Bulimie im Jugendalter - Ursachen, Folgen und Präventionsmaßnahmen


Examination Thesis, 2006

132 Pages, Grade: 1,5


Excerpt


Inhaltsverzeichnis:

1 Einleitung

2 Terminologische Abgrenzung
2.1 Definition der Essstörung und Sucht
2.2 Hauptformen der Essstörungen

3 Das Störungsbild
3.1 Symptomatik
3.1.1 Bulimisches Essverhalten
3.1.1.1 Essanfälle
3.1.1.2 Erbrechen und Medikamentenmissbrauch
3.1.2 Psychodynamik des Essverhalten
3.1.2.1 Zwischen Diät und Fressen
3.1.2.2 Bulimie als Konfliktlösungsstrategie
3.1.3 Heimlichkeit und Doppelleben
3.1.4 Komorbidität
3.2 Diagnosekriterien
3.3 Epidemiologie

4 Ätiologie
4.1 Prädisponierende Faktoren
4.1.1 Familiäre Entstehungsmechanismen
4.1.1.1 Familiendynamik
4.1.1.2 Mutterrolle
4.1.1.3 Vater - Oberhaupt der Familie
4.1.1.4 Weitere Familienmitglieder
4.1.2 Soziokulturelle Ursachen
4.1.2.1 Gesellschaftliche Frauenrolle
4.1.2.2 Unerreichbares Schlankheitsideal
4.1.3 Individuelle Faktoren
4.1.3.1 Wer bin ich? – Probleme der Identitätsfindung
4.1.3.2 Persönlichkeitsmerkmale
4.1.3.3 Individuelle Lernerfahrungen im Zusammenhang mit Nahrung
4.1.4 Biologische Theorien
4.2 Auslösende Bedingungen
4.2.1 Pubertät als einschneidende Zeit
4.2.2 Diät – gezügeltes Essverhalten
4.2.3 Traumatische Erlebnisse
4.3 Vorläufiges Resümee

5 Folgen
5.1 Somatische Folgen
5.2 Psychische Folgen

6 Behandlung
6.1 Psychotherapeutische Ansätze
6.2 Therapieziele
6.3 Weitere Behandlungsmöglichkeiten und Methoden
6.4 Beispiele

7 Fallbeispiel

8 Konsequenzen für die Schulpraxis
8.1 Erzieherischer Auftrag der Schule
8.2 Präventive Projekte
8.2.1 Inhalte und theoretische Modelle
8.2.2 Schweizer Präventions- und Interaktionsstudie

9 Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Sie ist die weiblichste aller Essstörungen. Sie ist die Essstörung, an welcher der größte Anteil der essgestörten Frauen der westlichen Kultur leidet, und sie ist die Essstörung, die am meisten verheimlicht wird – die Bulimie. Sie wurde erst in den Achtziger Jahren dieses Jahrhunderts beschrieben, aber ist spätestens seit Prominente, wie zum Beispiel Prinzessin Diana oder Jane Fonda (vgl. Methfessel, 2000 S. 51) damit an die Öffentlichkeit gingen allgemein bekannt. Es gibt nur wenig eindeutige Statistiken zur Verbreitung der Krankheit. Viele Studien sind nicht repräsentativ (vgl. Stahr et al. 1998, S. 33) und die Dunkelziffer scheint sehr hoch zu sein. Langzeitstudien gibt es nicht bzw. sind ebenfalls nicht repräsentativ (vgl. Remschmidt et al., S. 202). Andere Essstörungen, wie die Anorexie und Adipositas werden durch die körperlichen Folgen von der Außenwelt erkannt, aber bei bulimischen Patientinnen handelt es sich oft um normalgewichtige, erfolgreiche Jugendliche und Frauen. Sie führen häufig ein Doppelleben und selbst ihre engsten Verwandten, Partner und Freunde wissen nichts von dem bulimischen Verhalten. Doch da sie meist extrem unter ihrer Ess-Brech-Sucht und den Folgen leiden, ist es wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten. Eine Behandlung verspricht am meisten Erfolg, wenn sie frühzeitig beginnt (vgl. Buddeberg-Fischer, 2000, S. 4). Deshalb sollten Eltern, Lehrer und Freunde feinfühlig auf Anzeichen von Essstörungen und speziell Bulimie reagieren, da sie oft jahrelang unentdeckt bleibt. Die Krankheit scheint ein verlockendes Mittel zu sein, um schlank zu bleiben, obwohl ohne Hemmungen gegessen werden kann. Es sind immer mehr Jugendliche und junge Frauen davon betroffen. Die körperlichen Folgen, die Auswirkungen auf das soziale Umfeld und die Psyche der Betroffenen sind jedoch enorm, der Leidensdruck ist sehr groß (vgl. Gerlinghoff et al., 2004, S. 14-15).

Diese wissenschaftliche Hausarbeit soll einen theoretischen Überblick über das Erscheinungsbild der Bulimie geben und sie in Bezug zu anderen Essstörungen und psychischen Problemen setzen. Die Definition der Krankheit, ihren Verlauf, Eigenheiten und Epidemiologie werden im ersten Teil betrachtet. Ein weiterer Schwerpunkt ist die intensive Auseinandersetzung mit den Ursachen der Bulimie, denn nur wenn man diese versteht, kann man die Brücke zu einer erfolgreichen Therapie schlagen und gute praxisorientierte Präventionsmaßnahmen entwickeln. Eine Fallstudie, die mit Hilfe eines Interviews einer jungen Frau erhoben wurde, die schon seit neun Jahren an Bulimie leidet, soll plastische Eindrücke von einem Leben mit der Krankheit vermitteln. Da die Ursachen für die Entwicklung der Bulimie multifaktoriell sind werden einzelne Gründe individuell betrachtet:

Die familiären Hintergründe

Die soziokulturellen Einflussfaktoren

Die individuelle Komponente

Die Belastung des weiblichen Geschlechts durch die Rollenverteilung

Aus diesen Überlegungen heraus werfen sich folgende Fragen auf, die im Verlauf der Arbeit beantwortet werden:

Gibt es die so genannten Bulimiefamilien und teilen diese Familien wichtige Verhaltensweisen und Charakterzüge, welche das Entwickeln der Bulimie bei der Tochter bedingen?

Diese Hauarbeit soll sich zweitens mit der Frage beschäftigen, inwiefern sich behaupten lässt, dass das inzwischen gesellschaftsfähige Diätverhalten, verbreitet durch die Massenmedien, Einfluss auf den epidemischen Anstieg der Fälle von Bulimie nimmt.

Existieren Besonderheiten, welche die Bulimie von anderen Essstörungen unterscheidet?

Die psychischen und physischen Folgen der Ess-Brech-Sucht, sowie die Auswirkungen auf das soziale Umfeld werden im weiteren Verlauf dieser Hausarbeit geschildert. Danach soll die Behandlung der Bulimie in ihrer Vielfalt näher betrachtet werden.

Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit den Präventionsmaßnahmen, welche sich ausnahmslos auf die Maßnahmen, die im schulischen Umfeld zu leisten sind, beschränken. Welche Aufgaben die Schulen und Lehrer in diesem Kontext einnehmen und welche präventive Arbeit sie zu leisten haben, wird im ersten Teil dieses Kapitels erörtert. Die Inhalte erfolgreicher präventiver Schulprojekte ist ein Schwerpunkt des zweiten Teils und wird anhand eines Beispiels veranschaulicht. Die Prävention bezieht sich nicht ausschließlich auf die Bulimie, sondern auf Essstörungen allgemein, da es ebenso wichtig ist, allen Formen gestörten Essverhaltens präventiv zu begegnen. Die Störungen haben teilweise gemeinsame Ursachen, deshalb bietet sich dieser Ansatz an.

Es gibt viele Versuche, die verschiedenen Essstörungen zu definieren. Da die Autoren sich nicht einig über eine eindeutige Definition sind, weil die verschiedenen Essstörungen beispielsweise ineinander übergehen können (www.bulimie-online.de, 2006), wird diese Hausarbeit die Fragestellungen auf der Grundlage der internationalen Richtlinien, wie zum Beispiel dem ICD-101 oder dem DSM-IV2 klären.

Da die Betroffenen meist weiblich sind, wird ausschließlich die grammatikalisch weibliche Form verwendet. Die medizinisch korrekte Begrifflichkeit Bulimia nervosa wird abgekürzt durch den allgemein verwendeten Begriff Bulimie.

