Die Gesamtschule und das Prinzip der Chancengleichheit


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2001

18 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2.1 Grundlagen der Gesamtschulidee
2.1.1 Die historische Entwicklung der Gesamtschulidee
2.1.2 Die Bedeutung des Chancengleichheitsbegriffes für die Gesamtschule
2.2 Die Auseinandersetzung um die Gesamtschule
2.2.1 Der Standpunkt der Befürworter des dreigliedrigen Schulsystems
2.2.2 Der Standpunkt der Befürworter der Gesamtschule

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Seit der Errichtung der ersten Gesamtschulen vor etwa 30 Jahren ist diese Schulform immer wieder zum Objekt erbitterter Auseinandersetzungen unter Pädagogen und Politikern geworden. Während bei manchen eine „konservativ-ideologisierte Verteufelung“ anzutreffen ist, kommt es bei den anderen teilweise zu einer „gesellschaftsreformerisch-ideologisierten Vergötterung“[1]. Hierbei wird die Gesamtschule einerseits als das Instrument eines sozialistisch anmutenden Versuchs der Gleichmacherei angeprangert und andererseits als unverzichtbares Mittel zur Verringerung sozialer Ungleichheiten hervorgehoben. Eine herausragende Rolle spielt bei dieser bildungspolitischen Diskussion der Begriff der Chancengleichheit, der sowohl von den Gegnern als auch von den Befürwortern der Gesamtschule häufig verwendet wird.

Meine erkenntnisleitenden Fragestellungen lauten nun: Welche Rolle spielt der Begriff der Chancengleichheit für die Gesamtschule? Inwiefern unterscheidet sich die Gesamtschule hinsichtlich des Chancengleichheitsbegriffes vom dreigliedrigen Schulsystem?

In der vorliegenden Arbeit werde ich mich mit diesen Fragen beschäftigen, indem ich zunächst die historische Entwicklung der Gesamtschulidee sowie die wesentliche Bedeutung des Begriffes der Chancengleichheit für diese Idee untersuche. Da sehr unterschiedliche Positionen existieren, was die Realisierung von Chancengleichheit an der Gesamtschule angeht, werde ich im Anschluss daran sowohl den Standpunkt der Befürworter der Gesamtschule als auch die Position der Befürworter des traditionellen Schulsystems thematisieren, um danach in einem Fazit die Ergebnisse meiner Arbeit zu formulieren.

2.1 Grundlagen der Gesamtschulidee

2.1.1 Die historische Entwicklung der Gesamtschulidee

Die ersten Forderungen nach einer Einheitsschule, in welcher verschiedene Schulformen miteinander verbunden sein sollten, wurden in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts erhoben. Die Befürworter dieses Schulkonzeptes stützten sich dabei auf die Sozialphilosophie der Französischen Revolution, in welcher das allgemeine Gleichheitsprinzip von entscheidender Bedeutung war. Die Schule sollte nicht mehr die sozialen Ungleichheiten, die in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs herrschten, verstärken, sondern vielmehr eine Chancengleichheit für Kinder aller gesellschaftlichen Schichten herstellen. Die Kritik am herrschenden Schulsystem richtete sich vor allem gegen die Tatsache, dass es keine geregelten Übergänge zwischen den einzelnen Schulformen gab, und dass die Schulaufsicht häufig der Kirche oblag.[2]

Diese Forderungen, die zunächst vor allem von der sozialistischen Arbeiterbewegung und der liberalen Volksschullehrerbewegung gestellt wurden, konnten erst 1920 teilweise umgesetzt werden, als die Vorschule abgeschafft und durch die Grundschule ersetzt wurde.[3] Die Vorschulen hatten bisher die herrschenden Klassengegensätze regelrecht manifestiert, da sie dafür sorgten, dass den Kindern wohlhabender Eltern der Übergang auf das Gymnasium erleichtert wurde, wohingegen Kinder, die ärmeren Bevölkerungsschichten entstammten, in der Regel eine achtjährige Volksschule besuchen mussten, bei welcher es keinen geregelten Übergang auf weiterführende Schulen gab. Mit der Grundschule wurde für alle Schüler die Möglichkeit zu derartigen Übergängen hergestellt. Doch obwohl die bisher existierenden „Sackgassen“ im Bildungsweg nun also abgeschafft worden waren, blieben große soziale Ungleichheiten in der Praxis weiterhin bestehen.[4]

