Wissenschaftstheoretische Untersuchung gegenwärtiger Theorien zur LRS


Magisterarbeit, 2005

148 Seiten, Note: 1,15


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Einleitung

2. Wissenschaftstheoretische Präzisierung des Ursachenbegriffs
2.1. Theoretische Vorüberlegung zum Ursachenbegriff
2.1.1. Ausformulierung der Theorie am Beispiel der Lese- Rechtschreibschwäche
2.1.2. Notwendige und hinreichende Bedingungen
2.1.2.1. Wissenschaftstheoretische Voraussetzung für Bedingungsnetze

3. Begrifflichkeit der Lese-Rechtschreibschwäche
3.1. Versuch einer Definition
3.1.1. Ursachenannahme und Ätiologie der Lese- Rechtschreibschwäche

4. Zusammenhang von Intelligenz und Lese-Rechtschreibschwäche
4.1. Definitionsversuch der Lese- Rechtschreibschwäche unter Rückgriff auf die Intelligenz: Analyse
4.1.1. Kritische Betrachtung der „ diskrepanten" Lese- Rechtschreibschwäche: Analyse
4.2. Phänomenologischer Definitionsversuch der Lese-Rechtschreibschwäche
4.2.1. Aufzählung legasthenietypischer Fehler
4.2.2. Legastheniespezifische Fehler am Beispiel der WR-Fehler
4.2.3. Legastheniespezifische WR-Fehler oder Maskierungseffekt?: Überlegung
4.3. Sachlogische Überlegungen zum phänomenologischen Definitionsansatz: Analyse
4.3.1. Sachlogische Überlegungen zur Methodik des phänomenologischen Definitionsversuchs

5. Wissenschaftstheoretische Überlegung zum Konzept der phonologischen Bewusstheit
5.1. Die phonologische Bewusstheit: Exkurs
5.1.1. Theorie der phonologischen Bewusstheit
5.1.2. Begrifflichkeit der phonologischen Bewusstheit
5.1.3. Die Phonologie des Lesens
5.1.4. Sachlogische Überlegungen zur Messmethodik der phonologischen Bewusstheit: Analyse

6. Kognitive Modelle der Sprachverarbeitung: Exkurs
6.1. Grundlegende Annahmen zur Sprachverarbeitung: Darstellung
6.1.1. Sprachperzeption
6.1.2. Lexikalische Verarbeitung
6.1.3. Kommunikationsmodelle
6.2. Kognitive Modelle der visuellen Sprachverarbeitung: Exkurs
6.2.1. Das Logogen-Modell: Darstellung
6.2.2. Kritische Betrachtung des Logogen-Modells: Analyse
6.2.3. Das Dual-Route-Model: Darstellung
6.2.4. Kritische Betrachtung des Dual-Route-Models: Analyse

7. Lerntheoretische Annahmen des traditionellen Legastheniekonzepts: Darstellung
7.1. Lerntheoretische Grundlagen
7.1.1. Lerntheoretisch begründete Interventionsverfahren
7.2. Gegenüberstellung von lerntheoretischen und neurobiologischen Konzepten
7.2.1. Lerntheoretische Annahmen
7.2.2. Neurobiologische Annahmen
7.2.3. Benenngeschwindigkeit versus phonologisches Bewusstsein
7.2.3.1. Theoretische Annahmen
7.2.3.2. Praxis
7.3. Zur Geschichte der Benenngeschwindigkeit: Exkurs
7.3.1. Die Methode der Benenngeschwindigkeit

8. Untersuchung lerntheoretisch begründeter Therapieverfahren: Darstellung
8.1. Das Trainingsprogramm von Hans-Joachim Kossow
8.1.1. Theorie und Aspekte
8.1.1.1. Inhaltliche Aspekte
8.1.1.2. Pädagogisch-psychologische Aspekte
8.1.1.3. Lerntheoretische Aspekte
8.1.1.4. Kybernetische Aspekte
8.1.2. Die Praktische Umsetzung
8.2. Untersuchung des Trainingsprogramms: Analyse

9. Alternative Therapieansätze: Überlegung
9.1. Neurobiologische Annahmen von Funktionsstörungen

10. Neurobiologische Grundlagen des Sehens: Exkurs
10.1. Augenbewegungen beim Lesen
10.1.1. Blickbewegung des kompetenten Lesers
10.1.2. Durch Wortarten bedingte Augenbewegungen
10.1.3. Gestörte Augenbewegungen
10.1.4. Augenbewegungen legasthener Kinder

11. Legasthenie durch Sehstörungen: Darstellung
11.1. celeco - RICHTIG LESEN LERNEN von Werth
11.1.1. Fähigkeit der Buchstabenunterscheidung
11.1.2. Sensorisches Intervall
11.1.3. Fähigkeit der Graphem-Phonem-Zuordnung
11.1.4. Fähigkeit zur Identifikation von Buchstabenbestimmung mit Benennung
11.1.5. Fähigkeit zur Identifikation von Buchstabenbestimmung ohne Benennung
11.1.6. Blickrichtungskontrolle

12. Lerntheoretische versus alternative Therapien: Analyse

13. Zeitverarbeitung
13.1. Zusammenhang von Zeitverarbeitung und Sprachverarbeitung
13.2. Zeitstruktur versus Frequenzstruktur: Analyse
13.3. Gegenüberstellung von lerntheoretischen Annahmen und phonetischen Tatsachen: Analyse der 1. Lösungsstrategie
13.4. Frequenzanalyse
13.5. Grapho-motorische Lösungsstrategie aus lerntheoretischer Sicht: Darstellung
13.6. Analyse der grapho-motorischen Lösungsstrategie

