Wenn der Notfall zur Regel wird - Exekutive Dekretmacht am Beispiel des decretazos während der ersten Präsidentschaft Carlos Menems (1989-1994)


Trabajo de Seminario, 2006

21 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsangabe

1. Einleitung

2. Theorie
2.1. Legislative Kompetenzen der Exekutive
2.2. Reactive powers – Veto-Recht
2.3. roactive powers - Dekretrecht
2.4. Legislative Zustimmungserfordernisse
2.5. Legislative Toleranz gegenüber exekutiven Dekreten
2.6. Starkes Dekret / schwaches Dekret

3. Fallbeispiel Argentinien unter Carlos Menem (1989-1994)
3.1. Politischer Hintergrund
3.2. Der decretazo
3.3. Die Verfassungsreform 1994

4. Schluss

Literaturangabe

Bibliographie

1. Einleitung

Im Jahr 1983 begann in Argentinien ein neues Zeitalter – das Zeitalter der Demokratie. Nach über sieben Jahren der Militärdiktatur wurde mit Raúl Alfonsín erstmals wieder ein demokratischer Präsident gewählt und eine wahre Demokratieeuphorie machte sich breit. Dies beschönigte allerdings nicht die Tatsache, dass die junge Demokratie auf wackeligen Füßen stand. Die Militärs hatten das Land in einem katastrophalen Zustand hinterlassen, was sich bald in ernstzunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen bemerkbar machte. Die Regierung Alfonsín scheiterte an der Bewältigung dieser Krise und die argentinische Demokratie stand vor einer Zerreißprobe.

1989 trat Alfonsíns Nachfolger Carlos Menem das Präsidentenamt an und begann sogleich mit einer radikalen marktwirtschaftlichen Umstrukturierung der Wirtschaft. Diese implementierte er größtenteils per Dekret, was ihm einen sehr zweifelhaften Ruf einbrachte und nicht zuletzt eine hitzige Debatte in der politischen Wissenschaft anregte.

Ich möchte mich in dieser Arbeit mit den konstitutionellen Kompetenzen der Exekutive in Präsidialdemokratien beschäftigen. Diese werde ich zunächst theoretisch und dann anhand der Präsidentschaft Menems zwischen 1989 und 1994 erläutern. Dieser Fall ist deshalb besonders interessant, weil sich der Präsident Kompetenzen angeeignete, die zu einer Umgehung der Legislative und einer Machtkonzentration in der Exekutive führten. Ich möchte die Hintergründe dieses decretazos beleuchten und herausfinden, welche Vorraussetzungen diese Umverteilung der Macht ermöglichten und einschätzen, inwieweit sie angesichts der Lage gerechtfertigt war. Dabei richte ich besonderes Augenmerk auf die beiden anderen Gewalten und darauf, welche Rolle sie beim menemistischen Dekretismus spielten. Agierten sie als Gegengewicht zum Präsidenten oder tolerierten sie dessen Entscheidungsmonopol in gewisser Weise sogar?

Der decretazo ist sehr kontrovers diskutiert worden. Während einige Autoren die Position einnehmen, das Regieren per Dekret sei bar jeder konstitutionellen Legitimation und schlicht illegal, behaupten andere, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Umstände sei es die einzige Lösung gewesen.

Ich selber habe während eines einjährigen Aufenthalts in Argentinien oftmals hasserfüllte Reaktionen der Menschen auf die Person Menems und seine neoliberale Politik erlebt. Ich habe mit Leuten gesprochen, die gut instruiert schienen und der Meinung waren, seine Reformen hätten einzig und allein seinem persönlichen wirtschaftlichen Vorteil und der Vergrößerung seiner Macht gegolten; dafür habe er das halbe Land verkauft und wie ein Alleinherrscher regiert.

Ich fand es daher sehr aufschlussreich, das ganze einmal aus der Perspektive wissenschaftlicher Autoren zu betrachten und neben der emotionalen noch eine andere Ansichtsweise zu erhalten.

2. Theorie

2.1. Legislative Kompetenzen der Exekutive

Im 18. Jahrhundert entwickelte der Philosoph und Staatstheoretiker Charles de Montesquieu in seiner Schrift De l'Esprit des Lois das Prinzip der Gewaltenteilung. Dies bedeutet in erster Linie die Trennung von Exekutive („ausführende Gewalt“), Legislative („gesetzgebende Gewalt“) und Judikative („rechtsprechende Gewalt“) in klare Kompetenzbereiche.

Alle modernen, rechtstaatlichen Demokratien basieren auf dem Prinzip der Gewaltenteilung Montesquieus.

Allerdings trifft sein Modell heutzutage auf viele Demokratien nicht mehr uneingeschränkt zu, da die strikte Trennung der drei Gewalten, wie sie Montesquieu beschreibt, in vielen Demokratien einer Verflechtung der Gewalten gewichen ist.

