Die Mittelschichten in Deutschland - Hüter der Demokratie?


Dossier / Travail de Séminaire, 2006

20 Pages, Note: 1,3


Extrait


Die Mittelschichten in Deutschland – Hüter der Demokratie?

Martin Förster*

Wenn gesellschaftliche Krisen ihren Ausdruck in ökonomischer und sozialer Polarisierung finden, dann richten sich die Hoffnungen auf eine Stabilisierung oft auf die Mittelschichten. Ziel dieser Arbeit ist es, diese Hoffnungen in eine theoretisch fundierte These zu übersetzen, die These zu analysieren und die Analyseresultate für eine Reflexion der Plausibilität einiger Theoreme, welche das Verhältnis sozioökonomischer Schichten zur Demokratie beschreiben, zu nutzen.

Massenarbeitslosigkeit; Überalterung der Gesellschaft und Bevölkerungsrückgang; vom Ein-kommen und sozialem Status abhängige Bildung und die so gebremste vertikale Mobilität; Institutionen, die den Herausforderungen der Globalisierung nicht gewachsen sind sowie das volkswirtschaftliche Desaster mit den ‚Neuen Bundesländern’, welche nach wie vor nicht auf eigenen Beinen stehen können: diese Phänomene erzeugen die Angst vor einem Auseinander-driften der Gesellschaft. Die sozialen Auseinandersetzungen verschärfen sich. Mit Besorgnis wird registriert, dass gegenwärtig soziale Konflikte in Frankreich in politischer Gewalt ihren Ausdruck finden. Derartige Krisenszenarien sind das Substrat für Hoffnungen auf die Mittel-schichten. Die Vorstellung, dass die Mittelschichten ein Puffer zwischen den konfligierenden gesellschaftlichen Polen sind und so die Eskalation der Auseinandersetzungen verhindern können, ist wohl ein unhinterfragtes Allgemeingut. Man erwartet von den Mittelschichten die Verteidigung der Zivilgesellschaft. Sie gelten als Bannerträger und Hüter der Demokratie. Die Konsequenzen dieser Vorstellung erschöpfen sich meist in einem öffentlichen Beschwören der Mittelschichten. Wenn die Verteidigung demokratischer Werte das natürliche Verhalten der Mittelschichten ist, dann sollten entsprechende Appelle als gesellschaftsstabilisierende Maßnahme genügen. Es wird auf einen Automatismus vertraut, welcher quasi die Mutter-instinkte der Mittelschichten weckt, wenn deren Kind – die Demokratie – in Gefahr ist.

Im Folgenden soll geprüft werden, ob und inwiefern dieses Vertrauen und die entsprechenden Hoffnungen gerechtfertigt sind. Strategie für dieses Vorhaben ist die auf empirischer Analyse beruhende Reflexion der Plausibilität entsprechender Theoreme. Es geht nicht darum, diese Theoreme bzw. daraus abgeleitete Hypothesen zu verifizieren oder zu falsifizieren. Die hier untersuchten theoretischen Konstrukte sind schlecht empirisch zugänglich – die Validität der gewonnenen Erkenntnisse bleibt fraglich. Als ‚Lückenfüller’ ist viel Spekulation notwendig. Der empirische Part hat hier eher exploratorischen, d.h. theorie bildenden Charakter. Leser der vorliegenden Arbeit sollten sich der so begrenzten Aussagekraft der Resultate stets bewusst sein.

Im ersten Kapitel wird ein theoretischer Rahmen erörtert, welcher eine Konzeption von gesellschaftlicher Stabilität zur Verfügung stellt. Innerhalb dieses Rahmens werden die Hoffnungen auf die gesellschaftsstabilisierenden Mittelschichten in eine theoretisch fundierte These übersetzt. Anschließend (Kapitel 2) wird der Versuch unternommen, die gewonnene These historisch zu begründen. Es wird dabei auf Theorien zur Transformation politischer Systeme, besonders die Modernisierungstheorie, rekurriert werden. Aufgabe des dritten Kapitels ist eine empirische Untersuchung am Fall Deutschland. Im darauf folgenden Kapitel (4) werden die Resultate diskutiert und Thesen daraus extrahiert.

