Wittgensteins Philosophie der Mathematik - Ein philosophisches Lerntagebuch zu PU §185-188 und BGM I §1-12


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

43 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Verstehen und Beherrschen

2 Deviantes Verhalten

2.1 Kardinal oder ordinal?
2.2 Standards für richtiges und falsches Zählen
2.3 Wie zählt der deviante Schüler?
2.4 Zur Falschheit des devianten Schülers
2.5 Rationalitätskonforme Handlungsoptionen des Lehrers .

3 Wie man +2 meinen kann
3.1 Wenn ... dann hätte

4 Anthropologische Argumente
4.1 Das Kriterium des Meinens ist sein ständiger Gebrauch

5 Wie weiÿ ich
5.1 dass diese Farbe rot ist?
5.2 dass an dieser Stelle 2 die gleiche Zi er ist?
5.3 dass ich keinen Zweilel habe, wenn die Frage an mich herantritt?

6 Philosophie der Mathematik
6.1 Unerbittlichkeit
6.2 Wahrheit

7 Zusammenfassung

8 Analogien

9 Norm und Ideal

10 Schlieÿen

11 Lässt

12 Was sich vermittels einer Regel ableiten lässt

13 Exkurs: Verlegte Ofenrohre

14 Alle

15 Wie überzeugt man davon, dass −×−=+ ?

16 Müssen und folgen

17 Zur Vorgehensweise im Seminar
17.1 Gegen welche Argumente müsste sich eine abweichende Seminarpraxis verteidigen?
17.2 Welche Argumente könnten für ein deviantes Vorgehen angeführt werden?

1 Einleitung

Wittgenstein hat seine Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik 1 nicht so weit ausgearbeitet, dass er sie selbst zur Verö entlichung vorgesehen hätte. Seinen vormaligen Plan seine Philosophie der Mathematik in die Philosophischen Untersuchungen 2 zu integrieren, hat Wittgenstein nicht umgesetzt.

Die wörtliche Entsprechung zwischen PU §189 und BGM I §1 lässt die BGM dennoch als homogene Anschlussmöglichkeit an PU §188 erscheinen. Ansatzpunkt zum Einstieg in die BGM soll deshalb das in PU §185 . behandelte Problem des devianten Schülers sein, dessen Bezug auf die Regelfolgenproblematik den gedanklichen Rahmen für Wittgensteins Philosophie der Mathematik bildet.

In der Hinführung auf PU §185 beschreibt Wittgenstein ein typisches Lehr-Lern- Szenario: Ein Schüler bekommt die Grundzahlenreihe beigebracht. D.h. der Schüler kann die Folge der natürlichen Zahlen (Wittgenstein betrachtet stets endliche natürliche Zah- len und nennt sie Kardinalzahlen ) aufschreiben: 1, 2, 3, 4, 5, Zunächst bis 10, dann bis 100, dann bis 1000. Damit, so glaubt der Lehrer, hat sein Schüler einen groÿen gedanklichen Schritt getan, sein Schüler habe das System des Zählens verstanden, habe begri en, dass das Zählen (in gleicher Weise) unendlich weitergeht.

1.1 Verstehen und Beherrschen

Worin aber, so fragt Wittgenstein in dem betre enden Abschnitt der PU, besteht dieses Verstehen des Zählens , das Beherrschen der Grundzahlenreihe ? Was bedeutet verstehen oder beherrschen ?

Wittgenstein richtet sich gegen einen mentalistischen Begri von Verstehen , der einen bestimmten Zustand im Gehirn suggeriert. Ein solcher Verstehensbegri werde dem Gebrauch des Wortes Verstehen in der Sprache nicht gerecht.3 Verstehen oder Beherrschen sind für Wittgenstein dispositionale Ausdrücke4, die sich in einem bestimmten Verhalten zeigen: Verstehen bedeutet in einer bestimmten Situation das Angemessene tun.

