Bildungspolitik und soziale Ungleichheit. Warum das deutsche Schulsystem soziale Ungleichheit reproduziert


Term Paper, 2006

27 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. PISA was ist das (überhaupt)?

3. Bedingungen für Schulische Erfolge
3.1. Soziales Kapital und kulturelles Kapital
3.1.1. Soziales Kapital
3.1.2. Kulturelles Kapital
3.1.3. Transformierbarkeit der Kapitalien

4. Die Befunde von PISA 2000
4.1. Besuchte Schulformen im Bezug zur sozialen Herkunft
4.2. Die Bedeutung der sozialen Herkunft im internationalen Vergleich

5. Statistik für Nichtstatistiker
5.1. Mittelwerte
5.2. Streuung, Varianz und Standardabweichung

6. Die Befunde von PISA 2003
6.1. Der neue Index des ökonomischen, sozialen und kulturellen Status (ESCS)
6.2. Besuchte Schulformen in Bezug zum ESCS
6.3. Die Bedeutung der sozialen Herkunft im internationalen Vergleich

7. Ein Vergleich von PISA 2000 und PISA 2003

8. Reaktionen auf PISA
8.1. Was Soziologen und Bildungsforscher schon lange beschäftigt

9. Reaktionen und Aktionen der Politik nach PISA
9.1. Positionen der Rot-Grünen Bundesregierung (2002 bis 2005)
9.2. Die aktuelle politische Lage

10. Schlussbemerkungen

11. Literatur

Anhang

Anhang a) EGP-Klassen nach Erikson u.a. (1979)

Anhang b1) Mittlere Lesekompetenz von 15-Jährigen aus Familien des oberen und unteren Viertels der Sozialstruktur

Anhang b2) Unterschiede zwischen der mittleren Lesekompetenz von 15-Jährigen aus Familien des oberen und des unteren Viertels der Sozial-Struktur (höchster Sozialstatus [HISEI] von Vater oder Mutter)

Anhang c1) Vergleich des ökonomischen, sozialen und kulturellen Status (ESCS)

Anhang c2) Vergleich des sozialen Gradienten der mathematischen Kompetenz

1.Einleitung

Nachdem das deutsche PISA-Konsortium im Herbst 2005 die Details der zweiten im Jahre 2003 durchgeführten PISA-Studie veröffentlicht hatte, wurde im gesellschaftlichen Diskurs neben dem allgemeinen Leistungsniveau deutscher Schülerinnen und Schüler besonders auch der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und den Bildungschancen thematisiert. Diese Arbeit reflektiert daher, unter Berücksichtung der beiden bisher in den Jahren 2000 und 2003 durchgeführten PISA-Studien, den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und den Bildungschancen. Da ein gerechter Zugang zu Bildungsmöglichkeiten einen Schlüssel für die zukünftige Verringerung allgemeiner sozialer Ungleichheiten darstellt, ist dieses Thema in Bezug auf die Zukunftsgestaltung in der Bundesrepublik Deutschland von zentraler Bedeutung. Die Wahl des Themas „Bildungspolitik und soziale Ungleichheit“ erfolgte daher vor allem unter diesem Gesichtspunkt.

Im Anschluss zur Darstellung der in den PISA-Studien gewonnen Erkenntnissen werden die aktuellen Schwierigkeiten bei der Entkopplung von Bildungschancen und der sozialen Herkunft thematisiert. Dabei richtet sich diese Arbeit hauptsächlich an Studierende im Studiengang Soziale Arbeit. Aber auch interessierten Eltern kann diese Ausarbeitung eine Orientierungshilfe in der Betrachtung von Bildungschancen im Kontext der sozialen Herkunft sein.

