Warum erkannte der amerikanische Präsident Richard Nixon de facto die Volksrepublik China an?

Ein Erklärungsversuch aus neorealistischer Sicht


Term Paper, 2005

14 Pages, Grade: 1,7


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Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Hauptteil
1. Der Neorealismus nach Kenneth Waltz
1.1. Struktureller Dreisatz
1.1.1. Ordering Principle
1.1.2. Character of the units
1.1.3. Capabilities
1.2. Balance of Power
2. De facto-Anerkennung der Volksrepublik als neorealistische Notwendigkeit

III. Zusammenfassung

IV. Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Vom 21. bis 28. Februar 1972 besuchte der damalige US-amerikanische Präsident Richard M. Nixon die Volksrepublik China. Es war der erste Besuch eines amtierenden Präsidenten in dem kommunistischen Riesenreich und bedeutete de facto die Anerkennung Rotchinas. Dies stellte die wichtigste außenpolitische Wende der Vereinigten Staaten von Amerika seit dem Beginn des Kalten Krieges dar, die Nixons Kritiker und politische Freunde, Amerikas Gegner und Verbündete gleichermaßen irritierte. Denn seit dem Jahre 1949, als die chinesischen Kommunisten mit ihrem Führer Mao Zedong an der Spitze, die von den USA unterstützten Nationalchinesen Chiang Kai-sheks besiegt hatten und daraufhin die Volksrepublik ausgerufen hatten, lehnten alle folgenden US-Regierungen eine Anerkennung Rotchinas strikt ab. Stattdessen unterhielt man diplomatische Beziehungen zu der Inselprovinz Taiwan, auf die sich die Nationalchinesen zurückgezogen hatten, und pochte stets auf dem Alleinvertretungsanspruch Taiwans für das gesamte chinesische Volk. Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen war Richard Nixons Aufenthalt in Peking in den Augen seiner Zeitgenossen wahrlich „A week that changed the world“, wie er selbst konstatierte. (Vgl. Nixon 1978: 476)

Doch warum vollzog der Präsident nun überhaupt diesen Schritt zur Öffnung Chinas? Warum erkannten Nixon und seine engsten außenpolitischen Ratgeber um den Nationalen Sicherheitsberater Henry A. Kissinger die Volksrepublik de facto an und leiteten einen Prozess ein, an dessen Ende 1979 die offizielle Aufnahme diplomatischer Beziehungen stand? Welches Verständnis des internationalen Staatensystems verbarg sich hinter diesem außenpolitischen Schachzug des Weißen Hauses?

Antworten auf diese Fragen soll der Neorealismus nach Kenneth Waltz liefern.

Diese Theorie der internationalen Politik unternimmt den Versuch, das Handeln von Staaten insbesondere anhand des Prinzips der Selbsthilfe und des Prinzips des Strebens nach einem Machtgleichgewicht zu erklären.

Ziel dieser Darstellung ist es nun, Amerikas Annäherung an die Volksrepublik China im Lichte des Neorealismus verständlich zu machen. Dafür wird die Autorin dieser Arbeit im ersten Kapitel zunächst die Theorie des Neorealismus nach Waltz unter Berücksichtigung der beiden oben genannten Prinzipien vorstellen. Diesem theoretischen Rahmen folgt im zweiten Kapitel dann die Anwendung des Neorealismus auf das Fallbeispiel der Anerkennung Chinas. Zu diesem Zweck soll Nixons historische Peking-Reise im Jahre 1972 im Kontext des damaligen internationalen Staatensystems analysiert werden. Eine Zusammenfassung mit den wichtigsten Ergebnissen der Betrachtung und einem abschließenden Fazit beschließt die Arbeit.