2 Deviantes Verhalten

Gehen wir nun zu unserm Beispiel (143) zurück. Der Schüler beherrscht jetzt nach den gewöhnlichen Kriterien beurteilt die Grundzahlenreihe. Wir lehren ihn, nun auch andere Reihen von Kardinalzahlen anschreiben und bringen ihn dahin, daÿ er z.B. auf Befehle der Form +n Reihen der Form 0, n, 2n, 3n, etc. anschreibt; auf den Befehl +1 also die Grundzah- lenreihe. Wir hätten unsre Übungen und Stichproben seines Verständnisses im Zahlenraum bis 1000 gemacht. (PU §185)

Wittgenstein betrachtet eine (zumindest im gedanklichen Rückblick) alltägliche Si- tuation: Ein Lehrer bringt einem Schüler das Zählen bei. Und tatsächlich hat der Lehrer nach einigen Problemen (vgl. PU §143) seinen Schüler dazu gebracht die Folge der po- sitiven ganzen Zahlen von 0 bis 1000 korrekt aufzuschreiben. Daran anschlieÿend wird dem Schüler gelehrt einfache arithmetische Folgen von Kardinalzahlen aufzuschreiben. Und solange keine Zahlen gröÿer 1000 betrachtet werden, zeigen sich Lehrer und Schü- ler sowohl was das Lehren als auch, was den Nachweis des Gelernthabens angeht, dabei durchaus erfolgreich. Der Schüler kann beliebige arithmetische Folgen (bis 1000) auf eine Au orderung des Lehrers hin aufschreiben:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1 Kardinal oder ordinal?

Wittgenstein macht eine ungewöhnliche Unterscheidung: Der Schüler soll Reihen von Kardinalzahlen anschreiben . Warum sieht sich Wittgenstein motiviert zwischen Kardinalund Ordinalzahlen zu unterscheiden?

Ordinalzahlen geben die Stellung oder Position einer Zahl in einer festen Reihenfolge an. Sie beantworten die Frage An welcher Stelle? . Kardinalzahlen geben die Anzahl an, indem sie die Frage Wie viele? beantworten. Nun könnte man sagen: Zählen lernen Kinder, indem sie die Ordinalzahlen aufreihen lernen. Aus diesem intransitiven Zählen (Zählen als Selbstzweck) könnte das transitives Zählen ( etwas Zählen, d.h. die Anzahl bestimmen) abgeleitet sein.

So gesehen wären die Ordinalzahlen fundamentaler als die Kardinalzahlen. Und Witt- genstein würde mit Beherrschen der Grundreihe nicht das Auswendigwissen der Or- dinalzahlenreihe meinen, sondern ein korrektes sich Zur-Anzahl-Verhalten. Zu Fragen bleibt, ob sich das nachfolgende Wittgensteinsche Problemszenario bezüglich einer Ordinalzahlenreihe anders darstellen würde.

2.2 Standards für richtiges und falsches Zählen

Wir lassen nun den Schüler einmal eine Reihe (etwa +2 ) über 1000 hinaus fortsetzen, da schreibt er: 1000, 1004, 1008, 1012. (PU §185)

Wittgenstein beschreibt ein (zumindest aus pädagogischer Sicht) vertrautes Szenario: Der eben noch einsichtige Schüler zeigt ein deviantes, d.h. ein (von der Norm) abweichendes Verhalten: er macht irgendetwas falsch.

Ohne dass Wittgenstein selbst darauf hinweisen möchte, könnte an dieser Stelle gefragt werden, wie ein Lehrer pädagogisch sinnvoll mit einer solchen Situation umgehen sollte: Den Schüler auf die mehrheitlich richtig rechnenden MitschülerInnen verweisen? Das Werk des Schülers mit roter Tinte als unwürdig kennzeichnen und dem devianten Schüler die korrekte Antwort vorschreiben, so dass er sie mehrfach korrekt abschreiben kann?