Nach 1945 kam es zu weiteren Diskussionen, bei denen die Ungerechtigkeiten im herrschenden Schulsystem thematisiert wurden. So wurde beispielsweise kritisiert, dass die Übergangsauslese nach dem vierten Schuljahr in der Grundschule nicht akzeptabel sei, da es nach dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand in diesem Alter viel zu früh sei, um die Begabungen und die Bildungsfähigkeit eines Kindes gesichert festzustellen.[5] Ein Resultat dieser Auseinandersetzung war in den sechziger Jahren die Einrichtung von Förder- und Orientierungsstufen, die eine vorläufige Entscheidung über den weiteren Bildungsweg eines Schülers auf das Ende des sechsten Schuljahres verschoben.

So kam es in den sechziger Jahren erstmals zu konkreten Plänen, ein Gesamtschulsystem, wie es bereits in Ländern wie Schweden, England und den USA praktiziert wurde, einzuführen.[6] Diese Überlegungen stießen durchaus in vielen gesellschaftlichen Bereichen auf breite Zustimmung, was sicherlich auch auf den großen Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften, der zu jener Zeit herrschte, zurückzuführen ist. Die Angst vor der so genannten „Bildungskatastrophe“ sorgte dafür, dass die Rufe nach einer umfassenden Bildungsexpansion in der Öffentlichkeit in zunehmendem Maße Gehör fanden, wobei die Gesamtschule, die einen besseren Zugang zum Abitur versprach, als die am besten geeignete Lösung für das Problem erschien.[7] Da es auch weitere Argumente gab, die für die Gesamtschule sprachen, wie etwa das Bekämpfen der sozialen Benachteiligung von Arbeiterkindern, Mädchen und katholischen Kindern; die Forderung nach einer „Individualisierung der Leistungsanforderungen“ sowie die Möglichkeit der Schaffung eines Zusammengehörigkeitsbewusstseins durch das gemeinsame Erlernen eines kulturellen Grundbestands, wurde die Vorstellung von einer „Schule für alle“ allgemein salonfähig.[8] So kam es 1969 zu einer Empfehlung des Deutschen Bildungsrats, in welcher die Einrichtung von Gesamtschulen angeregt wurde.

In den siebziger Jahren wurden daraufhin mehrere Schulversuche durchgeführt, in denen Gesamtschulkonzepte in die Tat umgesetzt wurden. Dabei kam es allerdings zu großen Unterschieden zwischen den einzelnen Bundesländern, sowohl im Hinblick auf die Menge der neu gegründeten Gesamtschulen also auch hinsichtlich der gewählten Variante dieses neuen Schultyps.[9] Grundsätzlich kann man sagen, dass es vor allem die SPD-regierten Länder waren, die versuchten, die Gesamtschulidee zu erproben, wohingegen die CDU-Länder der neuen Schulform eher reserviert gegenüberstanden.

In dieser Versuchsphase wurde mit der Gesamtschule nicht nur eine rein strukturelle Reform durchgeführt – zusätzlich kam es auch zur Entwicklung von Reformvorstellungen, die weit über diesen Rahmen hinausgingen. So wurden beispielsweise Konzepte für eine effektivere und präzisere Unterrichsgestaltung, für eine Änderung der Lehrpläne in Richtung einer stärkeren Praxisorientierung oder auch für eine zunehmende Demokratisierung der Entscheidungsebenen innerhalb der Schule entwickelt. Darüber hinaus gab es gesellschaftliche Bewegungen, wie etwa den Antikapitalismus oder die antiautoritäre Pädagogik, die versuchten, ihre Vorstellungen in der Gesamtschule zu realisieren.[10]

Im Zusammenhang mit der Gesamtschule gab es also eine sehr hohe Reformbereitschaft, die teilweise den Eindruck einer „Totalreform“ vermitteln konnte, was in vielen gesellschaftlichen Kreisen zu einer starken Skepsis gegenüber dieser Schulform führte.[11] Es wurde deutlich, dass es sehr verschiedene Gruppen gab, die versuchten, die Gesamtschule für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Zu einer allgemeinen Konsolidierung kam es zu Beginn der achtziger Jahre. Viele Reformbestrebungen, die sich in der Schulpraxis als nicht praktikabel herausgestellt hatten, wurden verworfen, und es kam zu einer gewissen Annäherung an das traditionelle Schulsystem. Nachdem die Kultusministerkonferenz 1982 eine allgemeine Verständigung über die grundsätzlichen Anforderungen an die Gesamtschule erreicht hatte, erhielt die neue Schulform in der bundesdeutschen Bildungslandschaft endgültig einen festen Platz und wurde nun von einem Versuchsgegenstand zu einer etablierten Institution.[12]