Die Verfassungen der lateinamerikanischen Präsidialdemokratien orientieren sich stark am Vorbild der US-Verfassung, besonders dort, wo das Prinzip der checks and balances angewandt wird.

Checks and balances geht vom Prinzip der Gewaltentrennung aus, ergänzt es jedoch durch die Gewaltenverschränkung. Die Gewalten sollen sich gegenseitig nicht nur kontrollieren, sondern auch und ergänzen, indem sie ihre eigenen Interessen mit denen der jeweils anderen Seite verknüpfen können. Bis zu einem gewissen Grad darf der Präsident auch den Gesetzgebungsprozess beeinflussen (z.B. durch das Veto), während das Parlament ein großes Gewicht hat, wenn es um die Ausführung der Gesetze geht.[1]

In vielen lateinamerikanischen Demokratien besitzt jedoch die Exekutive einen weitaus mächtigeren Status als die Legislative, was durch ihre legislativen Kompetenzen noch verstärkt wird. So kann sich der Präsident so genannter proactive und reactive powers bedienen, um den Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen. Diese sollen im folgenden erklärt werden.

Die reactive powers sind im wesentlichen Instrumente der Exekutive, mit der sie ihre Politik gegenüber den Präferenzen der Legislative verteidigen kann. Das bedeutendste dieser Instrumente ist das Veto-Recht. Somit kann man reactive powers als eher konservative Machtinstrumente bezeichnen, die der Exekutive die Wahrung des Status Quo gegenüber Änderungsversuchen der Legislative ermöglichen und einen politischen Wandel aufhalten, der ohne sie erfolgen könnte.

Im Gegensatz dazu besitzen die proactive powers einen progressiven Charakter, da sie den Präsidenten in seiner Funktion als Chef der Exekutive bemächtigen, unilateral eine Politik durchzusetzen, die sonst nicht von der Legislative initiiert worden wäre. Durch die proactive powers wird eine Änderung des Status Quo eingeleitet, die nicht unbedingt eine parlamentarische Mehrheit voraussetzt.

Als wichtige proactive powers sind vor allem das Dekretrecht und die agenda powers zu nennen.[2] Das Dekretrecht soll hier im folgenden näher erläutert werden.

2.2. Reactive Powers – Veto-Recht

In präsidentiellen Systemen stellt das Veto-Recht die direkte Verbindung des Präsidenten zur Arbeit der Legislative dar. Das Veto ermöglicht dem Präsidenten im Sinn der checks and balances eine Kontrolle über die Gesetzgebung der Legislative, indem er bei unliebsamen Gesetzesentwürfen Einspruch einlegen kann.

Trotzdem variiert die Effektivität und Stärke des Vetos je nach konstitutioneller Regelung: Ein schwaches Veto reicht kaum über die formelle Nichteinverständniserklärung des Präsidenten mit einem Gesetzesentwurf hinaus, wogegen ein starkes Veto die Gesetzgebung massiv beeinflussen und die Präferenzen der Exekutive geltend machen kann.

Das partielle Veto des Präsidenten erlaubt ihm die Zurückweisung einzelner Teile des Gesetzesvorschlags. Dies macht seine Macht im Gegensatz zum package veto, das nur eine Ablehnung des gesamten Gesetzesentwurfs toleriert, flexibler. In den meisten lateinamerikanischen Systemen kann ein Veto mit einer absoluten Mehrheit des Parlaments überwunden werden.[3]

2.3. Proactive powers - Dekretrecht

Das Dekretrecht gibt der Exekutive die Macht, politische Entscheidungen bezüglich einer Änderung des Status Quo zu treffen, was eigentlich die Aufgabe der Legislative wäre.

In vielen Demokratien kann die Exekutive auch in Standard-Gesetzgebungsprozessen eine Gesetzesinitiative einbringen, doch beim Dekret entfällt der Prozess der Beratung und möglichen Änderung durch das Parlament. Das Dekret ist also als ein bereits kompletter Gesetzesentwurf der Exekutive zu verstehen.[4]

Dies bedeutet nicht zwingend den totalen Ausschluss der Legislative, da je nach konstitutioneller Regelung beispielsweise eine Ratifizierung durch den Kongress erforderlich ist, der den Entwurf der Exekutive in letzter Instanz ablehnen oder annehmen kann.

Trotzdem übernimmt die Exekutive die Gesetzgebung und weicht damit von ihrer normalen Aufgabe – der Umsetzung der vom Parlament beschlossenen Gesetze – ab.

Die Unmittelbarkeit des Inkrafttretens sowie die Permanenz der erlassenen Dekrete variieren von Verfassung zu Verfassung. In Russland erhält ein Dekret beispielsweise ohne jede Interaktion der Legislative unmittelbar nach seinem Erlass den Status eines permanent gültigen Gesetzes, während in Argentinien das Dekret zwar unmittelbar wirksam wird, aber nur für einen beschränkten Zeitraum gilt, wenn es nicht innerhalb diesen Zeitraums von der Legislative ratifiziert wird (sunset -Dekret).[5]

Dadurch kann das Dekret eine sehr starke Machtressource sein, das der Exekutive einen enormen Machtvorteil gegenüber der Legislative einräumt; es kann aber auch einen eher schwachen Status haben, so dass es nur im Zusammenspiel der Exekutive mit der Legislative zur effektiven Politik werden kann.