Wittgenstein geht es nicht um die Diskussion pädagogisch-praktischer Möglichkeiten, sondern um eine philosophische, und das heiÿt argumentative Lösung:

Wir sagen ihm: Schau, was du machst! Er versteht uns nicht. Wir sagen: Du solltest doch zwei addieren; schau wie du die Reihe begonnen hast! Er antwortet: Ja! Ist es denn nicht richtig? Ich dachte, so soll ich's machen. Oder nimm an, er sagte, auf die Reihe weisend: Ich bin doch auf die gleiche Weise fortgefahren! Es würde uns nun nichts nützen, zu sagen Aber siehst du denn nicht ? und ihm die alten Erklärungen und Beispiele zu wiederholen. (PU §185)

Wittgensteins Szenario einer Lehrer-Schüler-Interaktion bekommt eine überraschende oder zumindest ungewöhnliche Wende: Der deviante Schüler macht sich anheischig seine Art des Zählens zu verteidigen! Auf die Au orderung des Lehrers sich anzuschauen, wie er die Reihe begonnen hat, kann der deviante Schüler tatsächlich antworten: Ich dachte, so soll ich's machen. Und auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so als wären der Lehrer und der deviante Schüler in einer absolut symmetrischen Position: Jeden Erklärungsversuch des Lehrers könnte der deviante Schüler aus seinem Verständnis heraus umdrehen und gegen die Argumente des Lehrers richten.

Um herauszubekommen, ob dieser Symmetrie argumentativ Asymmetrie (nach Mög- lichkeit auf der Seite des Lehrers) abgerungen werden kann, wäre zunächst zu klären, ob der Schüler konsistenterweise seine Art des Zählens verteidigen kann. Wenn dann geklärt ist, wie der deviante Schüler zählt, müssten die Handlungsoptionen des Lehrers durchgespielt werden: Wie kann der Lehrer die Frage des richtigen Zählens zu einer kognitiven und nicht zu einer Machtfrage werden lassen?

2.3 Wie zählt der deviante Schüler?

Wir könnten in so einem Falle etwa sagen: Dieser Mensch versteht von Natur aus jenen Befehl, auf unsere Erklärung hin, so, wie wir den Befehl: Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 4, bis 3000 6, etc. . (PU §185)

Wittgenstein beschreibt das abweichende Verhalten des Schülers als ein durchaus re- gelgeleitetes: Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 4, bis 3000 6, etc. Es scheint eine natürliche Disponiertheit des devianten Schülers dahingehend zu geben, dass es uns so scheine, als würde er sein Zählverhalten bei jedem Tausenderübergang ändern. Für ihn aber ist es natürlich die Au orderung +2 so zu verstehen, dass auf 1000 eben 1004 folgt und auf 2000 2006. Er versteht und damit ist ein echtes Verstehen gemeint, d.h. er hat kein falsches oder irriges Verständnis die Au orderung des Lehrers anders als der Lehrer. Dieses alternative Verstehen des devianten Schülers lieÿe sich evtl. so be- schreiben, dass der Schüler bei jedem Tausenderübergang immer schneller zählt, um mehr Fälle in den Blick zu bekommen: im Zahlenraum von 0 bis 1000 betrachtet er 500 Fälle, von 1000 bis 2000 nur noch 250, von 2000 bis 3000 166 Fälle, im nächsten Tausen- derabschnitt noch 125, dann 100, usf. Anders ausgedrückt: Der deviante Schüler schaut (und folgt in diesem Hinschauen genau der Au orderung) mit steigender Kardinalzahl immer ungenauer hin. Ein Verhalten, das auch normalen Menschen nicht unbekannt ist: so werden Entfernungen im Zentimeterbereich bis auf den Millimeter angegeben, im Meterbereich nur noch bis auf den Zentimeter und im astronomischen Maÿstab in Kilometern, Erd-Sonnen-Entfernungen, Lichtjahren oder Parseks. So gesehen hätte der deviante Schüler ein natürliches Verständnis für die Au orderung +2 intuitiv und spontan entwickelt.

