefunden. Auf dem Konzil von Nicäa (325 n.Chr.) setzte sich die Position des Kirchenvaters Athanasius durch, derzufolge Jesus wesensgleich mit dem Vater sei - und nicht wesensähnlich, wie dies Arius annahm. Vorwürfe gegen Gott, Vorwürfe gegen die Herrschenden seien in der Folge transferiert worden in Selbstvorwürfe.47 Im Zuge seiner Überlegungen ging Fromm u.a. auf den Montanismus ein. Hier seien die alten urchristlichen Tendenzen noch einmal aufgeflackert, ihres herrschaftskritischen Charakters wegen aber strikt bekämpft worden.48 Bei seiner Einschätzung des Montanismus übersah Fromm allerdings, dass diese Strömung in Phrygien entstanden und von der Praxis des Kybele-Kults Anregungen erfahren hat. So bleichten sich die montanistischen Propheten die Haare und behängten sich mit Schmuck - sie ähnelten so den Priestern der Kybele, den Galloi. Montanus stellte sich selbst als ekstatisches Medium dar, es gibt eine christliche Überlieferung, derzufolge er ein ehemaliger Priester der Kybele und beschnitten war. Der Montanismus war eine asketische Religion; sowohl die weiblichen als auch die männlichen Gottesdiener_innen waren zur Keuschheit verpflichtet (zwei Prophetinnen - Priscilla/Prisca und Maximilla - haben den Montanismus mitbegründet und insofern eine lokale Tradition fortgeführt, dienten der Kybele doch auch weibliche Priesterinnen). Wenn auch zeitgenössische christliche Kritiker diese Strömung in übertriebenem Maße mit Leiden und Kasteiung identifizierten, so bleiben doch deutliche Parallelen zwischen dem Kult der Großen Mutter und dem phrygischen Christentum.49

Der Essay von Fromm ist eingebunden in seine sozialpsychologische Konzeption eines 'autoritären' respektive 'sadomasochistischen Charakters', die entsprechende Studien der Frankfurter Schule um Adorno und Horkheimer wesentlich inspiriert hat. Durch seine freudianische Interpretation stellt Fromm hier einen Zusammenhang her zwischen Charakterstruktur bzw. Handlungsmustern und sexuellen Vorlieben, der aktuell als überholt gilt.50 Anders gesagt: bei Fromm und Konsorten fehlt der entscheidende Unterschied zwischen - wenn man so will - politischem/sozialem und sexuellem Sadomasochismus.

Wie die Keuschheit ins Christentum kam: Eunuchenfür das Himmelreich

In einer Abrechnung mit der Einstellung der katholischen Kirche zur Sexualität unterscheidet Uta Ranke-Heinemann in ihrem vielgelesenen Werk Eunuchenfür das Himmelreich ähnlich wie Fromm eine urchristliche Phase von der des entwickelten und etablierten Katholizismus. Noch im Judentum sei der für den Katholizismus typische Sexualpessimismus undenkbar gewesen, hätte dieser doch den zentralen Glauben an eine gelungene Schöpfung durch einen seinem Volk gewogenen Gott konterkariert.51

Die bis auf den heutigen Tag im Christentum relevante Lust- und Leibfeindlichkeit sei ein klares Erbe der Antike.52 Insbesondere die Lehren der Stoa hätten das Christentum in den ersten beiden Jahrhunderten in verhängnisvoller Weise angeregt.53 Überdies hätten sich gnostische und später auch von gnostischem Gedankengut geprägte neoplatonische Einflüsse innerhalb des Christentums mehr und mehr entfalten können. Zwar fänden sich bereits im Johannesevangelium gnostische Spuren, doch würden die Gnosis und deren Ehe- und Sexualfeindlichkeit im Neuen Testament dezidiert abgelehnt.54 In der nachapostelischen Zeit sei es über Jahrhunderte hinweg zu einem ständigen erbitterten Kampf zwischen der Kirche und den Gnostikern gekommen, doch auch zu gegenseitiger Beeinflussung.55 Anlässlich des 1. Konzils der Christen in Nicäa im Jahre 325 n.Chr. wurde die Kastration verboten - nach Ranke-Heinemann ein Indiz dafür, dass dieser gnostische sexualfeindliche Brauch das Christentum infiziert hatte und deshalb eliminiert werden musste.56 Stoische und gnostische Motive sind, so Ranke-Heinemann, in das Christentum durch prominente Kirchenväter wie Origines57 und Augustinus, deren Worte bis auf den heutigen Tag in der katholischen Kirche gehört werden, implantiert worden. Der äußerst einflussreiche Augustinus, ein ehemaliger Manichäer, der zudem von neuplatonischer Philosophie beeinflusst war, führte das Motiv der Erbsünde in die christliche Theologie ein. Sein Verdikt betraf in diesem Zusammenhang in erster Line die sexuelle Lust, durch welche die Erbsünde über die Generationen hinweg weitergereicht würde.58 Spätere Kirchenväter wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin haben diese wesentlichen Positionen von Augustinus übernommen.