II. Hauptteil

1. Der Neorealismus nach Kenneth Waltz

Die Denkschule des Neorealismus basiert auf dem Buch „Theory of International politics" des Wissenschaftlers Kenneth Waltz, das 1979 erschien. Darin legt Waltz dar, dass die internationalen Beziehungen nach wie vor in entscheidendem Maße von den Staaten als Akteuren gelenkt und gesteuert werden und nicht von Interdependenz und Transnationalismus dominiert werden. Da laut Waltz Systeme wie das der internationalen Staatenwelt durch Strukturen wirken, stellt er einen strukturellen Dreisatz auf:

1.1. Struktureller Dreisatz

1.1.1. Ordering principle

Das Ordnungsprinzip („ordering principle”) bedingt die Anordnung der Einheiten (Akteure) in der Struktur und macht dadurch das ganze Konzept erst operationalisierbar. Unter der Struktur wiederum versteht Waltz die Position eines Staates in Relation zu den anderen Staaten. (Vgl. Waltz 1979: 80)

Per Definition ist nach Waltz das Organisationsprinzip und damit das internationale System immer Anarchie. Denn im Gegensatz zu innenpolitischen Systemen, die nach dem hierarchischen Prinzip gegliedert sind, ist das internationale System nach dem Grundsatz der Koordination aufgebaut - es ist dezentral und nicht-hierarchisch. Dem Staatensystem fehlt eine übergeordnete, für alle verbindliche Zentralgewalt, die den Einsatz von Gewalt und militärischen Mitteln zentral regelt und sanktioniert. Es gibt mithin kein Gewaltmonopol wie bei nationalen Regierungen. Die Handlungen anderer Staaten bleiben für den einzelnen Staat unberechenbar, er kann sich niemals völlig sicher sein, ob nicht militärische Mittel oder sonstige Zwangsmaßnahmen gegen ihn angewandt werden, die eventuell seine Existenz gefährden. (Vgl. Vogt 1999: 51)

Deshalb leben die Akteure, also die Staaten, in ständiger existentieller Unsicherheit. Für sie stellt die internationale Politik einen einzigen Kampf ums Überleben dar, der sie zwingt Machtpolitik als ihr ureigenstes Interesse zu betreiben. Die Sicherung des eigenen Überlebens überragt für sie alle anderen Ziele und wird zur Grundlage allen staatlichen Handelns.

Kenneth Waltz sieht dabei im internationalen Staatensystem eine Analogie zur Mikroökonomie. Wie in der internationalen Politik fehlt dem Markt in gleichem Maße eine übergeordnete zentrale Ordnungs- und Entscheidungsinstanz, wenngleich dennoch ein Ordnungsmechanismus erkennbar ist. Was auf den ersten Blick ein Widerspruch zwischen Anarchie und Struktur zu sein scheint, wird klar, wenn man sich vor Augen führt, dass beide Systeme durch die Koaktion der jeweiligen unabhängig handelnden Akteure selbst konstituiert werden. Auf gleichem Wege wie die Akteure auf das System wirken, wirkt das System nun auf die Akteure: unintendiert und unbeeinflussbar. Mittels des Zusammenspiels von nutzenmaximierenden Einheiten, im ökonomischen System sind dies die Unternehmen, die lediglich ihr eigenes Interesse verfolgen, entwickelt und etabliert sich somit letztlich eine für alle Einheiten geltende Ordnung, nämlich hier der Markt. Das intendierte Handeln der Einheiten hat also zu einem Resultat geführt, das mit der ursprünglichen Handlungsmotivation weitgehend keine Gemeinsamkeiten mehr aufweist. Daraus lässt sich wiederum als Gesetz folgern, dass sich bei der Maximierung von eigenem Nutzen im ordnungsfreien Raum unbeabsichtigt eine Marktordnung ergibt, die von der unsichtbaren Hand geschaffen wurde. (Vgl. Vogt 1999: 44)

Waltz erkennt im Staatensystem darin eine Entsprechung: Als Pendant zur Nutzenmaximierung und zum Gewinnstreben durch die Unternehmen dient ihm das alles überragende Sicherheitsstreben der Staaten. Die Staaten wollen immer mehr vom Gut „Sicherheit” für ihr „Überlebenskonto”. Doch dieses Gut ist knapp und der Pfad zur goldenen Tür der Existenzsicherung ist schmal. Infolge dessen steht den Staaten nur ein äußerst beschränkter Handlungsspielraum offen, um ihr Überleben zu sichern. Jeder, der sich zu weit vom Pfad weg entfernt, nimmt die Gefahr des Untergangs in Kauf, da merklich wenige Formen des Staatshandelns mit dem Gut „Sicherheit” belohnt werden. Auf dem engen Pfad hin zum Überleben müssen sich die Staaten mit den anderen Staaten einem Wettbewerb stellen - und zwar dem Wettbewerb um „Sicherheitseinheiten”. (Vgl. Waltz 1979: 89)

1. 1. 2. Character of the units

Die Einheiten des internationalen Systems sind souveräne Nationalstaaten, die als einheitliche Akteure an machtpolitischen Interessen orientiert handeln.