An dieser Interpretation des Schülers anschlieÿend könnte man die Regel, nach der der deviante Schüler vorgeht, noch ein wenig modi zieren: Bei jedem Tausenderüber- gang zähle der Schüler nicht +2 mehr dazu, sondern verdoppele den additiven Betrag:

Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 4, bis 3000 8, bis 4000 immer 16, etc. Nun könnte der deviante Schüler in etwa wie folgt argumentieren:

Mein Zählen hat Vorteile. Wenn ich die Au orderung +2 befolge, be- komme ich ihre Gesamtheit in den Blick: Bis 1000 betrachte ich 500 Fälle, bis 2000 betrache ich 250 Fälle, bis 3000 125 Fälle usf. D.h. ingesamt gibt es überhaupt nur 1000 Fälle für die +2 -Au orderung. Ich kann deshalb prozentual immer angeben wie viele Fälle ich gerade in den Blick genommen habe. Bis 1000 z.B. 50 Prozent, bis 2000 75 Prozent, bis 3000 87 Prozent, bis 4000 93 Prozent der Fälle. Dein Zählen verstrickt sich in den Fängen +2 der Unendlichkeit5

2.4 Zur Falschheit des devianten Schülers

Würde der Lehrer die Frage des Schülers: Ja! Ist es denn nicht richtig? so verstehen, dass er auf diejenigen Stellen weisen sollte, an denen der Schüler einen Fehler gemacht hat, käme er in gewisse Schwierigkeiten. Machte man sich bei den von dem Schüler geschriebenen Zahlen auf die Suche nach einer Zahl, die der Au orderung des Lehrers nicht entspricht, würde man nicht fündig werden. Alle Einzelergebnisse des Schülers sind richtig, d.h. wenn wir die Ergebnisse des Schülers mit denen des Lehrers vergleichen würden, würden die Ergebnisse des Schülers immer auch bei den Ergebnissen des Lehrers vorkommen. Der deviante Schüler liefert nur nicht die komplette Reihe. Würde der Lehrer auf einen Fehler des Schüler zeigen wollen: Schau, was du hier machst! er müsste auf eine Stelle zwischen den Zahlen des Schülers weisen.

Die Frage nach den Richtigkeitsstandards für das Zählen hat etwas Schlüpfriges an sich. Einerseits kann der Schüler sein Zählen als richtig oder zumindest als nicht unsinnig verteidigen. Andererseits macht es Schwierigkeiten genau zu beschreiben, wo der Fehler des Schülers liegt. Er hat den Lehrer nicht falsch verstanden, sondern anders.

Fragte der Lehrer seinen Schüler, wer Aristoteles gewesen sei und der Schüler würde berichten, dass es sich dabei um den gröÿten Philosophen der Antike handele, der die formale Logik erfunden habe, so könnte der Lehrer die Antwort des Schülers kaum für falsch halten, selbst wenn er als Antwort erwartet hätte, dass Aristoteles um 384 in Stagira geboren und um 324 in Chalkis gestorben sei. Auch die Wer-War-Aristoteles - Regel ist hinsichtlich ihrer Befolgung unterbestimmt.

Fallstricke, die der Lehrer sich bemühen könnte beherrschbar zu machen. Aber auch dann könnte der Schüler auf den Gödelschen Unvollständigkeitssatz hinweisen, um zumindest hinsichtlich der Inkonsistenz des Systems wieder Symmetrie herzustellen.