2. PISA was ist das (überhaupt)?

PISA - Diese Abkürzung steht für: „Programm for International Student Assessment“ Übersetzt bedeutet dies (sinngemäß) „Internationales Programm zur Beurteilung von Schulleistungen“. Die PISA-Untersuchungen werden von der OECD (Organisation for Economic Co-Operation and Development 1 ) in Zusammenarbeit mit den nationalen PISA-Konsortien durchgeführt. Dabei handelt es sich nicht um eine einmalig Studie, sondern um eine Folge von Erhebungen die in dreijährigem Zyklus durchgeführt werden. Von diesen Studien wurden zwei bereits durchgeführt („PISA 2000“ und „PISA 2003“) die nächste Studie im Rahmen der PISA Erhebungen folgt somit im Jahr 2006. Ergänzend zu den internationalen Untersuchungen findet mit „PISA-E“ ein Vergleich der Bundesländer innerhalb der Bundesrepublik Deutschland statt (Vgl. PISA 2000 S. 11) Die Teilnahme Deutschlands an diesem Programm wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie der Kultusministerkonferenz der Länder gemeinsam beschlossen.

Das Ziel der PISA-Untersuchungen ist es, einen Vergleich der Bildungsressourcen und deren Leistungsfähigkeit innerhalb der 32 Teilnehmerstaaten zu gewinnen. (Vgl. PISA 2000 S.15) Hierzu wurden bzw. werden mit standardisierten Verfahren pro Teilnehmerland zwischen 4.500 und 10.000 15 jährige Schülerinnen und Schüler getestet. Dabei erfasst die Studie die drei Bereiche: Lesekompetenz, mathematische Grundbildung und naturwissenschaftliche Grundbildung. Zur Beurteilung dieser Kompetenzen beschränken sich die Studien nicht auf den dem Lehrplan entsprechenden Schulstoff, sondern erweitern ihn um typische Kenntnisse und Fähigkeiten, die man als Erwachsener benötigt. Dabei ist das fächerübergreifende Konzept ein wichtiger Bestandteil der PISA-Studien. Die bei PISA von den SchülerInnen zu bearbeitenden Aufgaben werden in Gruppen zusammengefasst, die sich auf möglichst realitätsnahe Situationen beziehen.

zweistündigen Tests, die nicht im Klassenverband durchgeführt werden, müssen neben Multiple Choice-Aufgaben (Aufgaben mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten) auch Aufgaben mit frei zu formulierenden Antworten bearbeitet werden.

Zusätzlich zu den Inhaltlichen2 Aufgaben entsteht ein weiterer Zeitaufwand von ca. 30min dadurch, dass die SchülerInnen einen Fragebogen mit Angaben und Hintergrundinformationen zur eigenen Person ausfüllen. (Vgl. PISA 2000 S.17) Die Informationen aus diesen Fragebögen ermöglichen die Herstellung einer Verbindung von sozialer Situation (der Herkunftsfamilie) und der besuchten Schulform sowie den in den Tests nachgewiesenen Kenntnissen und Fähigkeiten. Diese Zusammenhänge werden in den folgenden Kapiteln näher betrachtet.

3. Bedingungen für Schulische Erfolge

Bevor die Zusammenhänge zwischen Bildungschancen und sozialer Situation erläutert werden können, müssen zunächst die Rahmenbedingungen, die für schulische Erfolge bedeutsam sind im Überblick betrachtet werden. Helmke und Weinert haben hierzu 1997 unter Berücksichtigung des Forschungstandes ein allgemeines theoretisches Rahmen-modell strukturiert (Vgl. PISA 2000 S. 32 f)

Abbildung (1): Bedingungen schulischer Leistungen –Allgemeines Rahmenmodell

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Nach Haertel, Walberg und Weinstein (1983), Wang, Haertel und Walberg (1993) und Helmke und Weinert (1997) Quelle: PISA 2000

Parameter, die in den PISA-Studien untersucht werden, sind in Abbildung (1) blau dargestellt. Bei Allen den sozialen Kontext betreffenden Untersuchungsparameter ist dies der Fall. Daher kann man von den PISA-Untersuchungen im Rahmen der üblichen statistischen Unsicherheiten (Vgl. Kapitel 5 dieser Ausarbeitung) fundierte Erkenntnisse über den Zusammenhang von Bildungserfolgen und sozialen Parametern erhalten. Es wird anhand dieses Modells deutlich, dass der soziale Hintergrund, welcher die Bildungschancen beeinflusst, ein sehr vielschichtiger ist. Die bloße Betrachtung des Sozi-ökonomischen Status der Eltern als Ordnungskriterium der sozialen Lage reicht bei weitem nicht aus. Zusätzlich muss aufgrund der Vielschichtigkeit der Bevölkerung das Bildungsniveau der Eltern ebenso berücksichtigt werden wie die ethnische Herkunft der Familie.