[...]


1 Reik, 1977. Die Qualifizierung 'masochistisch' ist in den alltäglichen Gebrauch eingeflossen. So skizzierte der ehemalige Bundestrainer des Langstreckenkaders der bundesdeutschen Leichtathleten, Lothar Hirsch, 1979 in einem Artikel als eine wesentliche psychische Disposition erfolgreicher Langstreckenläufer deren „selbstquälerische Tendenz inderPersönlichkeif‘ (Hirsch, 1979, 370).

2 Cf. Wagner, 2014, 64

3 Das Buch gilt seit seiner Erscheinung als umstritten. Begeistertes Lob und heftige Ablehung halten sich die Waage. So war auch mein Eindruck ambivalent: ich war sowohl fasziniert als auch irritiert durch einige Züge des Buches. Zwar gilt Pagla als Feministin, das Buch ist dennoch gespickt von misogynen Untertönen. Um nur einige wenige Stellen zu nennen: Paglia polemisiert gegen das weibliche Genital (cf. Paglia, 1992, 31), den weiblichen Körper bezeichnet sie als „chthonische Maschine“ (ebd., 23), „die mythologische Gleichsetzung von Frau und Natur“ (ebd., 25) hält sie für gerechtfertigt. Silvia Bovenschen schrieb für die ZEIT einen Verriss, nannte Paglia u.a. einen verspäteten unoriginellen weiblichen Weininger (cf. Bovenschen, 1993). Die Polemiken Weiningers gelten als Musterbeispiel fürjüdischen Selbsthass - sie könnten mit gleicher Berechtigung als exemplarisches Hadem eines Homosexuellen mit seiner Identität gelten. Der schwule Jude Weininger hielt den Penis für den abstoßendsten Teil des männlichen Körpers (cf. Weininger, 1921, 332). Weininger teilte die Bedenken Paglias gegenüber der Sexualität; durch die Sexualität nähere sich der Mann der Frau an und werde 'weibisch' (ebd.). Man kann Paglia, die sich in einem Interview als Transgender, der schon in früher Kindheit gern maskuline Outfits trug, bezeichnete, weiblichen Selbsthass attestieren, jedenfalls scheint sie die weibliche Seite ihrer Persönlichkeit nicht zu mögen (zur Selbstauskunft Paglias über ihre sexuelle Identität cf. Last, 2017). Das Ressentiment Paglias gegenüber 'der Frau' nimmtjenes von Johann Jacob Bachofen wieder auf. Paglia ist in mannigfacher Hinsicht eine Bachofen redivivus; ihre wieder und wieder verwandte Begrifflichkeit chthonisch - dionysisch - appolinisch ist Bachofen verpflichtet. Paglia setzt sich kritisch mit rezenten feministischen Strömungen auseinander. So hält sie die Perspektive der Gender-Studies für ignorant, da die biologische Dimension des Menschen ausgespart würde (cf. z.B. Last, 2017). Das Anliegen von Transgender-Aktivist_innen, sich gestützt auf subjektive Gefühle - als 'Frau' oder 'Mann' unabhängig vom biologischen Geschlecht zu kategorisieren, hält sie für unangemessen. Ein ganzes Kapitel ihres Hauptwerks hat Paglia der Wiederkehr der GroßenMutter gewidmet, es trägt den Untertitel Rousseau versus de Sade. Ihre Position lässt sich wie folgt paraphrasieren: wer Rousseau respektive eine ultimative politische und sexuelle Freiheit anstrebt, bekommt de Sade. Dies ist eine dezidierte Kritik an den Bewegungen der politischen Linken und ihren Utopien im 20. Jahrhundert. Rousseau, so Paglia, habe sich von der Gesellschaft ab- und der Natur zugewandt und auf diese Weise die romantische Weitsicht begründet. Die große Ironie der Romantik liege darin, dass eine auf Freiheit abzielende Bewegung sich erneut und geradezu zwanghaft zum Sklaven ausgeklügelter Ordnungssysteme mache, die noch starrer seien als die vorausgegangenen. Die alten Anhänger des Dionysoskults hätten gewusst, dass die Unterordnung unter die Natur Kreuzigung und Zerstückelung bedeute. Dagegen würden moderne Romantiker „etwa in Gestalt der rousseauistischen Swinging Sixties“ das Dionysische mit dem Lustprinzip verwechseln, während es doch in Wahrheit die Gesamtheit, das Ineins von Lust und Schmerz, bedeuten würde (Paglia, 1992, 287): im großen Gott Dionysos verkörpere sich die Barbarei und Brutalität der Mutter Natur (ebd., 125). Kurz: der scheinbare, von den Revolutionen erstrebte Fortschritt sei in Wirklichkeit regressiv. Die Realität gewordenen Projekte der politischen Linken, die reale Existenz sozialistischer Gesellschaften von der Sowjetunion bis hin zu Venezuela geben immerhin Paglia recht, die den Marxismus als „verkappte Naturromantik“ disqualifiziert hat (ebd., 55). Paglia weht sich gegen den Vorwurf, mit ihrer Diagnose konservative Ideologie zu bedienen. In einem 2017 via E­Mail geführten Interview gab sie an, sie sympathisiere mit dem linken Flügel der US-Demokraten, sie habe bei den Primaries 2016 Bernie Sanders und in der eigentlichen Wahl dann die grüne Kandidatin Jill Stein gewählt (cf. Last, 2017). 2018 verwahrte sie sich gegen das Unterfangen eines rechtsradikalen 'Feminismus', ihre Arbeit für eigene Ziele auszuschlachten (cf. Heinemann, 2018).