Dieser Fall hätte Ähnlichkeit mit dem, als reagierte ein Mensch auf eine zeigende Gebärde der Hand von Natur aus damit, daÿ er in der Richtung von der Fingerspitze zur Handwurzel blickt, statt in der Richtung zu Fingerspitze. (PU §185)

Sowohl der deviante Schüler als auch derjenige, der eine hinweisende Geste unge- wöhnlich interpretiert, zeigen ein (auch für den Normalverständigen) nachvollziehbares Verhalten. Diesbezüglich mit Frege von einer bisher unbekannten Art von Verrückt- heit zu sprechen, erscheint unangemessen. Unbestritten ist, dass Regeln menschliches Verhalten bestimmen. Hinsichtlich der Frage wie Regeln das machen, beziehungsweise wie festzustellen ist, ob einer Regel korrekt gefolgt wurde, so scheint uns Wittgenstein nahelegen zu wollen, gibt es Zwischenstufen zwischen richtig und falsch , zwischen normal und verrückt . Man kann sich andere Zählpraktiken durchaus vorstellen.

2.5 Rationalitätskonforme Handlungsoptionen des Lehrers

Der Lehrer und der Schüler könnten sich darauf einigen, dass es sich bei der +2 -Regel um eine hinreichend einfache Regel handelt, deren Befolgung sowohl dem Lehrer als auch dem Schüler leicht fallen müsste. Zumindest könnte der Lehrer behaupten, dass es sich bei der +2 -Regel um eine sehr einfache Regel handelt oder handeln soll, die ein richtiges Verständnis vorausgesetzt in jedem Fall zu einem einfachen Ergebnis führt.

Nun könnten der Lehrer und der Schüler ein Spiel spielen: Auf eine beliebige Zahl soll die +2 -Regel angewendet werden. Unabhängig davon welche Zahl sich der Schüler auch ausdenkt, der Lehrer hat keine Schwierigkeit seine +2 -Regel anzuwenden: 8 10 , 124 126 , 10298 10300 , 10322142 10322144 . Der Schüler dagegen würde in Probleme geraten, wenn der Lehrer ihm die gleichen Zahlen präsentieren würde. Könnte der Schüler auf 8 noch 10 und auf 124 noch 126 antworten, so scheitert seine +2 -Regel bei Zahlen, die wesentlich gröÿer als 1000 oder 2000 sind: Wie die +2 -Regel auf 10298 oder 10322142 anzuwenden ist, ist schon deswegen nicht zu beantworten, weil gar nicht klar ist, ob die Zahlen 10298 oder 10322142 überhaupt bezüglich der +2 -Regel beim Schüler vorkommen. Abgesehen davon bekommt der Schüler bei hinreichend groÿen Zahlen extreme Probleme seine Regel anzuwenden, selbst wenn das Problem des Vorhandenseins gar nicht beachtet würde. Woher sollte der Schüler wissen, welcher additive Betrag zwischen 10000 und 10999 bzw. zwischen 10322000 und 10322999 seiner +2 -Regel entspricht?

Damit ist zwar nicht gesagt, dass der Lehrer die Regel richtiger versteht als sein Schüler, aber dem Schüler könnte nahelegt sein, dass die Lehrerregel zumindest einfacher als die Schülerregel ist. Evtl. lieÿe sich der Schüler dadurch zum Nachdenken anregen.

Alternativ wäre auch ein anderes Szenario vorstellbar: Der Lehrer könnte das, was der Schüler macht, so beschreiben wie Wittgenstein es selber vorschlägt: Du zählst als hätte ich den Befehl: Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 4, bis 3000 6, etc. gegeben . Sollte aber der Schüler beschreiben, was der Lehrer macht, wenn er die +2 -Reihe aufschreibt, gerät der Schüler in Schwierigkeiten: Du zählst als hätte ich den Befehl: Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 1 gegeben. Was du bis 3000 gemacht hast, verstehe ich nicht.

Damit wäre der Schüler natürlich nicht widerlegt, aber evtl. hinreichend irritiert, um sein Vorgehen noch einmal zu überdenken.

3 Wie man +2 meinen kann

Wie und auf welche Weise kann der Lehrer durch eine Regel festlegen, was in einem unbekannten Fall eine regelkonforme Handlung ist? Wie soll man Gelerntes in einem unbekannten Fall anwenden? Worin liegt die Härte der Mathematik, dass sie so wenig Verhaltensspielraum aufzubieten scheint? Wie macht es die Mathematik, dass bei das ... unendlich weitergehen muss?