Das hier vorgestellte Rahmenmodell greift zudem die von Pierre Bourdieu,3 eingeführten Kapitalbegriffe auf. Für das Verständnis dieses Rahmenmodells ist es daher erforderlich, diese Kapitalbegriffe zu erläutern4. Das Pisa-Konsortium widmet der Erfassung der sozialen Herkunft in PISA-2000 ein Unterkapitel (Vgl. PISA 200 S. 326-334) und bezieht sich dabei explizit auf Bourdieu. Auch in den weiteren Kapiteln dieses Manuskriptes finden sich die Begriffe Kulturelles Kapital und Soziales Kapital wieder.

3.1. Soziales Kapital und kulturelles Kapital

3.1.1. Soziales Kapital

Bourdieu bezeichnet als Soziales Kapital das soziale Netzwerk über das Personen (Familien) verfügen, also die Summe aller tatsächlichen vorhanden sozialen Kontakte. Dabei finden die institutionalisierten Sozialkontakte (Arbeitsplatz, Vereine, Partei etc.) genauso Berücksichtigung wie die persönlichen Beziehungen zu Verwandten, Freunden usw. „… es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu in Kreckel Hrsg. 1983 S.190 f). Dabei spielt es für die Beurteilung von Quantität und Qualität des Sozialen Kapitals eine entscheidende Rolle, welche Ressourcen der Einzelne bzw. die Familie tatsächlich aktivieren kann. Es ist hierbei von Bedeutung über welche Kapitalien die Personen verfügen, die das Soziale Netzwerk bilden. (Vgl. Bourdieu in Kreckel Hrsg. 1983 S.191 ff) Hohes Soziales Kapital ist damit durchaus auch das, was umgangssprachlich oft als „Vitamin B“ bezeichnet wird, also Beziehungen zu Personen, die über hilfreiche Kontakte und/oder ihrerseits über ein Netzwerk verfügen, das solche Kontakte ermöglicht.

3.1.2. Kulturelles Kapital

Das kulturelle Kapital kann in drei Erscheinungsformen vorliegen. Bourdieu unterscheidet hier in Inkorporiertes Kulturkapital, Objektiviertes Kulturkapital und Institutionalisiertem Kulturkapital. (Vgl. Bourdieu in Kreckel Hrsg. 1983 S.186 ff)

a) Inkorporiertes Kulturkapital: Dabei handelt es sich um Kulturkapital, welches sich der „Eigentümer“ in Form von Bildung und Wissen verinnerlicht hat. Das heißt, dass für die Inkorporation von Kulturkapital stets Zeit aufgewendet werden muss. Somit lässt sich diese Art des Kulturkapitals nicht mit Geld erkaufen. Es kann daher auch nicht kurzfristig auf andere Personen übertragen werden. Das Maß der Inkorporation von Kulturkapital hängt also primär von der Zeit ab, die jemand für die Verinnerlichung zur Verfügung steht. Diese Zeitspanne wiederum ist von der ökonomischen Lage einer Familie abhängig. So ist zu beachten, „…daß ein Individuum die Zeit für die Akkumulation von kulturellem Kapital nur so lange ausdehnen kann, wie ihm seine Familie frei, von ökonomischen Zwängen befreite Zeit garantieren kann“. ( Bourdieu in Kreckel Hrsg. 1983 S.188) Zusätzlich zur verfügbaren Zeit wird die Verinnerlichung von Kulturkapital auch durch historische Gegebenheiten, die Umgebung und durch persönliche Gewohnheiten beeinflusst. Bourdieu fasst alle diese Parameter im Habitus-Begriff5 zusammen.

b) Objektiviertes Kulturkapital: kann im Gegensatz zum Inkorporierten Kulturkapital mit Geld erworben und somit kurzfristig weitergegeben werden. Hierbei handelt sich zum Beispiel um Bücher oder sonstige Datenträger. Es muss zum Erwerb zwar Geld ausgegeben werden, jedoch ist z.B. ein Buch für den Besitzer wertlos, wenn es in einer Sprache geschrieben wurde, deren er nicht mächtig ist. Daher zeichnet sich Objektiviertes Kulturkapital einerseits dadurch aus, dass zu dessen Erwerb Geld notwendig ist, andererseits steht es in direktem Bezug zum Inkorporierten Kulturkapital. (Vgl. Bourdieu in Kreckel Hrsg. 1983 S.188) In unserem Beispiel mit dem Buch besteht das verinnerlichte Kapital darin, die Fremdsprache zu beherrschen, in der das Buch geschrieben wurde.