4 Jedenfalls an Freuds zeitweilige, 1914 und 1915 vertretene Auffassung, dass es nur einen Trieb gebe, der sich einmal in einer aggressiven und zum anderen in einer sexuellen Ausprägung manifestiere. Der Soziologe Norbert Elias führte diese Überlegungen in seinem Hauptwerk Der Prozess der Zivilisation weiter; er bezeichnete das Bewußtseins- und Affektgefüge des Menschen als ein Ganzes (Elias, 1989, 379) und stellte an anderer Stelle mit Bezug auf mittelalterliche Ritter einen Zusammenhang zwischen sexueller Lust und physischer Gewalt her: „Es gibt dem Krieger die Möglichkeit z u einer (...) außerordentlich großen Freiheit im Auslauf seiner Gefühle und Leidenschaften, die Möglichkeit zu wilden Freuden, zu einer hemmungsloseren Sättigung von Lust an Frauen oder auch von Haß in der Zerstörung und Qual (sic!; gemeint ist wohl: Quälerei; J.J.) alles dessen, was Feind ist oder zumFeinde gehört“ (ebd., 322f).

5 Cf. zu diesem Punkt Wetzstein etal., 1993, 151

6 Paglia, 1992, 39. Cf. ebd., 13. Es ist verwunderlich, wie naiv Protagonist_innen 'freier Sexualität' noch heute mit der Frage eines Zusammenhangs zwischen Macht und Sex umgehen. Im Umfeld der #MeToo-Debatte antwortete die Romanistin Barbara Vinken auf die Frage eines Interviewers, ob der Schriftsteller Philip Roth nicht recht gehabt habe, als er äußerte, dass der Missbrauch von Macht ein Mittel zur Sexualität sei, und nicht umgekehrt die Sexualität Mittel zur Macht: “Ich halte das für ein groteskes männliches Potenzphantasma, nach dem Motto, wenn einem die Lust kommt... Absurd. Ginge es um Lust, würden sie Frauen nicht dazu nötigen. Erpresster Sex ist völlig lustlos - außer der perverse Genuss der eigenen Macht. Das Gegenteil von Hingabe” (Zielcke, 2018). Mit Verlaub gesagt: Vinken artikuliert an dieser Stelle ein arg romantisches, idealistisches Bild von Sex und Erotik. Bei einer Vergewaltigung sind Männer erregt, empfinden Lust und kommen zum Orgasmus - erzwungene sexuelle Handlungen sind inakzeptabel, aber sie sind aus der Perspektive des Täters offensichtlich lustvoll. 'Macht' und Sexualität lassen sich nicht so sauber voneinander trennen, wie Vinken insinuiert.