2 Terminologische Abgrenzung

2.1 Definition der Essstörung und Sucht

Zu den häufigsten Essstörungen zählen die Bulimie, die Magersucht, die Esssucht und die latente Esssucht. Es treten auch Mischformen aus den oben genannten Störungen auf. Eine Essstörung kann in die andere übergehen. Besonders oft geschieht es, dass sich aus einer Magersucht heraus eine Bulimie entwickelt oder beide Krankheiten sich über längere Zeiträume abwechseln (vgl. ab-server.de, 2005). Dieses Kapitel erläutert, warum Essstörungen zu den psychosomatischen Krankheiten zu zählen sind, erklärt den Begriff Sucht und geht näher auf die Besonderheiten der einzelnen Essstörungen ein.

Essstörungen sind, wie gesagt, psychosomatische Erkrankungen. Das sind seelische Erkrankungen, welche verantwortlich für die Entstehung und den Verlauf von körperlichen Krankheiten sind (vgl. Drosdowski et al., 1982, S. 636). Diese treten häufig bei Kindern und Jugendlichen auf, da sie noch in der Entwicklung stecken und unter einem Zwang zur Anpassung von außen stehen, schließlich sind sie noch von den Eltern abhängig. Eine psychosomatische Störung stellt einen Konfliktbewältigungsversuch dar, der sich physisch äußert. Dieser Versuch dient dazu, Konflikte abzuwehren und auf andere Bereiche zu übertragen, nämlich den Körper. Die Betroffenen haben nicht die Fähigkeiten ein auftretendes Problem zu lösen oder anderweitig damit umzugehen. Diese physische Form der Problembewältigung bleibt natürlich nur bei einem Versuch. Der eigentliche Auslöser, das auslösende Problem bleibt unberührt. Es wird nicht beseitigt und hinzu kommen die körperlichen und seelischen Folgeschäden (vgl. Heinemann/Hopf, 2001, S. 175). Für eine gewisse Zeit kann diese Art der Problembewältigung sogar nützlich sein. Im Falle von Bulimie helfen die Ess-Brech-Anfälle Spannungen abzubauen, aber irgendwann überwiegen die negativen Konsequenzen die positiven Aspekte der Essstörung.

Pathologisches Essverhalten unterscheidet sich nur deshalb, weil der Großteil der Bevölkerung normal isst. Normal bedeutet so zu sein und zu handeln, wie der breite Durchschnitt (vgl. Wolfrum/Pappenfuss, 1993, S. 85). Der breite Durchschnitt isst unregelmäßig, nimmt ab und zu große Mengen Nahrung zu sich und greift auf Diäten zurück. Was davon normal und was gestört ist, bleibt fraglich.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend definiert Esssüchtige als Menschen, welche eine zu große oder eine zu niedrige Eigenkontrolle von Hunger und Appetit haben. Die Gedanken der Esssüchtigen drehen sich gehäuft um das Essen und das Nicht-Essen. Sie haben keine Kontrolle darüber. Ein Faktor, den alle Esssüchtigen teilen, ist die Angst vor einer Gewichtszunahme. Ihr Allgemeinbefinden ist stets abhängig von der Kontrolle des Essverhaltens. Der Lebensinhalt ist Essen und der Gedanke darum. Nicht-Essen ist gut, gibt ein Gefühl von Macht und Stolz (vgl. Stein Hilbers/Becker, 1998, S. 21).

Sucht

Die WHO definiert Sucht als „zwanghaften Drang, das Suchtmittel zu nehmen, verbunden mit der Tendenz der Dosissteigerung und dem Auftreten von Abstinenzsymptomen. Suchtmittel werden vor allem im Hinblick auf den Abbau von Spannungen, zur Beruhigung oder aber wegen ihres aufputschenden Effekts konsumiert“ (Sonntag/Gerdes, 1992, S. 27 in Stein-Hilbers et al., 1998, S. 21). Bei den Essstörungen handelt es sich somit nicht im klassischen Sinne um eine Sucht. Sie haben lediglich Suchtcharakter, da einige Kriterien fehlen. So ist es gerade bei der Ess-Brech-Sucht fraglich, ob man wirklich von einer Sucht sprechen kann. Einige Autoren, wie Jacobi und Bachmann distanzieren sich von dieser Sichtweise. Dem Bulimie Syndrom können aber typische Elemente einer Sucht zugeordnet werden. Das Suchtmittel bewirkt eine Steigerung des Wohlbefindens beim Süchtigen. Bei einem Fressanfall wird ebenfalls das Wohlbefinden gesteigert. Das Suchtmittel ist in diesem Fall das Essen. Eine klassische Sucht geht einher mit einer Dosissteigerung; auch bei der Bulimie kommt es schließlich zu einer Zunahme der Anfälle und der Menge des Gegessenen. Allerdings treten keine Entzugssymptome auf, was die Ess-Brech-Sucht von anderen Süchten unterscheidet (vgl. Habermas et al., 1987 in Stahr et al., 1998, S. 31). Ein süchtiges Verhalten zielt darauf hinaus, eine Befriedigung zu erreichen. Das ist auch bei der Bulimie so, allerdings stellt sich diese Befriedigung nur sehr kurz ein. Der kleine befriedigende Moment beim Essen entspricht nicht dem Wohlbefinden, welches Süchtige mit einem klassischen Suchtmittel hervorrufen können. Das Erbrechen danach ist meistens sogar wieder von negativen Gefühlen begleitet (vgl. Langsdorff, 1992, S. 56f in ebd., S. 30). Nach der heutigen Definition von Sucht kann man bei den Esssüchten demnach nicht von einer Sucht sprechen. Allerdings zeigt bulimi-sches Verhalten deutliche Ähnlichkeiten mit einer Sucht und wird von den Betroffenen als suchtähnlich empfunden (vgl. ebd., S. 31).

Ein weiterer bedenkenswerter Unterschied der Esssüchte zur klassischen Suchtdefinition ist, dass das Suchtmittel essentiell ist. Die Betroffenen können nicht einfach vom Essen lassen, wie es bei anderen Suchtmitteln möglich ist. Die körperliche Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme lässt keinen Entzug zu; eine totale Abstinenz ist nicht möglich. Dies wird als einer der Gründe gesehen, warum es bei Essstörungen zu hohen Rückfallquoten kommt (vgl. Stein-Hilbers/ Becker, 1998, S. 22). Die tägliche Konfrontation mit dem lebensnotwendigen Suchtmittel macht es schwer, die Bulimie zu überwinden.

2.2 Hauptformen der Essstörungen

Magersucht

Die Anorexia nervosa, wie sie im medizinischen Bereich genannt wird, ist seit 1874 als Krankheitsbild bekannt (vgl. Gerlinghoff et al., 2004, S. 145). Die Magersüchtige weigert sich, ein normales1 Körpergewicht zu halten. Es liegt konstant unter 85% des Normalgewichts. Menschen mit Magersucht haben wie alle Essgestörten große Angst vor einer Gewichtszunahme. Ein typisches Element der Magersucht ist außerdem eine Körperschemastörung. Die Betroffenen nehmen ihren Körper als dicker wahr, als er in Realität ist. Die Figur hat einen gesteigerten Einfluss auf das Wohlbefinden und die Selbstbewertung. In der Regel wird die Krankheit geleugnet und nicht wahrgenommen. Die Magersüchtige hat zwar den Wunsch, nichts oder möglichst wenig zu essen, aber dennoch beschäftigt sie sich ständig mit dem Essen. Sie liest Kochbücher, neue Diätrezepte und kocht für ihre Familie und Freunde (vgl. Alibadi/Lehnig, 1990, S. 144). Es kommt bei Untergewicht häufig zu einem Ausbleiben der Periode. Nach heutigem Stand werden zwei Typen von Magersucht unterschieden. Der erste wird als restriktiver Typus bezeichnet. Dieser Typ hat keine Essanfälle, führt weder Erbrechen herbei, noch benutzt er Abführ- und Entwässerungsmittel oder Appetitzügler. Der Binge-Eating1 und Purging2 Typus hat regelmäßige Ess-anfälle und erbricht das Essen absichtlich oder missbraucht andere Mittel, um sich der Kalorien zu entledigen (vgl. DSM IV, 1996, in Gerlinghoff et al., 2004, S. 152-153).

Die Magersucht tritt überwiegend in der frühen bis mittleren Pubertät auf. Man spricht deshalb von Pubertätsmagersucht. Sie kommt meistens als Mischform vor. Eine reine Magersucht ist rar, denn sie tritt oft in Verbindung mit einem bulimischen Verhalten auf. Ein zentraler Aspekt der Krankheit ist das gestörte Körpergefühl. Die magersüchtigen Mädchen fühlen sich zu dick und versuchen ihre Hungergefühle nicht wahrzunehmen. Durch das Hungern gewinnen sie Kontrolle über den eigenen Körper, was ihnen ein Gefühl von Macht und Selbstwert gibt. Kontrolle und Perfektion spielt eine wichtige Rolle im Leben einer Magersüchtigen. Sie ist generell sehr ehrgeizig und strebt nach Leistung (vgl. Stein-Hilbers/Becker, 1998, S. 27-28).