Heute führt die Gesamtschule in der deutschen Bildungslandschaft eher ein Schattendasein, wenn man das gesamte Bundesgebiet betrachtet: Nur 8 Prozent aller Schüler lernen an integrierten Gesamtschulen. Allerdings ist ihr Anteil in einigen einzelnen Bundesländern wesentlich höher (Hamburg 21%, Berlin 36%, Brandenburg 57%). Das in den siebziger Jahren häufig propagierte Ziel einer völligen Verdrängung des gegliederten Schulsystems durch die Gesamtschule ist also nicht erreicht worden, und somit befindet sich die Gesamtschule nun „in einem nicht geplanten Wettbewerb“[13]. Diese Konkurrenzsituation wird durch zahlreiche Vergleichsstudien angeheizt. Die meisten dieser Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Gesamtschüler in der Regel deutlich leistungsschwächer sind als Schüler aus dem traditionellen System. Gleichzeitig wurde jedoch auch festgestellt, dass an Gesamtschulen die Zahl der Sitzenbleiber in der Regel geringer ist, dass Kinder aus niedrigen sozialen Schichten an der Gesamtschule eine etwas größere Chance auf einen höheren Abschluss haben und dass die Gesamtschule in besonders hohem Maße dazu in der Lage ist, Schlüsselqualifikationen wie Selbständigkeit, Toleranz, Kreativität oder Konfliktfähigkeit zu vermitteln.[14] Die größten Unterschiede bestehen hierbei nicht unbedingt zwischen den Schulformen, sondern zwischen Einzelschulen einer Schulart.[15] Das „Problem der Verträglichkeit zwischen optimaler Qualifizierung und Chancenausgleich“[16] scheint also keine rein gesamtschulspezifische Angelegenheit zu sein.

[...]


[1] Albert Reble: Gesamtschule im Widerstreit. Stuttgart 1981, S. 43

[2] Vgl. Helmut Fend: Gesamtschule im Vergleich. Bilanz der Ergebnisse des Gesamtschulversuchs. Weinheim und Basel 1982, S. 24ff.

[3] Vgl. Albert Reble: a. a. O., S. 18f.

[4] Vgl. Helmut Fend 1982: a. a. O., S. 28f.

[5] Vgl. Wilhelm Nöth: Pro und Kontra Gesamtschule. Eine Zwischenbilanz. Stuttgart 1979, S. 47

[6] Vgl. Jürgen Baumert u. a.: Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Überblick für Eltern, Lehrer und Schüler. Reinbek 1990, S. 306

[7] Vgl. Helmut Fend 1982: a. a. O., S. 32

[8] Ebd., S. 32ff.

[9] Vgl. Jürgen Baumert u. a.: a. a. O., S. 307f.

[10] Vgl. Helmut Fend 1982: a. a. O., S. 37-42

[11] Ebd. S. 44

[12] Vgl. Jürgen Baumert u. a.: a. a. O., S. 307ff.

[13] Ebd., S. 524

[14] Vgl. Irene Strathenwerth: Schule ohne Chance. In: Die Woche (5. 6. 1998), S. 28

[15] Vgl. Jürgen Baumert: a. a. O., S. 325

[16] Ebd., S. 326

Fin de l'extrait de 18 pages

Résumé des informations

Titre
Die Gesamtschule und das Prinzip der Chancengleichheit
Université
Free University of Berlin  (Erziehungswissenschaft und Psychologie)
Cours
Proseminar "Schule und Gesellschaft"
Note
1,7
Auteur
Année
2001
Pages
18
N° de catalogue
V55993
ISBN (ebook)
9783638508032
ISBN (Livre)
9783638848732
Taille d'un fichier
485 KB
Langue
allemand
Mots clés
Gesamtschule, Prinzip, Chancengleichheit, Proseminar, Schule, Gesellschaft
Citation du texte
Torsten Halling (Auteur), 2001, Die Gesamtschule und das Prinzip der Chancengleichheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/55993

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