7 Cf. Wagner, 2014; Wetzstein et. al., 1993

8 Paglia, 1992, 64f.

9 Cf. Tiedemann, 2008

10 Cf. Bachofen, 1948, 591ff.

11 Cf. z.B. Wesel, 1980; Zinser, 1981; Röder etal.,1996; Frazer, 1963, 211

12 Die Anthropologin Joan Bamberger hat herausgearbeitet, dass in südamerikanischen Indianergesellschaften der Mythos vom Matriarchat als Warnung an die männlichen Jugendlichen kommuniziert wurde, die ihre ersten Lebensjahre unter den Fuchteln ihrer Mütter verbracht hatten und nun nach entsprechender Initiation erwachsen waren, d.h. sich in einer weitgehend männlich dominierten Sphäre bewegten (cf. Bamberger, 1974). Camille Paglia schreibt, der Mythos vom Matriarchat entspringe eventuell der allgemeinmenschlichen Erfahrung von der mütterlichen Macht im Säuglingsalter. Fürjeden Menschen bedeute der Übergang vom Säuglings- ins gesellschaftsfähige Alter den Sturz des Matriarchats (Paglia, 1992, 62f.). Bachofen selbst hat Jahrzehnte bei seinen Eltern gewohnt, hat sein Buch seiner Mutter gewidmet und hat erst im Alter von fünfzig Jahren, neun Jahre nach dem Tod seiner Mutter, eine dreißig Jahrejüngere Frau geheiratet. Gleich denjungen Indianern mag er ein Matriarchat am eigenen Leib erfahren haben.

13 Cf. www.de.m.wikipedia.org/wiki/Kybele-_und_Attiskult (abgerufen 1.7.2017).

14 Sowohl Salzman als auch Mordeniz und Verit sprechen in diesem Zusammenhang von einem Akt der Hingabe (Mordeniz, Verit, 2009, Abstract; Salzman, 1989, 64). Bei denletztgenannten Autorenfindet sich weiter die Beschreibung, dass eine Priesterin, umgeben von einer Gruppe kastrierter Priester den römischen Kultus um die Große Mutter geleitet habe (ebd., 399).

15 cf. Scholz, 1997, 103

16 cf. Burkert, 1998, 65. Noch in der unter Juden und Muslimen - wo die Kastration strikt verboten war! - üblichen Beschneidung der Knaben sehen Gelehrte heute unter Verweis auf einschlägige Bibel-Stellen eine entschärfte Variante dieses Rituals, freilich mit Hilfe eines doppelten Ersatzes: an die Stelle des Mannes tritt der Sohn, an die Stelle des Gliedes die Vorhaut. Blut und Verstümmelung müssen sein, doch findet sich ritueller Ersatz (ebd., 66; Scholz, 1997, 78f.). Scholz weist darauf hin, dass die Juden zur Beschneidung ein Steinmesser nutzen, dass anjenes der Kybele-Priester erinnert. Ähnlich wie Burkert und Scholz argumentieren Mordeniz und Verit in ihrem Aufsatz: Is circumsision a modified ritual of castration? (cf. Mordeniz, Verit, 2009). Sigmund Freud hatte bereits im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Ödipus-Komplex die Zirkumzision als einen symbolischen Ersatz der Kastration gedeutet. Bruno Bettelheim interpretiert in seinem Werk Die symbolischen Wunden die Selbstverstümmelung - die unter den Juden und Muslimen übliche Beschneidung männlicher Kinder sieht er als deren entschärfte Fortsetzung an - als den Ausdruck des männlichen Wunsches, an den überlegenen Kräften der Frauen teilzunehmen, bzw. dem anderen Geschlecht anzugehören; cf. Bettelheim, 1982).