c) Institutionalisiertes Kulturkapital ist durch formale Titel gekennzeichnet. „Durch den schulischen oder akademischen Titel wird dem von einer bestimmten Person besessenen Kulturkapital institutionelle Anerkennung verliehen.“ ( Bourdieu in Kreckel Hrsg. 1983 S.190) Damit wird der Umstand kompensiert, dass der Grad der Inkorporation von Kulturkapital ohne allgemeingültige Titel und Abschlüsse nicht messbar ist. Diese (scheinbar) objektive Beurteilung des Kulturkapitals ist eine für den Berufserfolg maßgebliche Größe.

Zwar garantiert aufgrund der aktuellen Arbeitsmarktsituation ein bestimmter Titel nicht mehr automatisch ein dem Titel adäquates Gehalt, ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen erworbenem Titel und zu erwartendem Gehalt besteht jedoch nach wie vor. Das folgende Kapitel befasst sich daher mit der Umwandelbarkeit der Kapitalien.

3.1.3. Transformierbarkeit der Kapitalien

Nun mag man sich fragen, warum ein solch differenzierter Kapitalbegriff sinnvoll sein soll? In den bisherigen Betrachtungen ist die alltagssprachliche Bedeutung des Kapitalbegriffes nicht thematisiert worden. Im Alltag wird Kapital mit ökonomischem Kapital gleichgesetzt. Bourdieu verwendet für das monetäre Kapital eben diesen Begriff des ökonomischen Kapitals. Bei der Betrachtung des Institutionalisierten Kulturkapitals wurde bereits deutlich, dass ein enger Zusammenhang zwischen Kulturellem Kapital und dem zu erwartendem ökonomischen Kapital besteht. Es stellt sich somit die Frage nach der Transformierbarkeit der Kapitalien. (Vgl Bourdieu in Kreckel Hrsg. 1983 S.195 ff) Gerade durch die Umwandlungsfähigkeit der Kapitalien bekommt der differenzierte Kapitalbegriff Bourdieus hinsichtlich des Bildungsdiskurses seine Qualität. Dabei lassen sich die Kapitalien nicht nur umwandeln, sondern zum Teil auch kompensieren. Diese Zusammenhänge lassen sich am Besten anhand eines Fallbeispieles illustrieren.

Frau M. ist allein erziehende Mutter zweier Kinder im Grundschulalter. Seit der Geburt der beiden Kinder ist die gelernte Arzthelferin außerhalb des Haushaltes nicht mehr berufstätig. Eine Teilzeitstelle, die sich mit den Schulzeiten der Kinder vereinbaren lässt, ist nicht in Sicht. Daher ist Frau M. auf Arbeitslosengeld II angewiesen. Durch gute Beziehungen zum Inhaber eines Autohauses kann sich Frau M. jedoch einen PKW leisten. Zusätzlich pflegt Frau M. eine gute Freundschaft zu einer Filialleiterin eines Supermarktes, die Frau M. oft mit preiswerten Lebensmitteln versorgt. Gut erhaltene Kinderkleidung bekommt Frau M. zudem häufig von Ihrer Schwester geschenkt, die als Rechtsanwältin beschäftigt ist und Kinder in ähnlichem Alter hat. Da Frau M. relativ viel freie Zeit zur Verfügung hat, kümmert sie sich stets um die Hausaufgaben der Kinder. Auch Übungen der Diktate und Mathe-Tests werden von Frau M. aktiv begleitet. Darüber hinaus engagiert sie sich überdurchschnittlich im Elternbeirat der Grundschule. Damit sie die Kinder zukünftig auch in Englisch unterstützen kann, besucht Frau M. einen Englischkurs an der Volkshochschule.