Die Magersüchtigen leiden meist schon Jahre unter Selbstunsicherheit, bevor es zum Ausbruch der Krankheit kommt. Sie passen sich ihrer Umwelt an, aber wenn sie in die Pubertät kommen, wachsen auch die Aufgaben. Sie denken, sie würden damit nicht zurecht kommen und werden noch unsicherer. Der Teufelskreis führt schließlich dazu, dass sie sich komplett aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen können (vgl. www.ab-server.de, 2005). Weitere Folgen der extremen Gewichtsreduktion führen zu deutlichen körperlichen Beeinträchtigungen. Kommt noch eine bulimische Symptomatik hinzu, treten auch psychische Probleme auf. Die physischen Folgeerscheinungen sind ein verlangsamter Herzschlag, ein niedriger Blutdruck, Hauttrockenheit und Untertemperatur. Die Schilddrüse und der Magen-Darm-Trakt können in Mitleidenschaft gezogen werden. Tödlich endet die Magersucht sehr häufig, in 5 – 10% aller Fälle (vgl. Stein-Hilbers/Becker, 1998, S. 28). Geschätzt wird, dass ca. 1% aller Mädchen an Magersucht leiden. Weitere 4% gelten als gefährdet (vgl. Mader, 1992 in Stein-Hilbers et al., 1998, S. 28 und Whitaker et al, 1990 in Buddeberg-Fischer, 2000, S. 9 und Raabe, 2004, S. 6).

Esssucht

Diese Essstörung wird auch bezeichnet als Fettsucht oder psychogene Adipositas. Die Betroffenen haben starkes Übergewicht. Der BMI liegt bei einem Wert zwischen 25 und 30. Ab einem BMI von 30 werden die Betroffenen als adipös bezeichnet. Der Sättigungs- und Appetitregelungsmechanismus greift nicht mehr. Esssüchtige essen, auch wenn sie keinen Hunger haben. Sie erleben das Essen als zwanghaft und fühlen sich ihm ausgeliefert. Hilde Bruch spricht von zwei Subtypen. Die erste nennt sie Entwicklungsfettsucht. Diese Krankheit tritt als Folge vieler anderer Persönlichkeitsstörungen auf und ist auf die Gesamtentwicklung zurückzuführen. Die zweite Gruppe, welche sie als reaktive Fettsucht bezeichnet, wird fettsüchtig aufgrund von traumatischen Erlebnissen (vgl. Bruch, 1991, S. 163 in Raabe, 2004, S. 10). Das Übergewicht führt zu Krankheiten, wie beispielsweise Herz-Kreislaufproblemen, Bluthochdruck, Schlaganfällen, Wirbelsäulenschäden und Diabetes. Die Esssucht ist nicht als eigenständige Krankheit anerkannt. An Adipositas leiden nach Untersuchungen der Universität Jena und des Gesundheitsamtes Halle 33 % der Mädchen (vgl. Raabe, 2004, S. 9-11). Auch Esssüchtige leiden unter ihrer Sucht, obwohl sie von der Gesellschaft oft nur als undiszipliniert und faul dargestellt werden. Der Frust darüber führt dann wieder zum Trösten mit Essen (vgl. www.ess-stoerungen.net, 2006) und weiterer Gewichtszunahme.

Latente Esssucht

Diese Essstörung wird auch als Binge-Eating-Störung bezeichnet und wurde erst 1992 als Esssucht klassifiziert. „To binge“ kommt aus dem Amerikanischen und heißt übersetzt „ein Fressgelage abhalten“ (www.ab-server.de. 2005). Sie tritt meist erst in der späten Pubertät und im jungen Erwachsenenalter auf. Das DSM-IV nennt folgende Merkmale: Binge-Eater nehmen, wie bei der Bulimie in einer kurzen Zeitspanne viel Essen zu sich und verlieren dabei die Kontrolle. Sie essen schnell und ohne ein Hungergefühl zu haben bis es zu einem Völlegefühl kommt. Die Betroffenen schämen sich für ihre Verhaltensweisen, halten sie deshalb geheim und werden oft depressiv. Um von einer Binge-Eating-Störung sprechen zu können, müssen mindestens zwei Essanfälle pro Woche über mindestens drei Monate vorliegen. Maßnahmen, welche der Gewichtszunahme entgegenwirken, werden nicht unternommen. Deshalb sind die latent Esssüchtigen oft übergewichtig. Sie leiden psychisch unter ihrer Krankheit und haben ein negatives Körperbild von sich selbst (vgl. Raabe, 2004, S. 11-13). Kerber berichtet, dass 0,7 bis 4 % der Bevölkerung an dieser Störung leiden. 60% davon sind Frauen. Auslöser für die Krankheit sind wie bei allen Essstörungen Diäten (vgl. Kerber, 2003, S. 56 in Raabe, 2004, S. 13).

Bulimie

Diese Essstörung ist auch unter den Namen Bulimia nervosa oder Ess-Brech-Sucht bekannt. Bei einer Mischform aus Anorexie und Bulimie wird von Bulimarexie gesprochen (vgl. Heinemann/Hopf, 2001, S. 192). Übersetzt aus dem lateinischen heißt die Bulimie Stierhunger. Menschen mit Bulimie haben so genannte Essanfälle. Sie verschlingen innerhalb kürzester Zeit große Mengen an Nahrungsmitteln. Da sie krankhaft Angst davor haben zuzunehmen, bereuen sie die Sünde anschließend und führen selbst induziertes Erbrechen herbei. Darüber hinaus werden oft Abführmittel und weitere Maßnahmen vorgenommen, welche dem Zunehmen entgegenwirken sollen. Bulimikerinnen schämen sich in der Regel für diese Verhaltensweisen und verheimlichen sie ihrem Umfeld. Sie haben ein geringes Selbstwertgefühl und verachten sich selbst wegen ihrer Krankheit, vermögen es aber nicht, ohne fremde Hilfe aus dem Teufelskreis Essen und Erbrechen auszubrechen. Sie verspüren einen Kontrollverlust bei den Essattacken und haben große Angst vor Gewichtszunahme. Bulimikerinnen sind generell normalgewichtig und fallen nicht auf. Zur Bulimie kommt es auch häufig nach einer Magersucht (vgl. Raabe, 2004, S. 8). Betreffend des Essens stellen sie sich selbst unter Leistungsdruck, aber auch den weiteren Anforderungen ihres Lebens. Schule, Studium, Sport und Sozialleben werden gut bis sehr gut gemeistert. Sie gelten als erfolgreich; die Krankheit bleibt im Geheimen verborgen.

Zwischen den Ess-Brech-Attacken liegt meistens eine Phase des extremen diätierens, was auf Dauer nicht durchgehalten werden kann. Dann folgen die Essanfälle, der Ekel vor sich selbst, Angst vor Gewichtszunahme, das Erbrechen und der Kontrollverlust. Danach beginnt wieder die Phase der Nahrungsreduktion und die Hoffnung auf Besserung, bis der nächste Fressanfall folgt (vgl. Wolfrum/Pappenfuss, 1993, S 16-19). Die Betroffenen befinden sich in einem Teufelskreis, der oft jahrelang bestand hat, bis sie sich in eine Therapie begeben.

Gerlinghoff unterscheidet zwei Typen von Bulimikerinnen: Den „Purging-Typus“ (Gerlinghoff et al., 2004, S. 158). und den „Nicht-Purging-Typus“ (ebenda). Erster erbricht, nimmt entwässernde oder abführende Mittel. Der „Nicht-Purging-Typus“ (ebenda) verhindert auf andere Weise das Zunehmen nach übermäßiger Nahrungsaufnahme. Er fastet oder treibt übermäßig viel Sport (vgl. Gerlinghoff et al., 2004, S. 158).