17 Cf. Frazer, 1963, 283f.

18 Ebd., 264.

19 Ebd.., 270f., Fußnote 2

20 Cf. Scholz, 1997, 69

21 Ebd., 89

22 Ein instruktives Beispiel liefert die Schilderung der Kastration des 'letzten Eunuchen des chinesischen Kaisers' durch Sun Yaoting, die von Scholz zitiert wurde (ebd., 126).

23 Burkert, 1998, 64; Scholz, 1997,26f. Im August 2017 wurde der indische Guru Gurmeet Ram Rahim Singh wegen einigen Vergewaltigungsdelikten verurteilt. Es kam zu gewaltsamen Protesten seiner Anhänger_innen. 400 Mitglieder sind 2014 auf Betreiben Singhs im Hauptsitz der Sekte offensichtlich kastriert worden, um sie “näher an Gott zu bringen”. Die zuständigen Ermittlungsbehörden kommentieren, es habe sich um Maßnahmen gehandelt, Frauenvor sexueller Anmache zu schützen. Cf. Tomasek, 2017

24 Scholz, 1997, 147f. Mit Blick auf den Dionysoskult hatte Bachofen geschrieben, daß “das Gebot der Keuschheit (...) das höchste der dionysischen wie aller Mysterien” sei (Bachofen 1948:584). Euripides hat in seinem Drama Die Bakchen die Identität des Dionssos-Kults mit demjenigem um Kybele und Attis dargestellt. Kybele ist hier die eigentliche Partnerin des Dionysos. Möglicherweise haben Griechen ihre Muttergottheit Rhea mit Kybele im Zuge des kulturellen Kontakts verschmolzen.

25 cf. Burkert, 1998, 63f.

26 cf. Schwenck, 1933,3

27 cf. Scholz, 1997, 16. Carsten Colbe zufolge ist nicht die Fruchtbarkeit, sondern die Zweigeschlechtlichkeit das zentrale Motiv des Kybele-Attis-Mythos an (cf. Colbe, 1969).

28 cf. Bruch, 2006

29 cf. Scholz, 1997, 15f. Emst Cassirer hat in seiner Philosophie der symbolischen Formen dem Mythos eine besondere Stellung zugemessen: er sah mythisches Denken als Urform des menschlichen Denkens an, die anderen Formen (religiösen, wissenschaftlichen) gegenüber gleichwertig sei. Die Gleichwertigkeit bezieht sich nicht auf den Grad der 'Wahrheit' derjeweiligen symbolischen Form, sondern auf deren Nicht-Reduzierbarkeit. Das 'mythische Denken'ist folglich eine ganz bestimmte Art, Welt zu denken - und kann nicht einfach beispielsweise durch Psychologie oder Psychoanalyse ersetzt werden. Cf. www.de.wikipdia.org/wiki/Philosophie_der_symbolischen_Formen (abgerufen 8.9.2017).