In diesem Beispiel steht Frau M. zwar ein zunächst sehr geringes ökonomisches Kapital zur Verfügung. Durch das umfangreiche soziale Netzwerk von Frau M. gelingt jedoch eine überdurchschnittliche Transformation von sozialem Kapital in zusätzliches ökonomisches Kapital. Es findet gleichsam ein Kompensationsprozess statt. Frei von größeren existentiellen Nöten und mit der entsprechenden Zeit ausgestattet kann Frau M. somit die Kinder bei der Inkorporation von kulturellem Kapital aktiv unterstützen. Gleichzeitig erwirbt auch Frau M. durch die Mitarbeit im Elternbeirat weiteres inkorporiertes und auch soziales Kapital. Das es für die Mitarbeit im Elternbeirat keinerlei Titel gibt, kann das hierbei erworbene inkorporiertes Kulturkapital nicht institutionalisiert werden. Weiters kulturelles Kapital erwirbt Frau M. bei ihrem Englischkurs hier steht jedoch nicht der (relativ unbedeutende) Titel im Vordergrund, sondern die Verinnerlichung, die an die Kinder weitergeben werden kann.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass das zunächst sehr soziotheoretisch anmutende Modell Bourdieus direkt auf Lebenslagen von Familien mit Kindern im Schulalter6 übertragbar ist. Würde man die soziale Situation von Frau M. eindimensional nur anhand ihres Einkommens bestimmen, so würde dies das Bild der sozialen Situation von Familie M. völlig verfälschen. Unter diesen Gesichtspunkten sei auch nochmals auf Abbildung 1) verwiesen. Nachdem die für das weitere Verständnis hilfreichen sozilogischen Grundlagen betrachtet wurden, werden in den folgenden Kapiteln die Ergebnisse der PISA-Studien im Hinblick auf die soziale Herkunft erläutert.

4. Die Befunde von PISA 2000

4.1. Besuchte Schulformen im Bezug zur sozialen Herkunft

Im vorherigen Kapitel wurde deutlich, wie vielschichtig die soziale Herkunft der in PISA getestet 15-Jährigen ist. Es wäre daher wünschenswert, wenn es einen internationalen soziologisch fundierten Index7 gäbe, der alle die in Abbildung (1) genannten Parameter berücksichtigt. Da es diesen Index im Rahmen von PISA-2000 nicht gab, greift das PISA-Konsortium auf die unter anderem von Erikson (1979) erstellten EGP-Dienstklassen zurück. Diese EGP-Einteilung greift auf die Klassifikation von Berufen zurück, die durch das internationale Arbeitsamt vorgenommen wurde. Zusätzlich wird in den EGP-Klassen die Stellung im Beruf und die Weisungsbefugnis berücksichtigt. (Vgl. PISA 2000, S.338) Eine weiterreichende Erläuterung der EGP-Klassen befindet sich im Anhang a)

Abbildung (2):15-Jährige nach Sozialschichtzugehörigkeit und Schulform

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Grafik ist zu entnehmen, dass der Anteil der 15 Jährigen SchülerInnen der höchsten EGP-Klasse, also der Oberen Dienstklasse (I), die ein Gymnasium besuchen, bei knapp über 50% liegt. Auf der anderen Seite der EGP-Klassen, bei den un- und angelernten Arbeitern beträgt der Anteil der GymnasiastInnen jedoch nur rund 10%. Bei der Hauptschule ist die Verteilung annähernd invertiert, somit findet sich in der untersten EGP-Klasse die Hauptschule mit einem Anteil von über 40% klar vor allen anderen Schulformen. Ein Gymnasium besuchen hingegen weniger als 10% der SchülerInnen, die der unteren Klasse zugerechnet werden. Somit ist die Chance, die höchste Schulform zu besuchen, innerhalb der höchsten Klasse um mehr als fünfmal höher als dies bei der untersten Klasse der Fall ist. In der Klasse (VII) findet sich neben der Klasse der Routinedienstleistungen (III) auch der höchste Sonderschulanteil. Die Realschule ist mit Werten zwischen knapp unter 30% und rund 35% relativ gleichmäßig auf die EGP-Klassen verteilt. Bei der weiteren Interpretation der Grafik ist zu berücksichtigen, dass die Schulform der integrierten Gesamtschule nicht in allen Bundesländern8 gleichermaßen flächendeckend angeboten wird.