1. Theoretischer Rahmen: Legitimität als Quelle der Stabilität

Die Stabilität einer Gesellschaft ist die Stabilität ihrer Herrschaftsverhältnisse, d.h. ihres politischen Systems. Der bedeutendste Faktor für die Stabilität eines politischen Systems ist dessen Legitimität: ein politisches System ist dann stabil, wenn die von seinen Institutionen betroffenen Personen einen entsprechenden „Legitimitätsglauben“ haben (Weber 1956:151). Legitimität wird den Institutionen des politischen Systems durch die Beherrschten verliehen. Dieser Akt der Zuschreibung ist Ausdruck der Vereinbarkeit bzw. Übereinstimmung der Werte der Beherrschten mit den im politischen System implementierten Werten (Lipset 1983:64).

Die Entstehung von Legitimität wird durch die Effektivität des politischen Systems respektive dessen Institutionen begünstigt (Lipset 1983:70). Generell ist ein politisches System dann effektiv, wenn es die Anforderungen des größten Teils der Bevölkerung bzw. der wichtigsten Bevölkerungsgruppen erfüllt (Lipset 1983:64). In der Regel ist Effektivität gleichbedeutend mit ökonomischer Leistung[1] (Lipset 1983:70).

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lassen sich intern induzierte gesellschaftliche Krisen[2] als Effektivitätskrisen beschreiben. So waren z.B. die gesellschaftlichen Krisen am Anfang der 1930er, mit denen fast alle Industrienationen konfrontiert waren und welche besonders in einigen europäischen Staaten in Radikalisierung und Polarisierung der Gesellschaft ihren Ausdruck fanden, Folge der Weltwirtschaftskrise ab 1929. Die betroffenen Gesellschaften verloren durch ihre geschwächte ökonomische Leistung rasch an Effektivität: große Teile der Bevölkerung waren von Arbeitslosigkeit oder sehr niedrigen Einkommen betroffen und sahen ihre Anforderungen nicht mehr hinreichend erfüllt. Der Kollaps des Ostblocks in den frühen 1990ern ist ebenfalls ein prominentes Beispiel. Das ineffektive sozialistisch-plan-wirtschaftliche System konnte zum Schluss weder die Anforderungen breiter Bevölkerungs-schichten hinreichend erfüllen, noch konnte es genügend Ressourcen für die repressive Politik des Staatsapparates zur Verfügung stellen.

Aber nicht immer führt eine Effektivitätskrise auch zum Kollaps des politischen Systems. Illegitime politische Systeme kollabieren, während legitime mit hoher Wahrscheinlichkeit die Krise überdauern. Legitimität ist quasi die Fettreserve, Effektivität die Kohlenhydrate des politischen Systems. Legitimität wird in effektiven Zeiten angelegt – und sie kann die un-mittelbar destabilisierende Wirkung einer Effektivitätskrise kompensieren[3]. Insofern ist also für die Stabilität eines politischen Systems dessen Legitimität wichtiger als dessen Effektivität: „From a short-range point of view, a highly effective but illegitimate system [...] is more unstable than regimes which are relatively low in effectiveness and high in legitimacy” (Lipset 1983:70). Generell benötigt ein politisches System den Support der Be-herrschten als Input. Den Support, der unmittelbar durch den Output, d.h. der Effektivität des Systems erzeugt wird, nennt David Easton (1979) „specific support“; der durch Legitimität erzeugte Support ist „diffuse support“.

Die meisten Gesellschaften sind unter sozioökonomischem Aspekt stratifiziert. Die jeweiligen sozioökonomischen Schichten haben spezifische Anforderungen an das System[4]. Je effektiver der Output eines Systems ist, desto mehr dieser Anforderungen können erfüllt werden und desto mehr spezifischer Support wird emittiert. Aber kein System ist so effektiv, dass es die Anforderungen aller Schichten immer komplett erfüllen kann. Dieser dem System inhärente Mangel an Effektivität ist die Ursache dafür, dass es Konflikte zwischen den Schichten be-züglich der Allokation von Output gibt. „Cleavage among collectivities and accompanying output failure could not be entirely avoided. In all systems, sharp conflict in competition for scarce social and economic values represents a normal aspect of political interaction” (Easton 1979:247). Die Schicht, welche bestimmte Anforderungen an das System gegen eine andere Schicht nicht durchsetzen kann, entzieht dem System den an diesen entgangenen Output ge-bundenen spezifischen Support. Effektivitätskrisen verstärken die auf den verknappten Output gerichteten Konflikte zwischen den Schichten und mindern also den spezifischen Support für das System. Für Systeme, deren Existenz allein oder zum größten Teil auf spezifischem Support basiert, bedeutet eine Effektivitätskrise bei hinreichendem Schwund des spezifischen Supports den Kollaps. Aber Systeme, die zusätzlich genügend diffusen Support als Input er-halten, überdauern die Krise.