Es gibt viele subklinische Formen von Essstörungen. Diese Formen sind gestörte Verhaltensweisen, die als Vorläufer von manifesten Essstörungen auftreten. Die Übergänge von normalem und gesundem Essverhalten sind fließend. Raabe (2004) weist darauf hin, dass es wichtiger ist, den psychischen Zustand zu betrachten, als nur auf die Symptome zu schauen. Drehen sich die Gedanken nur noch ums Essen und Nicht-Essen und wird die Bedeutung der Figur und dem Gewicht immer größer und belastender, besteht eine Essstörung (vgl. Raabe, 2004, S. 5). Remschmidt et al. weisen sehr deutlich darauf hin, dass es häufig zu einem Wechsel der Essstörungen im Langzeitverlauf kommt oder so genannte atypische Essstörungen auftreten können, welche nicht eindeutig den Klassifikationskriterien zugeordnet werden können, deshalb fordern sie diese zu verbessern (vgl. Remschmidt et al., 2000, S. 193-194).

3 Das Störungsbild

Das Störungsbild der Bulimie fängt bei Angst vor Übergewicht an und endet in Ess-Brechanfällen oder dem Missbrauch von anderen Mitteln zur Gewichtsregulation. Oberflächlich betrachtet handelt es sich um eine Essstörung, die behoben werden kann, indem das Essverhalten normalisiert wird, aber so einfach ist es nicht. Die Symptomatik ist weit gefächert. In diesem Kapitel werden nicht nur die gestörten Verhaltensweisen bezüglich des Essens beschrieben, sondern auch die psychische Komponente. Die Bulimie drückt psychische Probleme der Betroffenen aus. Die Bulimikerin versucht durch die Krankheit Spannungen abzubauen, sie versucht somit Probleme zu lösen. Dieser Trugschluss soll näher beleuchtet und untersucht werden. Wichtig zu bedenken ist, dass diese Essstörung sich körperlich zeigt, wobei die Probleme der Betroffenen aber sehr viel tiefer liegen. Deshalb ist es durch eine bloße Beschreibung der Essanfälle und der Folgen nicht getan. Die Gefühle, die eine betroffene Person dabei empfindet und welche psychischen Komponenten mitspielen, dürfen nicht vergessen werden und sind deshalb Schwerpunkte des folgenden Kapitels.

3.1 Symptomatik

3.1.1 Bulimisches Essverhalten

3.1.1.1 Essanfälle

Ein Heißhungeranfall wird definiert als impulsive Nahrungsaufnahme, der in diesem Moment genussvoll nachgegangen wird, die aber außerhalb des Heißhungeranfalls nicht mehr nachvollzogen werden kann (vgl. Habermas, 1990, S. 18.) Bei der Bulimie wird nicht der Körper beherrscht, wie es bei der Anorektikerin der Fall ist. Die Bulimikerin beherrscht das Essen bzw. wird von ihm beherrscht. Sie versucht dadurch andere Dinge zu kompensieren. Oft braucht sie das Essen in Phasen innerer Leere und wenn sie Angst hat (Heinemann/Hopf, 2001, S. 193). Bulimie ist eine Hassliebe zum Essen. Die Nahrung wird benutzt, um Gefühle, wie zum Beispiel die innere Leere, aufzufüllen. Der Bulimie gehen normalerweise mehrere Diätversuche voraus. Die Mangelernährung führt dann jedoch zu Heißhungerattacken. Die Bulimikerin bekommt einen Essanfall und isst große Mengen kalorienreicher Nahrung. Sie verliert dabei die Kontrolle über sich selbst. Nach dem Essanfall hat sie ein schlechtes Gewissen und ekelt sich vor sich selbst. Sie meint sie sei ‚schlecht’ und versucht durch das Erbrechen der Nahrung die Kontrolle zurück zu gewinnen. Bulimikerinnen wissen normalerweise, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, deshalb schämen sie sich und behalten ihr Geheimnis für sich (vgl. Johnson Institute, 1998, S. 8-9, Übersetzung der Verfasserin).

Auslöser

Ein Essanfall kann sich aus einer normalen Nahrungsaufnahme heraus entwickeln. Ist bei einem gewöhnlichen Essen ein bestimmtes Maß überschritten, denkt sich die Bulimikerin, dass es nun sowieso zu spät sei. Sie habe ihre Diätregeln schon verletzt und isst nun weiter, damit sich das Erbrechen auch lohnt. Das Aufnehmen von etwas mehr Nahrung als erlaubt oder von verbotenen Nahrungsmitteln wird als Kontrollverlust erlebt (Bauer et al., 2002, S 43). Aber nicht nur die Nahrung selbst kann Auslöser für einen Essanfall sein. Viele negative Gefühle oder Ereignisse wecken in der Bulimikerin unbewusst den Wunsch zu Fressen. Bei einer Stichprobe von 39 befragten Bulimikerinnen gaben sie folgende auslösende Kriterien an:

„67% Einsamkeit und Alleinsein;

54% Streß, Gefühl der Lähmung, Unterdrückung durch andere;

38% Zustände der inneren Leere, Langweile, oder Entfremdung;

38% Wut, Ärger;

36% Ängste, verlassen zu werden; Enttäuschungen durch andere;

21% Traurigkeit, Deprimiertsein;

15% Hunger, Appetit;

13% Frustriertsein, Unzufriedenheit;

8% Müdigkeit, Kraftlosigkeit.“

(Habermas,1990, S. 18)

Die Diagnosekriterien verlangen mindestens zwei Essanfälle pro Woche, um von Bulimie im medizinischen Sinn sprechen zu können. Einige Bulimikerinnen planen ihre Essanfälle. Sie kaufen die Nahrungsmittel vorher ein und wissen sogar die Reihenfolge des zu verspeisenden Essens. Der Anfall fällt dann meist in die Abend- oder Nachtstunden, da die Bulimikerinnen sich dann unbeobachtet fühlen, wenn sie mit jemandem zusammen wohnen. Die Nahrung wird sehr oft schnell und hektisch verschlungen. Oft wird kein Besteck verwendet. Die bevorzugten Nahrungsmittel sind die, welche die Bulimikerin außerhalb des Fressanfalls, während des Diätierens meidet: Fette kohlenhydratreiche Nahrung, die leicht zu erbrechen ist. So kann es sein, dass an einem Tag bis zu 50 000 Kalorien über den Tag verteilt aufgenommen und erbrochen werden. Im Durchschnitt sind es jedoch 3500 Kalorien bei einem Anfall (vgl. Bauer et al., 2002, S. 12 und Habermas, 1990, S. 17-19).

Manche haben bestimmte Rituale entwickelt, die sie für sinnvoll halten, wenn sie einen Fressanfall haben. Sie tragen bestimmte Kleidung oder essen die Nahrungsmittel in einer bestimmten Reihenfolge. Einige erbrechen mehrere Male und essen dazwischen immer wieder, andere essen und erbrechen nur einmal. Nach der Ess-Brechattacke wird alles geputzt und jegliche Spuren entfernt (vgl. Gerlinghoff, 1998, S. 17-24). Wie schon gesagt, übergibt sich der Großteil der Bulimikerinnen nur nach einem Essanfall. Zwischen den Anfällen wird sehr gesund gelebt oder eine strikte, oft zu extreme, Diät gelebt. Eine geringe Zahl, 5 %, übergibt sich auch, obwohl zuvor nicht viel gegessen wurde (vgl. Habermas, 1990, S.17).

Im Durchschnitt kommt es zu 11,7 Anfällen in der Woche und etwa die Hälfte der Betroffenen hat mindestens ein Mal am Tag einen Essanfall. Die weiteren 50% haben drei bis fünf Heißhungeranfälle pro Woche. Dies geschieht meistens am Abend und da Bulimikerinnen sich für ihr Verhalten schämen geschieht es nur, wenn sie allein sind (vgl. Schulte und Böhme-Bloem, 1990, S. 37 in Heinemann/Hopf, 2001, S. 191). Die Essanfälle sind also eine Frage der Gelegenheit. Aber fehlt das nötige Kleingeld für die großen Mengen an Nahrungsmitteln, kommt es häufig zu einem weiteren Problem. Für Bulimikerinnen gibt es, wie bei Drogenabhängigen, eine Beschaffungs-problematik. Sie versuchen die Krankheit geheim zu halten, aber beim Fehlen der vielen Nahrungsmittel fällt ihr Verhalten zwangsläufig auf, also werden die Nahrungsmittel nur anfangs von zu Hause genommen. Sind sie in Gefahr entdeckt zu werden, kaufen sich jugendliche Bulimikerinnen die Nahrungsmittel von ihrem Taschengeld. Manche gehen zusätzlich jobben, um sich die Fressanfälle leisten zu können. Reicht auch das nicht, werden Geld oder Nahrungsmittel direkt gestohlen (Gerlinghoff, 1998, S. 20).