Abbildung (2) macht zwar eine Aussage über die Schulform in Abhängigkeit der EGP-Klasse, für die Gesamtbeurteilung der dort dargestellten Schulformverteilung ist jedoch eine Betrachtung hinsichtlich der Häufigkeitsverteilung der EGP-Klassen von Nöten.

Abbildung (3):Sozialschichtzugehörigkeit der Eltern 15-Jähriger

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Datenquelle. PISA 2000 S.338 / Grafik: Thomas Schlenker (Standardabweichung vernachlässigt) 1Angabe für den Vater, oder wenn dieser fehlt, für die Mutter bzw. deren Ersatzperson Hinweis: Für 3,1% der Familien fehlen die Angaben, diese wurde mittels „leistungsstarker“ Algorithmen imputiert. (Vgl. PISA 2000 S.334)

Die Grafik illustriert die EGP-Klassenzugehörigkeit Erwachsener im mittleren Alter, wenn diese 15-Jährige Kinder haben. Durch die getrennte Darstellung von Vater und Mutter lassen sich deutlich geschlechtsspezifische Unterschiede erkennen. So sind Väter in der Oberen Dienstklasse (I) überrepräsentiert, bei Müttern ist dies hingegen sehr deutlich bei der Routinedienstklasse (III) der Fall. Das ist darauf zurück zu führen, dass Frauen immer noch häufig in so genannten „einfachen Frauenberufen“ tätig sind z.B. Verkäuferin, Kassiererin etc. (Vgl. PISA 2000 S.338)

Ausgehend von den Datenfeldern „Bezugsperson im Haushalt“ sind 64,6% aller Eltern der in PISA getesteten 15-Jährigen in den EGP-Klassen III bis VII zu finden. In keiner dieser Klassen, die mit 64,6% eine deutliche Mehrheit gegenüber der beiden Dienstklassen darstellen, ist die gymnasiale Schulform führend. Das heißt mit anderen Worten, dass bei der deutlichen Mehrheit der untersuchten 15-Jährigen das Gymnasium an dritter bzw. vierter Stelle des „Schulform-Ranking“ steht. Lediglich bei den Klassen I und II, die jedoch zusammen nur einem Bevölkerungsanteil (bezogen auf die Eltern der getesteten SchülerInnen) von rund 35,4% entsprechen, ist die gymnasiale Schulform die führende. Anhand dieser Zuordnungsproportionen gewinnt Abbildung (2) einen erheblichen Zuwachs bezüglich derer quantitativer Aussagekraft.

Die Schulformbetrachtung alleine reicht jedoch zum Einen nicht aus, um die Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und dem Kompetenzerwerb zu verdeutlichen, anderseits sind die Schulformen in den PISA Teilnehmerstaaten so differierend, dass ein internationaler Vergleich über den Weg der Schulformen nicht möglich ist. Der folgende Abschnitt betrachtet die Zusammenhänge von Bildungserfolg und sozialer Herkunft im internationalen Vergleich Schulformübergreifend.

4.2. Die Bedeutung der sozialen Herkunft im internationalen Vergleich

Nachdem die Betrachtungen im vorherigen Abschnitt einen deutlichen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem durch die Schulform bedingten (maximalen) Bildungsniveau aufgezeigt haben, stellt sich nun die Frage nach der Gewichtung der sozialen Herkunft im internationalen Vergleich. Der Fokus der Tests lag bei PISA 2000 auf der Lesekompetenz, daher basiert der internationale Vergleich im Hinblick auf soziökonomische Parameter auch auf der Auswertung der Leseleistungen. Da eine Generierung der bereits aus Abschnitt 4.1 bekannten EGP-Klassen auf internationaler Ebene (aufgrund der Datenlage) nicht möglich ist, wird der höchste in einer Familie erreichte soziökonomische Index (Highest international Socio-Economic Index, HISEI) für den Vergleich verwendet. (Vgl. PISA 2000 S. 381 ff) Dabei wird in Deutschland das obere Viertel des HISEI mehrheitlich durch Angehörige der oberen EGP-Dienstklasse gebildet, das untere Viertel wird hingegen von den unteren Bereichen der Arbeiterschicht besetzt. Da beim internationalen Vergleich der Lesekompetenz das obere Viertel mit dem unteren Viertel der Sozialstruktur verglichen wird, kommen die EGP-Klassen indirekt auch hier zur Anwendung.