Da in der Staatenwelt der Internationalen Politik Anarchie herrscht, gibt es keine funktionale Differenzierung zwischen den einzelnen Akteuren. Sie alle erfüllen die Funktionen, die durch die Struktur determiniert sind, d.h., dass die Staaten sich in ihrem Ziel der Sicherheitsmaximierung ähnlich sind und daher die nahezu identischen Funktionen ausüben. Es liegt demgemäß eine funktionale Homogenität vor. (Vgl. Waltz 1979: 97)

Waltz räumt in diesem Zusammenhang zwar ein, dass auch andere Akteure existieren. Dennoch spielen in seiner Theorie nur die Staaten die Hauptrolle, weshalb das System der internationalen Politik von Staatszentriertheit geprägt ist. (Vgl. Waltz 1979: 93)

1. 1. 3. Capabilities

Wenngleich sich die Staaten wie oben gesehen nicht auf funktionaler Ebene unterscheiden, gibt es freilich einen anderen Punkt der sie trennt: ihre relativen Fähigkeiten. Dies bedeutet, dass sich Staaten aufgrund ihrer jeweiligen Fähigkeiten darin unterscheiden, wie gut oder weniger gut sie ihren Funktionen und Aufgaben genügen, die die Struktur determiniert.

Diese relativen Fähigkeiten wiederum ergeben sich im Wesentlichen aus den relativen Machtpositionen der Staaten. Der Begriff „Macht” bezeichnet bei Waltz die Fähigkeit, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Damit ist Macht eben kein Ziel an sich und keine Erklärungsvariable des internationalen Systems, sondern dient quasi als Instrumentarium zur Zielerreichung von Sicherheit und Durchsetzung eigener Interessen. Macht als Mittel zum Zweck umfasst als Ressourcen z. B. die jeweilige Bevölkerung, das Territorium, die ökonomische Prosperität und die militärische Stärke eines Staates. Und eben nur in diesen Ressourcen unterscheiden sich die Staaten signifikant und ist zugleich der Unterschied von wesentlichem Belang, nicht aber in weiteren Attributen wie Traditionen und Herrschaftssystemen. (Vgl. Waltz 1979: 99) Wenn man in einem weiteren Schritt nun die Machtressourcen aller Staaten abstrahiert und gegenüberstellt, erhält man eine Rangordnung der Staaten. Aus dieser Rangliste der Machtverteilung ergibt sich die Struktur des internationalen Systems in Form eines unipolaren, bipolaren oder multipolaren Systems. Kann ein Staat also ein Zugewinn an Macht verzeichnen, steigern sich damit seine relativen Fähigkeiten und er rückt in der Hierarchie nach oben, d.h. sein Gewicht im Staatensystem nimmt zu. Ändern sich dementsprechend die Fähigkeiten von Staaten, vollzieht die gesamte Struktur diese Wandlung mit in dem Sinne, dass sich die Einheiten neu zueinander ordnen. (Vgl. Waltz 1979: 97)

Spinnt man das Konstrukt des strukturellen Dreisatzes konsequent weiter, so muss es in einem anarchischen Staatensystem für alle Akteure einzig und allein ein Ziel geben: die Wahrung ihrer Position in der Hierarchie. Denn ist ein Staat nicht in der Lage, seine Stellung in der Struktur zu erhalten, gefährdet er damit sein Überleben.