Wie schon erwähnt, kommt es auch bei anderen Essstörungen zu Essanfällen. Nach Vandereycken und Meermann müssen drei Punkte erfüllt sein, um von Fressanfällen, eingebettet in eine bulimische Symptomatik, sprechen zu können. Wie viel Essen wird bei einem Anfall verzehrt? Bulimikerinnen berichten vielleicht von einem Essanfall, aber eine Person, die ständig Diäten macht und die Lebensmittel in erlaubt und verboten einteilt, spricht von einem Essanfall, wenn sie sich ein Stück Schokolade gönnt. Ein Zuviel liegt immer im Auge des Betrachters. Für Frauen, die sich viele Gedanken ums Essen und Nicht-Essen machen, bedeutet ein kleiner Verstoß gegen ihre strengen Nahrungs-vorschriften schon als zu viel. Deshalb können sie schon beim Essen eines Stücks Schokolade von einem Essanfall sprechen. Ein wirklicher Fressanfall bedeutet allerdings, dass die Frauen sehr viel Nahrung zu sich nehmen. Da das Viel relativ ist, sprechen Vandereycken und Meermann von beispiesweise der doppelten Menge einer normalen Mahlzeit. Auch Habermas merkt an, dass ein Fressanfall immer im Auge des Betrachters liegt. Kleine Abweichungen innerhalb eines strikten Diätplans kann für die Betroffenen schon als Essanfall erlebt werden. Allerdings, so berichtet Habermas, kann es sich auch um Anfälle handeln, bei denen im Einzelfall bis zu 10 000 Kalorien zu sich genommen werden. Im Durchschnitt liegt die aufgenommene Kalorienzahl bei einem bulimischen Essanfall bei 3000 – 4000 (vgl. Habermas, 1990, S. 18).

Der zweite Punkt, um von bulimischen Fressanfällen sprechen zu können bezieht sich auf die Zeitspanne, in der ein solcher Fressanfall stattfindet. Vergleicht man plötzlich auftretende Anfälle, bei denen innerhalb kurzer Zeit enorm viel Nahrung zu sich genommen wird, mit dem Essverhalten übergewichtiger Menschen, sieht man, dass die Zeitspanne eine wichtige Einheit ist, um von Bulimie sprechen zu können. Ein bulimischer Essanfall findet plötzlich oder auch geplant statt und es werden innerhalb von einer halben Stunde bis Stunde viele Kalorien zu sich genommen. Übergewichtige Menschen nehmen oft über den Tag verteilt mehrmals kalorienreiche Nahrung zu sich und essen bei den Hauptmahlzeiten zu ungesund, nicht unbedingt zu viel. Die Nahrungsaufnahme beschränkt sich auf fettige, süße Speisen, was zur Gewichtszunahme führt. Oft werden diese Mahlzeiten sehr geschätzt und bewusst genossen (vgl. Vandereycken/Meermann, 2000, S. 23-24). Dieser Meinung Vandereycken und Meermanns widersprechen jedoch andere Autoren. De Zwaan weist darauf hin, dass mehrere Untersuchungen ergeben haben, dass die Zeitspanne der Nahrungsaufnahme keine Rolle spielt (vgl. De Zwaan, 2000, S. 79).

Diese Erkenntnis führt zum dritten Aspekt, um von Essanfällen, eingebettet in bulimisches Verhalten, reden zu können. Während die hier erwähnten übergewichtigen Menschen gerne und oft gute Mahlzeiten genießen, kommt es bei bulimischen Essanfällen zu einem Kontrollverlust. Es überkommt sie ein regelrechter Zwang, der sie daran hindert das Essen zu beenden. Das Verzehren einer Süßigkeit zum Beispiel führt dazu, dass die Frauen mehr wollen, immer mehr und sie erst zur Besinnung kommen, wenn sie die begrenzte Größe des Magens dazu zwingt aufzuhören. Wichtig hier zu beachten ist aber, dass manche bulimische Frauen Essanfälle planen und dann auch stundenlang essen können. Dies kommt häufig bei Frauen vor, die sich mit ihrer Krankheit abgefunden haben (vgl. Vandereycken/Meermann, 2000, S. 24-25). Der Großteil der Bulimikerinnen berichtet jedoch, dass sie sich nicht mehr kontrollieren können und sogar teilweise außerhalb ihres Körpers fühlen. Für diesen Kontrollverlust sind physiologische und psychologische Mechanismen verantwortlich. Auf der körperlichen Ebene spielt das Essverhalten der Bulimikerin eine große Rolle. Da sie ihre Nahrungsaufnahme zwischen den Essanfällen sehr einschränkt, verlangt der Körper nach Nährstoffen, es kommt zu Heißhunger, dem irgendwann nicht man widerstanden werden kann. Die psychologische Komponente beschäftigt sich mehr mit den auslösenden Bedingungen des Essanfalls. Der Kontrollverlust wird eingeleitet durch bestimmte belastende Situationen, wie Langeweile, Stress u.a. [siehe oben]. Das Essen ist anfangs noch tröstlich und scheint in der Situation einen Weg zu sein, der den Ärger vertreibt, aber das gute Gefühl ist nur von kurzer Dauer. Physiologische und psychologische Gründe beeinflussen gemeinsam das Essverhalten und lösen somit die Essanfälle aus, welche dann zu einem Kontrollverlust führen (vgl. Schmidt, Treasure, 2000, S. 69-70).

Zusammenfassend kann man sagen, dass man von Essanfällen im Sinne einer Bulimie sprechen kann, wenn „innerhalb kurzer Zeit objektiv große Mengen an Lebensmitteln verzehrt“ werden und „es dabei zu einem Gefühl des Kontrollverlustes kommt“ (Vandereycken/Meermann, 2000, S. 24). Die Bulimikerinnen empfinden die Essanfälle als Problem, sie leiden darunter. Andere Personen genießen ab und an ausgiebige Fressorgien. In diesem Fall kann man nicht von krankhaften Essverhalten sprechen, so wurden zum Beispiel schon im alten Rom Gäste zu Essorgien geladen und extra dafür bereitgestellte Räume zur Verfügung gestellt, wo sich der Besuch übergeben konnten. Dieser Punkt, dass die Bulimie für die Frauen als belastend empfunden wird, ist ein weiteres wichtiges Kriterium für die Bulimie, aber dies ist noch längst nicht ausreichend. Die Angst vor der Gewichtszunahme, die der Dreh- und Angelpunkt der Bulimie sind, führt dazu, dass Bulimikerinnen genau dies versuchen zu verhindern. Dazu wählen die meisten Frauen das Mittel des selbst herbeigeführten Erbrechens. Dazu werden oft einer oder mehrere Finger in den Hals gesteckt, um einen Würgereflex auszulösen. Manche Betroffene nehmen auch Medikamente, die sie dazu bringen, sich übergeben zu müssen. Bei Bulimikerinnen, die schon lange an der Krankheit leiden, kommt es nach einem Essanfall automatisch zum Erbrechen ohne dass sie weitere Eingriffe unternehmen müssen. Oft wird versucht, die Gewichtszunahme mit Abführmitteln zu verhindern. Sie werden entweder allein oder in Verbindung mit dem selbstinduzierten Erbrechen eingenommen (vgl. Vandereycken/Meermann, 2000, S. 25). Exzessiv betriebene sportliche Aktivitäten dienen demselben Zweck (Becker, 1994 in Thies, 1998, S. 9).

3.1.1.2 Erbrechen und Medikamentenmissbrauch

Zuerst kommt es zu Diäten und schließlich zu Essanfällen. Diese Essanfälle werden bereut und dann versucht, sie ungeschehen zu machen. Auf die Idee, sich nach dem Essen zu übergeben, kommen die Bulimikerinnen durch Freunde und die Medien (Gerlinghoff et al., 2004, S. 104). Seit den Achtzigern ist eine epidemische Verbreitung der Bulimie zu verzeichnen, was unter anderem mit der Veröffentlichung durch die Massenmedien zu tun hat. So kam es zum Beispiel zu einer epidemischen Ausbreitung unter Collegestudentinnen der sechziger und siebziger Jahre, nachdem das Fernsehen über diesen Geheimtipp zum Abnehmen berichtet hatte. Viele Studentinnen haben damals mit dem Erbrechen angefangen, um schlank zu bleiben (Wolfrum/Pappenfuss, 1993, S. 17). Allein durch die Veröffentlichung der bulimischen Verhaltensweisen fingen weitere Studentinnen an, dasselbe zu tun. Die Verbreitung hat keine abschreckende Wirkung, sie bringt viele junge Frauen erst auf die Idee zu Erbrechen. Für manche Frauen ist das Erbrechen anfangs die Ideallösung. Vor allem Magersüchtige, die bulimisch werden, freuen sich nach der langen Enthaltsamkeit, wieder das essen zu können, was sie wollen. Bei anderen Bulimikerinnen ist das nicht mit Freude verbunden. Bei ihnen überwiegt der Gedanke an den Ekel und das Verbotene (vgl. www.bulimie-online.de, 2006).