Zur Beurteilung der Leseleistung wurden fünf Kompetenzstufen gebildet, wobei für die Vergleichsermittlung die mittlere Leseleistung herangezogen wurde. Im Anhang b1) befindet sich die komplette Vergleichstabelle, die gleichzeitig auch einen Überblick über die 32 Teilnehmerstaaten von PISA 2000 liefert. Danach ist die vom oberen Viertel der Sozialstruktur erreichte mittlere Leseleistung (im oberen Drittel der Kompetenzstufe III) in Deutschland im internationalen Vergleich exakt im Mittelfeld angesiedelt. Das heißt, dass 16 Teilnehmerländer in diesem Bereich bessere Ergebnisse erzielen, 15 Staaten einen schlechteren Wert als Deutschland. Betrachtet man hingegen das untere Viertel der Sozialstruktur, so zeigt sich für Deutschland ein im Vergleich zum oberen Viertel signifikant schlechterer Wert. Deutsche SchülerInnen aus dem unteren Quartil erreichen bei der Leseleistung nur den mittleren Bereich der Kompetenzstufe II. Damit rangiert Deutschland bei der Gruppe des unteren Viertels der Sozialstruktur hinsichtlich der Leseleistung im unteren Bereich der Kompetenzskala. Nur in Brasilien, Mexiko, und als einziges europäisches Land, in Luxemburg ist die Leseleistung dieser Gruppe noch schlechter als in Deutschland. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese drei Länder auch bei der Lesekompetenz innerhalb des oberen Quartils im unteren Bereich der Skala zu finden sind (Barsilien [32], Mexico [31], Luxemburg [29]) und damit die Lesekompetenz im Gesamten schlechter ist als in Deutschland. Somit sind selbst in diesen drei Ländern (auf insgesamt niedrigen Niveau) die Disparitäten geringer als dies in Deutschland der Fall ist. Welche Möglichkeiten bei der Entkopplung der Sozialen Herkunft und der Schlüsselqualifikation Leseleistung möglich sind, wird deutlich wenn wir nun das andere Ende der Tabelle aus Anhang b1) betrachten. So erreichen in Finnland die 15-Jährigen des oberen Viertels der Sozialstruktur den mittleren Bereich der Kompetenzstufe IV, während das untere Viertel der Sozialstruktur die Kompetenzstufe III erreicht. Es bestehen damit auch in Finnland, wie im Übrigen in allen Teilnehmerstaaten, soziale Disparitäten im Bereich der Lesekompetenz. Es gelingt in Finnland (und einer ganzen Reihe anderer Länder) jedoch eine erheblich bessere Entkopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb. Die Tabelle aus Anhang b2) verdeutlicht dies zusätzlich dadurch, dass die Differenzen der Testwerte zwischen oberen und unterem Viertel des Sozialstruktur grafisch aufbereitet wurden. Demnach besteht in Deutschland der größte Unterschied (!) in der Lesekompetenz zwischen 15-jährigen aus dem oberen und dem unteren Quartil. Dieses Delta beträgt in Deutschland mehr als 1½ Kompetenzstufen. Um als Vergleichsbasis bei Finnland zu bleiben: dort beträgt das Delta zwischen oberen und unteren Quartil nur eine halbe Kompetenzstufe. Als Fazit des Internationalen Vergleichs im Kompetenzerwerb stellt das deutsche PISA-Konsortium unter anderem fest: „Während in Deutschland die Kopplung von sozialer Lage der Herkunftsfamilie und dem Kompetenzerwerb der nachwachsenden Generation ungewöhnlich straff ist, gelingt es in anderen Staaten ganz unterschiedlicher geographischer Lage und kultureller Tradition, trotz ähnlicher Sozialstruktur der Bevölkerung, die Auswirkungen der sozialen Herkunft zu begrenzen“ (PISA 2000 S. 393). Das PISA-Kosortium bescheinigt Deutschland somit einen erheblichen Handlungsbedarf hinsichtlich der Entkopplung von Bildungschancen und sozialer Herkunft. Die politischen und auch gesellschaftlichen Reaktionen auf diesen für das Deutsche Bildungs- und Erziehungssystem ernüchternden Befund wird in Kapitel acht dieser Arbeit Thematisiert. Zunächst sind jedoch zum besseren Verständnis der Ergebnisse von PISA 2003 (in Kapitel 6) Statistische Grundkenntnisse erforderlich.