1 : 3 = 0,33333...

Was du sagst, läuft also darauf hinaus, es sei zum richtigen Befolgen des Befehlt + n auf jeder Stufe eine neue Einsicht Intuition nötig. Zur richtigen Befolgung! Wie wird denn entschieden, welches an einem bestimmten Punkt der richtige Schritt ist? Der richtige Schritt ist der, welcher mit dem Befehl wie er gemeint war übereinstimmt. (PU §186)

Wittgenstein diskutiert eine naheliegenden Antwort: Die Regel legt die Reihe +2 in der Art fest, wie sie gemeint ist. Das Meinen bestimmt seine jeweilige Anwendung bzw. den jeweiligen Übergang. So gesehen würde das Problem des Regelfolgens auf das Meinen verschoben, wobei Meinen dabei als ein geister Akt oder Zustand verstanden würde. Nun aber stellt sich das gleiche Problem wie bei der Ausgangsfrage: Wie scha t oder macht das Meinen das? Das Rätsel der Bestimmtheit einer Regel, die Frage wie die Anwendungsfälle durch eine Regel bestimmt sind bleibt unbeantwortet.

Du hast also zur Zeit, als du den Befehl +2 gabst, gemeint, er solle auf 1000 1002 schreiben und hast du damals auch gemeint, er solle auf 1866 1868 schreiben, und auf 100034 100036, usf. eine unendliche Anzahl solcher Sätze? Nein; ich habe gemeint, er solle nach jeder Zahl, die er schreibt, die zweitnächste schreiben; und daraus folgen ihres Orts alle jenen Sätze. Aber es ist ja gerade die Frage, was, an irgendeinem Ort, aus jenem Satz folgt. Oder auch was wir an irgendeinem Ort Übereinstimmung mit jenem Satz nennen sollen (und auch mit der Meinung, die du damals dem Satz gegeben hast, worin immer diese bestanden haben mag). Richtiger, als zu sagen, es sei an jedem Punkt eine Intuition nötig, wäre beinah, zu sagen: es sei an jedem Punkt eine neue Entscheidung nötig. (PU §186)

Wenn das +2 -Meinen nur bedeuten würde, dass nach jeder Zahl die zweitnächste geschrieben werden soll, dann ist hinsichtlich des Problems des Regelfolgens nichts ge- wonnen. Denn das hat der deviante Schüler durchaus verstanden. Und trotzdem gibt es an bestimmten Orten keine Übereinstimmung zwischen dem Lehrer und dem Schüler, nämlich bei jeder Zahl gröÿer 1000. Die Intuition beim Lehrer und Schüler kann mög- licherweise sogar die selbe oder zumindest eine ähnliche gewesen sein: zu jeder Zahl die zweitnächste zu schreiben. Und trotzdem unterscheiden sich die Entscheidungen, die der Lehrer und der Schüler getro en haben bei Zahlen gröÿer 1000 fundamental.

3.1 Wenn ... dann hätte ...

Ich habe aber doch auch damals, als ich den Befehl gab, schon gewuÿt, daÿ er auf 1000 1002 schreiben soll! Gewiÿ; und du kannst sogar sagen, du habest es damals gemeint; nur sollst du dich nicht von der Grammatik der Wörter wissen und meinen irreführen lassen. Denn du meinst ja nicht, daÿ du damals an den Übergang von 1000 auf 1002 gedacht hast und wenn auch an diesen Übergang, so doch an andere nicht. (PU §187)

Wittgenstein diskutiert einen naheliegenden Einwand: Wer den Befehl +2 gibt, habe schon beim Befehlgeben gewusst, dass auf 1000 1002 zu schreiben ist. Und Wittgenstein will dem auch gar nicht widersprechen. Das Problem liegt nicht darin, dass der Befehls- geber bereits zum Zeitpunkt als er den Befehl +2 gegeben hat, gewusst oder gemeint hat, dass auf 1000 1002 folgt. Problematisch ist, dass auch der Befehlsgeber nicht an alle Übergänge gedacht haben kann, denn es gibt unendlich viele davon. Wie die +2 - Au orderung es scha t, dass alle Übergänge gemacht werden können, wird durch das Meinen oder Gewusst-Haben nicht geklärt.