Das Erbrechen nimmt den Bulimikerinnen nach einem Essanfall die Angst vor dem Zunehmen (vgl. Roden und Leitenberg, 1985,1988 in Pudel/Westenhöfer, 1998, S. 244), was durch die negative Verstärkung zu einem Anstieg der Attacken führt und auch die Mengen, die gegessen werden, steigern sich. Dazu wird literweise getrunken, um das Essen leichter loswerden zu können. Manche erbrechen irgendwann ohne weitere Hilfsmittel zu verwenden. Allein der Gedanke daran kann zum spontanen Erbrechen führen, wenn sie sich nur nach vorne beugen. Gelingt dies nicht, wird versucht, das Erbrechen durch das Reizen des Rachens mechanisch herbeizuführen (vgl. Gerlinghoff, 1998, S. 17-18). Dazu wird die Hand oder ein Gegenstand in den Hals eingeführt, um den Würgereflex auszulösen. Es fällt den Ess-Brechsüchtigen mit der Zeit leichter, sich zu übergeben, da sie sich daran gewöhnen. Weil die natürliche Verdauung gestört wird, kommt es bei einigen Bulimikerinnen zu einem Völlegefühl auch wenn sie nur geringe Nahrungsmittel zu sich nehmen. Das rührt daher, dass es zu einer Verzögerung der Magenentleerung kommt (vgl. Bauer et al. 2002, S. 13).

In einer Studie von Fairburn und Cooper 1984 zeigte sich, dass 31,4% der Ess-Brechsüchtigen fast jeden Tag Überdosen Laxatien einnahmen. Sie versuchen dadurch eine Gewichtszunahme zu vermeiden. Entwässernde Mittel dienen ebenfalls zur Gewichtskontrolle, sowie das übermäßige Sporttreiben (vgl. Bauer et al. 2002, S. 13). Wenn Abführmittel genommen werden, wird die Dosis auch hier ständig gesteigert, da der Darm träge wird und immer mehr Abführmittel verlangt, um den Nahrungsbrei verarbeiten zu können (vgl. Gerlinghoff, 1998, S. 17).

Die Essanfälle finden im Geheimen statt und so natürlich auch das Erbrechen. Wenn die Bulimikerinnen keine Möglichkeit haben sich zu erbrechen, weil sie sichbeispielsweise in Gesellschaft befinden, können sie einen Essanfall unterbinden (vgl. Pudel/Westenhöfer, 1998, S. 244).

3.1.2 Psychodynamik des Essverhaltens

3.1.2.1 Zwischen Diät und Fressen

Angst vor Gewichtszunahme

Eine Studie der Eating Disorders Awareness and Prevention, Inc. ergab dass junge Mädchen in den USA mehr Angst davor haben, dick zu werden, als vor Krebs, einem Atomkrieg oder ihre Eltern zu verlieren (vgl. Davis, 1999, S. 14, Übersetzung der Verfasserin). Wenn es zu solchen Ergebnissen bei einer Studie unter der Normalbevölkerung kommt, ist es leicht vorstellbar, wie bulimische Frauen und Mädchen das Dicksein empfinden. Die Angst davor, dick zu werden, ist ein Hauptfaktor der Bulimie. Diese Angst ist der Antrieb, welcher die bulimischen Verhaltensweisen aufrecht erhält. Sie haben übergroße Angst zuzunehmen, da übergewichtige Menschen in unserer Gesellschaft abgewertet werden. Untersuchungen von Brownell (1982) zeigen, dass bereits sechsjährige eine Abneigung gegen Übergewichtige haben. Sie werden als faul und willensschwach angesehen, sowie selbst verantwortlich für ihren körperlichen Zustand. Aufgrund dieser herrschenden Ausgrenzung ist es für Frauen allgemein und speziell für Bulimikerinnen wichtig, der Norm zu entsprechen. Viele bulimische Frauen wurden in ihrer Kindheit wegen ihrem Gewicht geärgert. Dies führt dazu, dass sie es, als das Schlimmste ansehen, überflüssige Pfunde zu haben. Aufgrund der genetischen Faktoren, welche den Set Point beeinflussen, und den persönlichen Charaktereigenschaften, wie Perfektionismus und Kontrollbedürfnis, gehen manche Frauen dann so weit, dass sie extreme Methoden anwenden um dünn zu bleiben oder zu werden. Sie werden bulimisch, weil Diäten nicht so wirken, wie sie es sich wünschen. Russel (1979) fand heraus, dass der bulimische Kampf gegen ihr konstitutionelles Gewicht gerichtet ist. Betroffene äußerten sich bei Befragungen stark negativ, wenn sie gefragt wurden, ob sie sich vorstellen könnten zu ihrem Ausgangsgewicht zurückzukehren. Sie fanden diese Vorstellung schrecklich, obwohl es bei einigen nur eine Zunahme um ein paar Pfund gewesen wäre, um zu ihrem Gewicht vor der Bulimie zurückzukehren (vgl. Bauer et al., 2002, S. 36-39). Das Schaubild von Wolfrum/Pappenfuss zeigt, wie diese Angst vor der Gewichtszunahme einzuordnen ist. Sie stellt einen wesentlichen Faktor für die aufrechterhaltende Wirkung dar.

Aufrechterhaltende Mechanismen

Der Teufelskreis der Bulimie:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Abb. 1)

Das u.a. durch die Angst geschürte Bedürfnis, ständig die Nahrungsaufnahme einzuschränken, bringt die Bulimikerinnen so weit, einfach immer zu diätieren. Dieses gezügelte Essen hat vielerlei Auswirkungen und wird im Kapitel 4.2.2 näher beleuchtet. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das natürliche Sättigungsgefühl gestört wird (vgl. Tuschl, 1990a, in Pudel/Westenhöfer, 1998, S. 210) und bestimmte Nahrungsmittel noch reizvoller werden, da sich die Bulimikerin diese Dickmacher untersagt (vgl. Pudel/Westenhöfer, 1998, S. 209-210). Eine Zeit lang kann die Bulimikerin das gezügelte Essverhalten aufrechterhalten und fühlt sich gut. Wie das Schaubild von Wolfrum und Pappenfuss zeigt, kann sie neue Hoffnung schöpfen und hat eine gewisse Zeit lang kein Essproblem mehr. Wenn in ihrem Leben nun aber Probleme auftauchen, sei es nur eine Bemerkung, kann es zu einer Spaltung des Ichs kommen. Der Heißhunger, bedingt durch psychische und physische Folgen des Diätierens löst einen Heißhungeranfall aus. Die Bulimikerin verliert die kognitive Kontrolle und es kommt zu einem Essanfall, da sie keine andere Problemlösungsstrategien kennt [siehe Kapitel 3.1.2.2]. Sie fühlt sich von außen gesteuert und hat keine Kontrolle mehr über das, was sie isst. Ist der Anfall vorbei, weil der Magen keine weitere Füllung mehr zulässt, kommt die Angst vor der Gewichtszunahme zurück und sie leitet Gegenmaßnahmen ein. Meistens in Form von selbstinduziertem Erbrechen. Für eine kurze Zeit scheint das die Lösung des Problems zu sein, aber im Anschluss wird ihr klar, dass sie versagt hat, weil sie ihre Diät nicht einhalten konnte. Die Bulimikerin macht sich massive Vorwürfe und zweifelt an ihr selbst oder reagiert in dieser Situation gleichgültig, weil sie das Verhalten nicht anders gewöhnt ist. Die Ich-Spaltung ist zu Ende und die kognitive Kontrolle setzt wieder ein. Normalerweise nimmt die Betroffene sich nun wieder vor, die Diät wirklich einzuhalten und es nicht wieder zu einem Essanfall kommen zu lassen. Sie zügelt ihre Nahrungsaufnahme, bis sich ein weiterer Zwischenfall ereignet, dem sie machtlos gegenübersteht und nicht zu lösen weiß (vgl. Pudel/Westenhöfer, 1998, S. 210-212 und 232-233). Das Leben der Bulimikerin dreht sich so sehr ums Essen, dass sie kaum noch Zeit für andere Dinge hat. Sie hat Angst einen Essanfall in Öffentlichkeit nicht unterbinden zu können und reduziert deshalb viele soziale Kontakte, da diese oft mit Essen in Verbindung stehen (vgl. Alibadi/Lahnig, 1990, S. 180-181).