Wir unterscheiden zwischen zwei Varianten von Dekretvollmacht:

Kommt das Dekret aufgrund einer expliziten Delegierung durch die Legislative zustande oder ist die Exekutive per Verfassung mit dem Recht ausgestattet, die Legislative unter Umständen in ihrem gesetzgebenden Prozess zu ersetzen?

Erstere wird als Delegated Decree Authority (DDA). Es handelt sich um das Recht der Legislative, der Exekutive die Gesetzgebung in speziellen Bereichen zu delegieren.

Damit gesteht sie ihr explizit zu, den Status Quo per Dekret zu verändern; dies geschieht meist in speziellen Politikbereichen und für einen begrenzten Zeitraum.[6]

Die in der Verfassung festgeschriebene Dekretmacht der Exekutive wird als Constitutional Decree Authority (CDA) bezeichnet.

CDA zeichnet sich dadurch aus, dass es die Exekutive ermächtigt, Dekrete von legislativem Charakter zu erlassen, ohne dass eine vorherige Delegierung durch die Legislative notwendig ist. Er kann also auf eigene Initiative aktiv werden.

Negretto definiert CDA folgendermaßen:

First, it finds explicit recognition in the constitution or in a judicial doctrine formulated by a constitutional court; second, it is supposed to proceed only under circumstances of extreme urgency that make it impossible or highly inconvenient to follow ordinary lawmaking procedure; an third, it allows a executive to initiate policy changes that become effective as law without previous deliberation by the assembly.[7]

Die von Negretto benannten “circumstances of extreme urgency” beziehen sich in den meisten Fällen auf eine inländische Krise des Staates, häufig ökonomischer Art. Die Legislative befindet sich in einem Zustand der Handlungsunfähigkeit oder ihre Handlungsmöglichkeiten würden der Dringlichkeit der Umstände nicht entsprechen, weswegen das Dekret als schnelle, unbürokratische Option für solche Fälle vorgesehen ist.

Allerdings ist zu beachten, dass die Auslegungsvarianten solcher „Umstände extremer Dringlichkeit“ natürlich flexibel sind und dass es in vielen Fällen die Exekutive ist, die bestimmt, wann der Staat sich in einer Situation befindet, in der unmittelbares Handeln erforderlich ist. Dies bietet Missbrauchsmöglichkeiten für Exekutiven, denen daran gelegen ist, die Legislative in bestimmten Politiken zu übergehen und per Dekret zu regieren.[8]

[...]


[1] Wasser, Hartmut, “Amerikanische Präsidialdemokratie” in: Politisches System der USA, Informationen zur politischen Bildung N°199, 1997, p.4-5.

[2] Carey, John M. und Shugart, Matthew Soberg , “Calling Out the Tanks or Filling Out the Forms?” in: John M. Carey und Matthew Soberg Shugart (Hrsg.), Executive Decree Authority, Cambridge 1998, p.5.

[3] Carey, John M. und Shugart, Matthew Soberg, Presidents and Asemblies, Cambridge 1992, p.134-135.

[4] Einige Verfassungen garantieren der Legislative allerdings das Recht, das Dekret durch eigene Vorschläge zu modifizieren. (open rule) – siehe Abschnitt 1.4.

[5] Carey und Shugart 1998, p.9-11.

[6] Carey und Shugart 1998, p.13.

[7] Negretto, Gabriel L., “Government Capacities and Policy Making by Decree in Latin America” in: Comparative Political Studies, N° 37, June 2004, p. 535.

[8] Negretto, p.535.

Final del extracto de 21 páginas

Detalles

Título
Wenn der Notfall zur Regel wird - Exekutive Dekretmacht am Beispiel des decretazos während der ersten Präsidentschaft Carlos Menems (1989-1994)
Universidad
University of Cologne  (Institut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen)
Curso
Proseminar: Präsidentialismus in Lateinamerika
Calificación
1,3
Autor
Año
2006
Páginas
21
No. de catálogo
V54289
ISBN (Ebook)
9783638495332
Tamaño de fichero
509 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Wenn, Notfall, Regel, Exekutive, Dekretmacht, Beispiel, Präsidentschaft, Carlos, Menems, Proseminar, Präsidentialismus, Lateinamerika
Citar trabajo
Lisa Rauschenberger (Autor), 2006, Wenn der Notfall zur Regel wird - Exekutive Dekretmacht am Beispiel des decretazos während der ersten Präsidentschaft Carlos Menems (1989-1994), Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54289

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