Dein Ich habe damals schon gewuÿt ... heiÿt etwa: Hätte man mich damals gefragt, welche Zahl er nach 1000 schreiben soll, so hätte ich geant- wortet 1002 . Und daran zwei e ich nicht. Es ist das eine Annahme etwa von der Art dieser: Wenn er damals ins Wasser gefallen wäre, so wäre ich ihm nachgesprungen. Worin lag nun das Irrige deiner Idee? (PU 187)

Wer glaubt, das Hätte-Argument würde etwas zur Klärung der Regelfolgenproblematik leisten, der irrt. Wäre jemand ins Wasser gefallen, so hätte jemand geholfen. Und hätte jemand gefragt, welche Zahl auf 1000 folgt, so wäre der Übergang gemacht worden. Tatsächlich aber ist niemand ins Wasser gefallen und die + 2 -Regel ist nicht angewendet worden. Hinsichtlich des Regelfolgenproblems leistet ein solches Argument nichts. Denn die Frage, wie die Übergänge bestimmt sind, wird eben nicht beantwortet. Durch die Wenn-Hätte-Konstellation wird geradezu vermieden, dass das Problem der jeweils konkreten Übergänge in den Blick kommt. Eine Wenn-Hätte-Lösung betri t nicht den hier zur Diskussion stehenden Fall des Regelfolgens.

Da möchte ich zuerst sagen: Deine Idee sei gewesen, jenes Meinen des Befehls habe auf seine Weise alle jene Übergänge doch schon gemacht: deine Seele iege beim Meinen, gleichsam, voraus und mache alle Übergänge, ehe du körperlich bei dem oder jenem angelangt bist. (PU §188)

Wer versucht das Problem des Regelfolgens über das Meinen zu lösen, verstrickt sich in begri iche Fallstricke. Sollte man sagen, dass die Seele beim Meinen dem Körper voraus- iege und damit das Regelfolgenproblem löst? Sicherlich nicht. Wer so redet, redet nicht mehr vom Regelfolgen, sondern betreibt Sprachmagie. Ein konkretes philosophisches Problem würde man in diesem Fall dadurch zu lösen versuchen, dass das Problem hinter einen möglichst groÿen philosophischen Brocken versteckt würde: hier hinter dem Begri der Seele . Hinsichtlich der Regelfolgenproblematik eine unbefriedigende Lösung.

Du warst also zu Ausdrücken geneigt, wie: Die Übergänge sind eigent- lich schon gemacht; auch ehe ich sie schriftlich, mündlich, oder in Gedanken mache. Und es scheint, als wären sie in einer einzigartigen Weise vorausbe- stimmt, antizipiert wie nur das Meinen die Wirklichkeit antizipieren könne. (PU §188)

Der Rekurs auf das Meinen führt in begri iche Widersprüche: Übergänge seien eigent- lich schon gemacht, ehe sie gemacht wurden. Oder: man müsste davon ausgehen, dass das Meinen die Wirklichkeit antizipieren könne: Ein Vorschlag, der zumindest philosophische Erklärungsbedürftigkeit übrig lässt.

Das Problem des Regelfolgens lässt sich durch einen Adhoc-Verweis auf die Funktion des Meinens nicht lösen. Wer sich auf die vermeintlich schnelle und einfache Lösung einlässt verwickelt sich in untragbare sprachliche Verwirrungen.