3.1.2.2 Bulimie als Konfliktlösungsstrategie

Bulimikerinnen benutzen ihre Krankheit, um damit etwas zu kompensieren. Viele haben aus diversen Gründen nicht gelernt, auf ihre Gefühle zu hören. So ersetzt die Krankheit den fehlenden Inhalt des Lebens [vgl. Kap. 4]. Die Bulimie ist außerdem Zuflucht und Trost für die Betroffenen (vgl. Gerlinghoff, 1998, S. 34). Bulimikerinnen haben keine oder nur wenige Strategien, um mit Problemen fertig zu werden. Sie wissen nicht, wie sie mit Wut oder Angst umgehen sollen (vgl. Bauer et al., 2002, S. 74). Untersuchungsergebnisse von Platte (1990) zeigen ebenfalls, dass Bulimikerinnen über wenig Problemlösungsstrategien verfügen. Sie werden schnell emotional und geben auf, anstatt mit geeigneten Coping Strategien auf ein Problem zu reagieren und es zu bewältigen. Die bulimischen Ess-Brechanfälle werden mit dem Krankheitsverlauf manifestiert, um Stress abzubauen. Die Anfälle sind ihre Problemlösungsstrategie, sie verlernen oft weitere Möglichkeiten, mit Problemen umzugehen und können sich darüber hinaus auch keine weiteren Copingstrategien aneignen. Viele normale Situationen werden als belastend empfunden (vgl. Waadt et al., 1992, S. 24 in Gerlinghoff/Black, 1995, S. 22), weil die Bulimikerin oft versucht, perfekt zu sein und bei sich anbahnendem Stress nicht erkennt, wenn sie angespannt ist, da sie verlernt hat, auf ihre eigenen Gefühle zu hören (vgl. Gerlinghoff/Black, 1995, S. 22).

Habermas und Müller (1986) haben eine „Skizze der typischen Psychodynamik“ erstellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Abb. 2)

Habermas’ Abbildung macht deutlich, wie eine Enttäuschung der Wünsche bei Bulimikerinnen zu einem Essanfall führt. Nach problematischen Situationen mit ihren Mitmenschen, auf die sie eigentlich mit Wut reagieren müsste, nimmt sie eine diffuse Erregung wahr. Sie zieht sich daraufhin zurück und manipuliert ihr Selbstwertgefühl, indem sie im Essen das erhofft, was sie vermisst. Aber es verschafft ihr nicht die erwünschte Befriedigung. Sie kann zwar einen kurzen, halt gebenden Moment, im Essen finden, aber danach spürt sie nur wieder die innere Leere. Die Bulimikerin kann aber auch anders reagieren. Sie verschiebt die Probleme nicht auf die Nahrung, sondern hält sich an ihre Diätvorschriften. Sie versucht, anderen zu gefallen und lässt sich so von ihrer Außenwelt bestimmen. Auch dieses Verhalten führt zu der oben genannten inneren Leere und einer Verwirrtheit, denn sie weiß durch die von außen gesteuerten Verhaltensweisen nicht mehr, wer sie selbst ist (vgl. Habermas, 1990, S.109).

3.1.3 Heimlichkeit und Doppelleben

Fressanfälle finden in der Regel im Verborgenen statt. Im Beisein von Mitmenschen essen Ess-Brechsüchtige häufig normal bis wenig. Die Bulimikerinnen, welche in Gesellschaft normale bis gute Mengen zu sich nehmen, begeben sich dann anschließend häufig auf die Toilette, um sich zu übergeben. Die andere Gruppe, die im Beisein von Menschen wenig isst, bekommt Fressanfälle nur im Alleinsein, häufig in den Abendstunden. (vgl.Vandereycken/Meermann, 2000, S. 25-26). Auch Angehörige wissen in der Regel nichts von der Krankheit. Das Ritual findet auf der Toilette statt. Manche Bulimikerinnen können sich spontan übergeben, andere benutzen Gegenstände oder die Finger, um den Würgereflex auszulösen. Nach dem Erbrechen, werden die Zähne geputzt und das Bad gesäubert. Es ist ihnen sehr wichtig, keine Spuren zu hinterlassen. Die Bulimikerinnen erbrechen sich auch in fremden Toiletten und kennen sich deshalb sehr gut im öffentlichen Toilettensystem aus. Manche Bulimikerinnen spielen mit der Möglichkeit erwischt zu werden und verhalten sich absichtlich leichtsinnig und vergessen ihre Vorsichtsmaßnahmen, um erwischt zu werden und auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Zu Anfang der Krankheit wird das Erbrechen positiv erlebt. Das dick machende Essen wird entsorgt und die Betroffenen sind Herrin über ihren eigenen Körper, aber mit dem weiteren Krankheitsverlauf kommt es zu Gewissensbissen und Verzweiflung (vgl. Gerlinghoff et al., 2004, S. 104-105).

Da die Essanfälle im Verborgenen durchgeführt werden, bleibt dieses Verhalten oft jahrelang unentdeckt, obwohl die jugendlichen Bulimikerinnen im elterlichen Haus wohnen. Sie verbrauchen viel Energie, um Techniken zu entwickeln, wie sie die Essanfälle, das Übergeben und Abführen geheim halten können. In manchen Familien ist die bulimische Symptomatik auch bekannt, wird aber von den Eltern nicht angesprochen. Manche benutzen das Symptom aber auch gezielt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie schreien nach Hilfe (vgl. Gerlinghoff, 1998, S. 19).

Die Bulimikerinnen sind meist erfolgreich in Schule, Studium und Beruf. Sie haben Angst vor Kritik und versuchen, so zu leben, wie es die gesellschaftlichen Normen fordern. Nach außen hin wirken sie einfühlsam, sind gute Zuhörerinnen und kümmern sich um andere. Sie fordern wenig von anderen und „doch leiden sie Höllenqualen, indem sie ein Scheinbild wahren und ihren Frust, ihre Gefühle von Hilflosigkeit, Chaos, und Selbstzweifel mit fragwürdigen Mitteln übertünchen“ (Wolfrum/Pappenfuss, 1993, S. 39). Das Essen und Erbrechen kann als Symptom gesehen werden, das ausdrückt, dass sie es extrem belastet nach außen hin ein anderes Leben zu leben, als sie es in Wirklichkeit tun. Das Geheimnis bleibt bei der Betroffenen. Sie ekelt sich vor sich selbst und findet ihr Verhalten abartig. Die Bulimikerin hat Angst davor, von anderen verurteilt zu werden, wenn sie ihrem Geheimnis auf die Schliche kommen (vgl. ebd., S. 39-40). So führt sie ein unerfülltes, belastendes Doppel-leben. Den Ärger und Frust zeigt sie nicht. Sie ist stets angepasst, als Gesprächspartner beliebt und weicht nicht von der Norm ab.

Das Leben der Bulimikerin wird im Verlauf der Krankheit immer schwieriger. Sie erlebt eine Art Persönlichkeitsspaltung. Nach den Ess-Brechanfällen kann sie nicht mehr nachvollziehen, warum sie es dazu kommen ließ und sogar ihr privates Leben, „der Umgang mit ihr selbst“, (Langsdorff, 1984 in Habermas, 1990, S. 98) unterscheidet sich immer mehr von dem Bild, das sie nach außen hin gibt. Habermas hat eine Liste der Eigenschaften erstellt, welche die Zwigespaltenheit der Bulimikerinnen zum Ausdruck bringt :

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Habermas 1990, S. 98)

Diese Tabelle zeigt, dass sich die Bulimikerin als gespalten erlebt. Sie nimmt vor anderen Menschen eine andere Rolle ein. Die rechte Spalte drückt aus, wie sich die Frauen selbst erleben, besonders während einer Ess-Brechphase. Zwischen diesen Phasen ist sie oft überaktiv und selbstsicher. Sie reiht einen Termin an den anderen, um das Spannungsgefühl und die innere Unruhe loszuwerden. Sie kann dieses öffentliche Leben aufrechterhalten, bis sie von jemandem enttäuscht wird oder eine Niederlage erleidet. In diesen Fällen wird sie nicht wütend, sondern ohnmächtig, und es kommt zu einem Essanfall. Dazu zieht sie sich zurück und versucht im Essanfall ein Gefühl der Sicherheit zu finden, das sie bei ihren Mitmenschen nach einer Enttäuschung nicht empfinden kann (vgl. Habermas 1990, S. 97-100). Sie bezeichnet das Ich, welches sie nach außen zeigt als das gute Ich und das andere als böses Ich. Aber sie leidet darunter, da sie diese Gespaltenheit in ihr selbst erkennt. Sie drückt alle bösen Seinsanteile im heimlichen Essen und Erbrechen aus. Nur dadurch kann sie sich spüren, denn sie hat es verlernt auf sprachlicher Ebene auszudrücken, was sie will und wer sie ist, mit allen Seinsanteilen. So drückt sie sich „körpersprachlich“ (Focks, 1994, S. 183) aus. Sie nimmt dabei wahr, was sie sonst im Leben als perfekte Frau ständig verdrängt (vgl. Focks, 1994, S. 180-186).