1.2. Balance of power

Das Machtgleichgewicht ist aus Sicht von Waltz ein emergentes Phänomen. Es erwächst nicht aus dem brillanten Handeln kluger Staatsmänner, sondern hat seine Ursache vielmehr in der Struktur selbst als Folge der Anarchie. Die Struktur stülpt den Staaten im Kontext eines top-down-Prozesses geradezu das Machtgleichgewicht über. (Vgl. Siedschlag 1997: 97)

Dies trifft indes nur zu, wenn alle in der Struktur interagierenden units nach Sicherheitsmaximierung streben. Tun die Staaten aber genau dies, müssen sie sich aktiv am Balance-Prinzip beteiligen, um ihre eigene Sicherheit zu bewahren oder zu vergrößern. Als Folge dessen, dass die Sicherheitsüberlegungen bei den Staaten oberste Priorität haben und nicht das Streben nach Machtgewinn stellt das Balance-of- power-Prinzip den zentralen Systemeffekt her.

Dabei lassen die Anarchie und die absolute Dominanz von Sicherheitserwägungen den Staaten zwei Handlungsalternativen offen: Zum einen die Möglichkeit des „Balancing” und zum anderen das Mittel des „Bandwagoning“.

„Balancing” meint, dass Staaten Allianzen und Gegenallianzen bilden, um ein Gleichgewicht der Kräfte im internationalen System zu erzielen. Man versucht, das internationale Gewicht dahingehend wechselseitig auszutarieren, dass man sich bei zwei existenten Koalitionen stets der schwächeren anschließt, von der eine geringere Bedrohung für die eigene Sicherheit ausgeht. Damit soll ein Machtungleichgewicht und das Entstehen einer alleinigen Hegemonialmacht verhindert werden. (Vgl. Vogt 1999: 53)

Bei der Handlungsalternative des so genannten „Bandwagoning” dagegen scharren sich die Staaten immer um die stärkste Macht, von der die größte Bedrohung für ihr Überleben entspringt. (Vgl. Waltz 1979: 125)

Waltz zufolge hängt es gleichwohl von der Systemstruktur ab, ob die Akteure dazu neigen, einander auszubalancieren oder es doch eher bevorzugen, auf den Wagen des Stärkeren aufzuspringen. Jedoch stellt Waltz in diesem Zusammenhang folgende Hypothese auf: Solange eine Macht („Möchtegern-Führer”) existiert, die den Führungsanspruch eines Hegemon für sich reklamiert, ohne diesen Anspruch jemals in die Realität umsetzen zu können, herrschen Balancierungstendenzen vor. Tut sich ein Staat aber beständig als „Gewinner” hervor, wird „Bandwagoning” das Verhalten der Akteure bestimmen. (Vgl. Waltz 1979: 125 f.)

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Details

Title
Warum erkannte der amerikanische Präsident Richard Nixon de facto die Volksrepublik China an?
Subtitle
Ein Erklärungsversuch aus neorealistischer Sicht
College
Johannes Gutenberg University Mainz  (Politikwissenschaft)
Course
Einführung in die Internationalen Beziehungen
Grade
1,7
Author
Year
2005
Pages
14
Catalog Number
V55190
ISBN (eBook)
9783638502153
ISBN (Book)
9783640718184
File size
397 KB
Language
German
Notes
Fallstudie, Korrektur-Kommentar des Dozenten: Formal ohne Fehl und Tadel, Inhaltlich gut, der Teil über den Neorealismus ist weitgehend überzeugend, die Anwendung etwas vage, Originalität und Fragestellung sehr gut, methodische Qualität gut bis befriedigend, sprachliche Gestaltung sehr gut, formale Gestaltung sehr gut, Literatur sehr gut
Keywords
Richard Nixon USA US-Präsident Washington Republikaner Henry Kissinger Außenpolitik US-Außenpolitik Kalter Krieg Volksrepublik China Neorealismus neorealistisch Kenneth Waltz Politikwissenschaft Politik Geschichte Fallstudie Staat Anerkennung Gründung, Öffnung Sowjetunion, Internationale Politik Internationale Beziehungen Vietnam
Quote paper
Claudia Wößner (Author), 2005, Warum erkannte der amerikanische Präsident Richard Nixon de facto die Volksrepublik China an? , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55190

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