5. Statistik für Nichtstatistiker

Bei der Betrachtung der Befunden von PISA 2000 konnte auf Statistische Kenntnisse, die über das Alltagswissen hinausgehen, weitgehend verzichtet werden. Bei der Interpretation der Ergebnisse von PISA 2003 ist jedoch, wie Kapitel 6 zeigen wird, ein Minimum an Statistik-Kenntnissen erforderlich9, über die Leser dieser Arbeit je nach Vorbildung evtl. nicht verfügen. Dieses Kapitel stellt daher in Anlehnung an den Titel „Statistik verstehen“ von Walter Krämer (1994) einen kurzen Exkurs in die Welt der Statistik dar. Dabei beschränken sich die Ausführungen jedoch auf die unbedingt notwendigen Statistischen Kenngrößen.

5.1.Mittelwerte

Im Alltag verstehen wir unter einem Mittelwert quasi immer das arithmetische Mittel x (Sprich: x quer) Diese Art des Mittelwertes ist uns häufig auch als Durchschnittswert geläufig. Dabei werden einfach die Merkmalswerte addiert und diese Summe durch die Anzahl der Merkmalswerte dividiert. Dieser uns geläufige Mittelwert wird auch von PISA verwendet. Es sei an dieser Stelle darauf hin gewiesen, dass es mit dem geometrischen Mittel, dem harmonischen Mittel und dem Median noch weitere Mittelwerte gibt, die hier jedoch keine weitere Betrachtung finden. Es reicht für das Verständnis dieser Arbeit also völlig aus, zu wissen, dass mit Mittelwert das arithmetische Mittel gemeint ist . (Literatur-Tipp für interessierte: Krämer, Walter: Statistik verstehen, Frankfurt a.M. / New York 1994)

[...]


1 Besser bekannt unter der deutschen Bezeichnung: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

2 Eine detaillierte Betrachtung der Testinhalte würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen und unterbeleibt daher.

3 Bedeutender franz. Soziologe . † 23. Januar 2002

4 Diese Erläuterungen können nur die für das weitere Verständnis dieses Beitrages notwendigen Teilaspekte des in den Arbeiten Bourdieus sehr umfangreich definierten Kapitalbegriffes betrachten.

5 Eine weiterreichende Definition des von Bourdieu verwendeten Habitus-Begriffes ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich (Vgl. hierzu Diezinger/Mayr-Kleffel 1999 S.121-122)

6 Die Wichtigkeit vorschulischer Einrichtungen wie etwa Kindergärten sei hier explizit betont. Daher bezieht sich diese Aussage auch auf Familien mit Kindern in solche Einrichtungen.

7 In PISA-2003 wurde der Versuch unternommen einen solchen Index zu generieren Vgl. hierzu Kapitel 6.1

8 Zum Vergleich der Bundesländer wurde im Rahmen von PISA eine nationale Ergänzungsstudie (PISA-E) durchgeführt, die hier nicht weiter thematisiert wird.

9 Daher befindet sich dieses „Statistik Kapitel“ weder am Anfang dieser Arbeit, noch im Anhang

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Details

Title
Bildungspolitik und soziale Ungleichheit. Warum das deutsche Schulsystem soziale Ungleichheit reproduziert
College
University of Applied Sciences Esslingen
Grade
1,0
Author
Year
2006
Pages
27
Catalog Number
V54704
ISBN (eBook)
9783638498371
ISBN (Book)
9783638663465
File size
1169 KB
Language
German
Notes
Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand
Keywords
Bildungspolitik, Schulsystem, Soziale Ungleichheit, Reproduktion, Soziologie
Quote paper
Thomas Schlenker (Author), 2006, Bildungspolitik und soziale Ungleichheit. Warum das deutsche Schulsystem soziale Ungleichheit reproduziert, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/54704

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