Da an dieser Stelle keine Lösung in Sicht ist, macht Wittgenstein einen typischen, fast re exartigen, philosophischen Zug und schaut sich zunächst die Verwendung des Ausdrucks bestimmt an.

4 Anthropologische Argumente

Wir verwenden den Ausdruck: Die Übergange sind durch die Formel ... bestimmt . Wie wird er verwendet? Wir können etwa davon reden, daÿ Menschen durch Erziehung (Abrichtung) dahingebracht werden, die Formel [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] so zu verwenden, daÿ Alle, wenn sie die gleiche Zahl für x einsetzen, immer die gleich Zahl für y herausrechnen. Oder wir können sagen: Diese Menschen sind so abgerichtet, daÿ sie alle auf den Befehl + 3 auf der glei- chen Stufe den gleichen Übergang machen. Wir könnten dies so ausdrücken:

Der Befehl + 3 bestimmt für diesen Menschen jeden Übergang von einer Zahl zur nächsten völlig. (Im Gegensatz zu andern Menschen, die auf diesen Befehl nicht wissen, was sie zu tun haben, oder die zwar mit Sicherheit, aber ein jeder in anderer Weise, auf ihn reagieren.) (BGM I, §1)

Wittgenstein diskutiert das Problem der Bestimmtheit von mathematischen Formeln aus anthropologischer Sicht. Hinsichtlich dieser anthropologischen Verwendung scheint die Bedeutung von Die Übergänge sind durch die Formel ... bestimmt nachvollziehbar und unstrittig. Die Formel bestimmt die Übergänge durch Erziehung. Wir werden dazu abgerichtet die Formel [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] gerade so zu verwenden, dass jede Erziehungsgemeinschaft identische Ergebnisse herausbekommt. Andere Erziehungsgemeinschaften möglicherwei- se andere, ganz andere womöglich gar kein Ergebnis: sie verstehen (und gebrauchen) die Formel nicht.

Wittgenstein beschreibt das Bestimmtsein als intersubjektive Übereinstimmung in der Zeit: Wir (eine Erziehungs- und damit Bestimmtheitsgemeinschaft) stimmen über die Zeit mit uns selbst überein.

[...]


1 Ab jetzt abgekürzt als BGM . Römische Zi ern deuten auf die einzelnen Teile der BGM hin.

2 Ab jetzt abgekürzt als PU .

3 Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. (PU §43)

4 Typische Dispositionen sind z.B. eifrig , cholerisch oder zerbrechlich , aber auch die Disposition Fehler zu machen .

5 Fallstricke, die der Lehrer sich bemühen könnte beherrschbar zu machen. Aber auch dann könnte der Schüler auf den Gödelschen Unvollständigkeitssatz hinweisen, um zumindest hinsichtlich der Inkonsistenz des Systems wieder Symmetrie herzustellen.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Wittgensteins Philosophie der Mathematik - Ein philosophisches Lerntagebuch zu PU §185-188 und BGM I §1-12
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Philosophisches Seminar)
Veranstaltung
Wittgensteins Philosophie der Mathematik
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
43
Katalognummer
V55113
ISBN (eBook)
9783638501545
Dateigröße
717 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Wittgensteins Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (BGM) waren ursprünglich als Teil der Philosophischen Untersuchungen (PU) geplant. Diese Arbeit folgt Wittgensteins gedanklicher Bewegung, die in PU §185 ihren Ausgangpunkt nimmt. Diskutiert werden die Paragraphen 185-188 der PU und die Paragraphen 1-12 der BGM: "Worin liegt dann aber die eigentümliche Unerbittlichkeit der Mathematik" (BGM I §4)
Schlagworte
Wittgensteins, Philosophie, Mathematik, Lerntagebuch, Wittgensteins, Philosophie, Mathematik
Arbeit zitieren
Magister Artium Markus Szczesny (Autor:in), 2006, Wittgensteins Philosophie der Mathematik - Ein philosophisches Lerntagebuch zu PU §185-188 und BGM I §1-12, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55113

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