Eine Krise bedeutet eine, durch den verschärften Konflikt der Schichten um Systemoutput verursachte, Polarisierung der Gesellschaft. Und je mehr dieser Konflikt den Support für das politische System mindert, desto weniger kann es die sozialen Spannungen absorbieren[5]. Ein solcher innergesellschaftlicher, destabilisierender Konflikt hat, vice versa, einen negativen Einfluss auf die Effektivität des Systems. Der ohnehin knappe Systemoutput wird durch den aktiven Konflikt zusätzlich dezimiert. Politische Aktivität, in welcher sich der Konflikt manifestiert, verbraucht selbst auch Ressourcen, welche dann nicht mehr für die Erfüllung der Anforderungen der am Konflikt Beteiligten zur Verfügung stehen[6]. Keine sozioökonomische Schicht hat aber – rationale Akteure vorausgesetzt – ein Interesse an einer instabilen und ineffektiven Gesellschaft. Alle wollen ihre Interessen durchsetzten; das geht aber besser in einer stabilen und effektiven Gesellschaft. Die destabilisierende Wirkung der Konflikte zwischen den Schichten ist nicht intendiertes Ziel. Rationale Akteure, welcher Schicht sie auch angehören mögen, erhoffen sich in Krisenzeiten eine Stabilisierung der Gesellschaft[7].

[...]


* E-mail Adresse: martin.foerster-pu@web.de

[1] Die ökonomische Performance einer Gesellschaft ist als Output des politischen Systems zu begreifen, weil dieses eben die entsprechenden Rahmenbedingungen setzt und kontrolliert.

[2] Extern induzierte Krisen, z.B. durch Krieg verursacht, sind hier nicht Gegenstand der Betrachtung.

[3] Die Kompensation eines Effektivitätsdefizits durch Legitimität funktioniert allerdings nur eine gewisse Zeit lang. Legitimität wird durch Emittierung verbraucht.

[4] Schichtspezifische Anforderungen an das System können zugespitzt als ‚Klasseninteressen’ übersetzt werden.

[5] Ohne genügend Zustimmung der Beherrschten kann das System eben auch die Konflikte zwischen den Beherrschten nicht schlichten. Es benötigt für diese Aufgabe von den Beherrschten entweder ausreichend instrumentelle Zustimmung (spezifischen Support) oder Vertrauen (diffusen Support). Die gänzliche Abwesenheit von beidem bedeutet ein Hobbes’sches Moment zwischen den Schichten: die Konflikte werden gewaltsam ausgetragen.

[6] Der Konflikt um Systemoutput bzw. die darauf gerichtete politische Aktivität ist selbst keine Anforderung der am Konflikt Beteiligten, sondern ein Mittel zur Allokation von Systemoutput. Beispiel: Ein Streik wird nicht zum Selbstzweck veranstaltet und verursacht Kosten – den Streikenden (entgangener Lohn) sowie den Bestreikten (Produktionsausfall).

[7] Selbst wenn eine Transformation des politischen Systems angestrebt wird, haben entsprechende Akteure die Hoffnung, dass die ‚neue’ Gesellschaft stabil ist.

Fin de l'extrait de 20 pages

Résumé des informations

Titre
Die Mittelschichten in Deutschland - Hüter der Demokratie?
Université
Dresden Technical University
Cours
Die soziale Mitte. Soziologische Konzepte und Hoffnungen auf eine "Mittelschichtgesellschaft"
Note
1,3
Auteur
Année
2006
Pages
20
N° de catalogue
V55511
ISBN (ebook)
9783638504386
ISBN (Livre)
9783638765749
Taille d'un fichier
565 KB
Langue
allemand
Annotations
Wenn gesellschaftliche Krisen ihren Ausdruck in ökonomischer und sozialer Polarisierung finden, dann richten sich die Hoffnungen auf eine Stabilisierung oft auf die Mittelschichten. Ziel dieser Arbeit ist es, diese Hoffnungen in eine theoretisch fundierte These zu übersetzen, die These zu analysieren und die Analyseresultate für eine Reflexion der Plausibilität einiger Theoreme, welche das Verhältnis sozioökonomischer Schichten zur Demokratie beschreiben, zu nutzen.
Mots clés
Mittelschichten, Deutschland, Hüter, Demokratie, Mitte, Soziologische, Konzepte, Hoffnungen, Mittelschichtgesellschaft
Citation du texte
Martin Förster (Auteur), 2006, Die Mittelschichten in Deutschland - Hüter der Demokratie?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55511

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