30 Baumann, 1955, 365. Cf. ebd., 351.

31 Ebd.,31, 169.

32 Paglia, 1992, 64f. Einmal mehr nimmt Paglia hier Gedanken Bachofens auf. Bachofen hatte auf die Ambivalenz des dionysischen Kults hingewiesen, der Kult des neuen Gottes sei der freundlichste und fürchterlichste zugleich, Menschenopfer seien Teil des bacchischen Kults gewesen. Die Mutter opfere Dionysos ihr Kind, heißt es an anderer Stelle (Bachofen, 1948, 573ff). Der Dionysoskult war ein typischer Mysterienkult der antiken Welt, dessen Beziehungen zur Religion der Thraker und Phrygier offensichtlich sind. Vermutlich sind diese Beziehungen durch die kulturellen Kontakte zwischen Griechenland und Anatolien entstanden. Bereits in der Bronzezeit ereichten griechische Seefahrer die anatolische Küste. Dionysos war ein sterbender und auferstehender Gott an der Seite einer großen Mutter - eine Konstellation, die auch im Mittelpunkt anderer Mysterienkulte steht. Euripides, dessen Drama Die Bakchen heute als wichtigstes Zeugnis zum Verständnis des Dionysoskultes gilt, hat ebendort die Identität dieses Kults mit dem Kybele- und Attiskult dargestellt. Nach Euripides war Kybele, die in Phrygien auch als Erdgöttin verehrt wurde, die eigentliche Partnerin des Dionysos. Der Dionysoskult hatte einen wesentlichen weiblichen Aspekt: den Mänadismus. Die Mänaden - oder auch: die Bakchen - waren die mythischen Begleiterinnen des Dionysos; sie zerrissen Tiere mit bloßen Händen, ließen Milch mit einem Schlag aus einem unbelebten Felsen fließen, säugten wilde Tiere und versetzten ganze Landstriche in Angst und Schrecken. Die Mänaden waren aber auch die historisch belegbaren Anhängerinnen des Dionysos und feierten den Gott alljährlich mit rauschhaften und orgiastischen Ritualen. Judith Behnk, die sich intensiv mit dem Mänadismus beschäftigt hat, betonte, dass Frauen in der griechischen Gesellschaft alles andere als frei waren. Die Existenz des Kults stellte die gesellschaftliche Ordnung auf den Kopf - so wie Dionysos, der Gott des Weines, die gewohnte Ordnung der Menschen auflöste und ihnen die Selbstkontrolle raubte. Behnk zufolge versetzten die Mänaden sich stellvertretend in dionysische Ekstase. Die Mysterienkulte botenjedem Menschen die Option auf ein besseres Leben im Jenseits und waren kein Indiz einer realen weiblich dominierten Kultur (cf. Behnk, 2009).

33 Tiedemann unterscheidet “Sinn” von “Bedeutung” (2008, 13). Freilich dürften die wenigsten Sadomasochist_innen ihr Treiben sinnlos finden - möglicherweise ist es angemessen, von “immanentem” Sinn zu sprechen.

34 Ich beschränke mich hier auf die metaphorische Relation zwischen Christentum und Sadomasochismus. Eine Diskussionüber dieses Thema hinaus findet sichbei Steinbach, 2012

35 Cf. Paglia, 1992, 60f.

36 Ebd., 76. M. Renee Salzman verweist auf die frappierenden Parallelen zwischen Attis-Kult - hier werde der Triumpf des Gottes über den Tod und seine Wiedergeburt gefeiert - und christlichem Osterfest (Salzman, 1989, 66).

37 Cf. Paglia, 1992, 129

38 Ebd., 65

39 Cf. Tiedemann, 2008, 13

40 Cf.Eulenburg, 1991, 152

41 Cf. Bullough, 1994, 59).

42 Cf. Kaiser, 2016, 220f.

43 Cf. Dühren, 1991, 236

44 Ebd., 237. Schmerz und Lust stehen, gehimphysiologisch betrachtet, in enger Beziehung zur Spiritualität (Cf. Kaiser, 2016, 138

45 Cf. Pohrt, 2012

46 Cf. Fromm, 1980, 47

47 Ebd.,51

48 Fromm, 1980, 56f

49 Cf. Basiez, 2009; Hirschmann, 2005; Weiß, 2006; Kaiser, 2016, 143f.

50 Cf. Wagner, 2014, 63ff. Dies gilt erst recht für die zugespitzte Version, die Wilhelm Reich und seine Epigonen vorgelegt haben. Auch Paglia scheint mir hier anzuknüpfen (s.u.).

51 Ranke-Heinemann, 2004, 29, 31

52 Ebd., 19

53 Ebd. 21ff.

54 Ebd., 46f.

55 Ebd., 76

56 Ebd., 77

57 Ebd., 81f.

58 Ebd., 118ff.

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Wiederkehr der großen Mutter? Überlegungen zum erotischen Sadomasochismus
Autor
Jahr
2020
Seiten
47
Katalognummer
V542467
ISBN (eBook)
9783346179890
ISBN (Buch)
9783346179906
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sadomasochismus, Sexualwissenschaften, Gewalt und Macht
Arbeit zitieren
Jasper Janssen (Autor:in), 2020, Wiederkehr der großen Mutter? Überlegungen zum erotischen Sadomasochismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/542467

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