3.1.4 Komorbidität

Viele Autoren der vorliegenden Literatur konnten feststellen, dass bei der Essstörung Bulimie Komorbitäten auftreten. Bossert-Zaudig et al. (1993) untersuchte daraufhin 24 bulimische, stationär behandelte Patientinnen. Die häufigste Krankheit, die neben der Bulimie auftrat, war die Magersucht. 87,5% der Untersuchten erfüllten auch die Diagnosekriterien der Magersucht. Habermas fand ebenfalls heraus, dass Magersucht in engem Zusammenhang mit Bulimie steht. Er bestätigte, dass 1/3 aller Bulimikerinnen vor der Bulimie anorektische Zeichen zeigten, die zum größten Teil aber nur ein Jahr anhielten (vgl. Habermas, 1990 S. 17). Köpp spricht sogar von 50% Bulimikerinnen, die zuvor Magersucht hatten (vgl. Köpp, 2000, S. 62). Als zweit häufigste Krankheit traten traurige Verstimmungen auf (41,6%), gefolgt von Depressionen (25%) und affektiven Psychosen (20,8%) (vgl. Gerlinghoff/Black, 1995, S. 9). Affektive Störungen sind ausgeprägte Gefühle von Minderwertigkeit, bzw. eine negative Sichtweise der eigenen Person (Beck et al., 1979 in Jacobi, 1999, S. 25) 8,3 % wiesen Angststörungen auf. Natürlich können die Patientinnen auch mehrere Störungen gleichzeitig haben. Warum das so ist, können sich Bossert-Zaudig et al. nicht erklären. Sie vermuten jedoch, dass die Persönlichkeitsstörung, welche die bulimischen Patientinnen aufgrund einer Entwicklungsstörung haben, auch die weiteren Störungen auslösen. Die Komorbitäten sind unabhängig von der Schwere der Bulimie. Die Autoren sind der Meinung, dass die Zweiterkrankungen nicht sonderlich durch die Bulimie beeinflusst werden (vgl. Gerlinghoff/Black, 1995, S. 9-10).

Depressionen

Bei Essgestörten kommt es zu folgenden Phänomenen: „Emotionale Leere, gestörtes Selbstwertgefühl, sozialer Rückzug, niedergedrückte Stimmungslage, Libidoverlust, und herabgesetztes Konzentrationsvermögen“ (Herpertz-Dahlmann, 1993, S. 18). Bei depressiven Erkrankungen treten dieselben Symptome auf. Essgestörte haben häufig eine schwach ausgeprägte Depression. Sie ist schwächer ausgeprägt, als die von Menschen mit hauptsächlich affektiven Erkrankungen, aber die depressive Verstimmung bulimischer Frauen ist mehr ausgeprägt, als die von Magersüchtigen (vgl. Herpertz-Dahlmann, 1993, S. 18-19). Kasvikis et al. (1986) fanden heraus, dass ein Zusammenhang zwischen Zwangserkrankungen und Essstörungen besteht. Besonders bulimische Essstörungen gehen häufig mit Depressionen einher, dies stellte Herzog et al 1991 fest. 56% hatten zu der bulimischen Symptomatik noch depressive Störungen gezeigt (vgl. Buddeberg-Fischer, 2000, S. 11-12).

Silverstone vermutet, dass einer der Gründe für gehäufte Depressionen bei Bulimikerinnen ist, dass sich auf Grund des mangelnden Selbstwertgefühls leichter eine Depression entwickeln kann (vgl. Silverstone, 1990 in Jacobi, 1999, S. 25). Da beide Störungen oft gemeinsam bei Patientinnen auftreten, wurde früher gedacht, dass die Depression die eigentliche Krankheit ist und die Bulimie eine Ausprägung davon sei. Diese These ist heute jedoch als falsch anzusehen (vgl. Beebe, 1994 et al., in Jacobi, 1999, S. 24). Die depressiven Symptome müssen jedoch mit der Bulimie zusammenhängen, da die depressiven Verstimmungen bei Besserung der bulimischen Symptome ebenfalls verschwinden (vgl. Laessle et al., 1987 in Jacobi, 1999, S. 24 und Herpertz-Dahlmann, 1993, S. 18).

Die Ess-Brech-Anfälle müssen, wie man anfänglich vermuten könnte nicht die Auslöser der Depressionen sein. Vielmehr sind es die Phasen dazwischen. Die Zeiten, in denen diätiert wird lösen oftmals Depressionen aus. Menschen, die Diät machen werden von ihrer Umgebung oft als schlecht gelaunt und unausgeglichen bezeichnet. Die Minnesota Studie zeigt, dass das Hungern eng mit depressiven Verstimmungen zusammenhängt. Männer mussten sechs Monate lang hungern und zeigten unter anderem rasch zunehmende Depressionen. Außerdem traten Zwangshandlungen und Entscheidungsschwäche auf. Das Fasten hat also großen Einfluss auf die Psyche des Menschen (vgl. Keys et al., 1950 in Pudel/Westenhöfer, 1998, S. 97-98).

Bestimmte Sorten von Antidepressiva können hilfreich sein, um die bulimische Symptomatik, sowie die Depression zu verbessern. Wie das Medikament genau wirkt ist unbekannt; es greift aber direkt in die Appetitregulation ein. Die Heißhungeranfälle bessern sich. Die Medikamente können laut Literatur kurzfristig hilfreich sein, aber die Wirksamkeit der Langzeitbehandlung ist umstritten (vgl. Fairburn, 1990 in Herpertz-Dahlmann, 1993, S. 27). Da die psychischen Probleme ohne eine psychotherapeutische Behandlung nicht gebessert werden (vgl. Mitchell et al., 1989 in ebd).

Eine Depression tritt überdurchschnittlich oft bei Familienmitgliedern von Bulimikerinnen auf. Das heißt Bulimikerinnen sind oft familiär vorbelastet (vgl. Hudson et al., 1983). Und Diäten sind dann Auslöser für die Depression oder verschlimmert eine bereits bestehende Depression (vgl. Bauer et al., 2002, S. 47). Die Autoren sind sich jedoch nicht einer Meinung darüber, ob die Depression Auslöser oder Folge der Bulimie ist (vgl. Bauer et al., 2002, S. 50).

[...]


1 International Classification of Diseases (vgl. www.ab-server.de, 2005).

2 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (vgl. www.ab-server.de, 2005).

1 Zur Bestimmung des Normalgewichts gilt heute der Body-Mass-Index als Standard. Er wird errechnet aus dem Körpergewicht in kg geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Meter (vgl. Biesalski/Grimm, 1999, S. 12)

1 Binge: Aus dem Amerikanischen übersetzt „ein Fressgelage abhalten“ (vgl. www. ab-server, 2004)

2 Purge: Aus dem Amerikanischen übersetzt „reinigen, abführen“ (vgl. Klatt et al., 1992, S. 445)

Excerpt out of 132 pages

Details

Title
Bulimie im Jugendalter - Ursachen, Folgen und Präventionsmaßnahmen
College
University of Education Heidelberg
Grade
1,5
Author
Year
2006
Pages
132
Catalog Number
V56354
ISBN (eBook)
9783638510516
ISBN (Book)
9783656776567
File size
957 KB
Language
German
Notes
Diese Arbeit schildert detailliert die Ursachen von Essstörungen am Beispiel der Bulimie, stellt einen Bezug zur frühen Kindheit und Entwicklung im Elternhaus dar, sowie umschreibt die Auswirkungen der Bulimie. Außerdem werden mögliche Präventionsmaßnahmen im schulischen Umfeld aufgezeigt und theoretische Modelle vorgestellt. Ein ausführliches Interview mit einer Betroffenen entwirft ein plastisches Bild vom Leben mit der Krankheit Bulimie.
Keywords
Bulimie, Jugendalter, Ursachen, Folgen, Präventionsmaßnahmen
Quote paper
Ina Nass (Author), 2006, Bulimie im Jugendalter - Ursachen, Folgen und Präventionsmaßnahmen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56354

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