14. Zusammenfassung

15. Abbildungsverzeichnis

16. Tabellenverzeichnis

17. Quellenverzeichnis

Vorwort

Die vorliegende Arbeit stellt keine Wertung, sondern lediglich ein Zusammentragen verschiedener gegenwärtiger Theorien, nämlich lerntheoretisch vs. sogenannter alternativ begründeter Theorien zur Lese- Rechtschreibstörung (LRS) dar. Es erfolgt eine Gegenüberstellung und wissenschaftstheoretische Untersuchung von zwei ausgewählten Theorien zur Lese- Rechtschreibstörung und der daraus abgeleiteten Therapien der Lese- Rechtschreibstörung. Die Auswahl der beiden Therapieverfahren ist in den unterschiedlichen Annahmen zur Ursache der Lese- Rechtschreibstörung und den daraus resultierenden Theorien und letztendlich gegensätzlichen Therapieansätzen begründet.

Im ersten Teil dieser Arbeit wird stellvertretend für die traditionell lerntheoretisch begründeten, deutschsprachigen Therapiekonzepte zur LRS das Trainingsprogramm von Kossow „Zur Therapie der Lese- Rechtschreibschwäche“ (1973) herangezogen, da in den zeitlich nachfolgenden Förderprogrammen von Scheerer-Neumann „Das Rechtschreibtraining“ (1988) und Mannhaupt „Strategisches Lernen“ (1992) grundlegende Aspekte der lerntheoretischen Annahmen, auf denen Kossows Konzept zur Intervention der LRS beruhen, übernommen wurden.

Gegen Ende der Arbeit wird, stellvertretend für ein alternativ begründetes Therapieverfahren, in diesem Fall die neurobiologisch begründete und computergestützte Diagnose- und Therapiesoftware celeco - RICHTIG LESEN LERNEN von Werth (2001 und 2003), vorgestellt.

1. Einleitung

Der Titel der Arbeit wirft zunächst einmal die Frage auf, was Wissenschaftstheorie überhaupt ist und was der Gegenstandsbereich wissenschaftstheoretischer Untersuchungen sein könnte. Der Forschungsbereich der Wissenschaftstheorie ist nicht endgültig festgelegt und darüber, was als Wissenschaftstheorie aufzufassen ist, herrscht letztlich keine vollständige Einigkeit. Man könnte die Auffassung vertreten, Wissenschaftstheorie sei das, was ausgewiesene Wissenschaftstheoretiker als wissenschaftstheoretische Tätigkeit bezeichnen. Bei aller unterschiedlicher Interpretation dessen, was Wissenschaftstheorie sei, gibt es dennoch ganz bestimmte Merkmale, die sicher von allen Wissenschaftstheoretikern als Aufgabe wissenschaftstheoretischer Forschung angesehen werden. Wolfgang Stegmüller, der Vater der deutschen Wissenschaftstheorie, formulierte diese Aufgaben und Ziele der Wissenschaftstheorie in seinem Hauptwerk „Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie“ wie folgt: In einer ersten Annäherung betrachtet Stegmüller die Wissenschaftstheorie als Metatheorie der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis.

Gegenstand solcher metatheoretischer Analysen und Kritiken sind nach Stegmüller auch nichtmathematische, insbesondere die empirischen Wissenschaften (Stegmüller 1972, S. 2). Wissenschaftstheorie kann nach Stegmüller auch charakterisiert werden „als Metatheorie der einzelwissenschaftlichen Erkenntnis sowie des rationalen Handelns“ (Stegmüller 1972, S. 3). Heutige wissenschaftstheoretische Analysen können nach Stegmüller z.B. ergeben, dass empirische Untersuchungen der Einzelwissenschaften teilweise oder ganz einen „unwissenschaftlichen“ oder „pseudowissenschaftlichen“ Charakter haben (Stegmüller 1972, S. 5). Ein weiteres Untersuchungsgebiet der Wissenschaftstheorie ist nach Stegmüller die Untersuchung der Frage, ob wissenschaftliche Behauptungen durch rationale Argumente gestützt werden (Stegmüller 1972, S. 6). Wissenschaftstheoretische Untersuchungen schließen ein „die begriffliche Durchdringung und Präzisierung des Begriffs- und Satzgerüstes von Theorien, der in Theorien enthaltenen logisch- mathematischen Strukturen, der Methoden wissenschaftlicher Überprüfung und der Anwendungskriterien von Theorien. Um Untersuchungen von dieser Art anstellen zu können, muß sich der Wissenschaftstheoretiker an vorhandene Wissenschaften wenden“ (Stegmüller 1972, S. 8). „Wenn z.B. einem Wissenschaftler nachgewiesen wird, daß er in seiner Theorie einige Begriffe zirkulär definiert oder daß seine Definitionen nicht ausnahmslos dem Prinzip der Eliminierbarkeit und der Nichtkreativität genügen, so kommt dies dem Vorwurf gleich, mit einem unsauberen Begriffssystem zu arbeiten und (oder) in irreführender Weise empirische Annahmen und Lehrsätze einerseits mit der Einführung neuer Ausdrücke andererseits zu vermengen“ (Stegmüller 1972, S. 11). Wissenschaftstheoretische Untersuchungen hätten u.a. die Aufgabe nachzuweisen, ob einzelwissenschaftliche Bedeutungen oder Begründungen dem von diesen Wissenschaftlern erhobenen Erkenntnisanspruch genügen (Stegmüller 1972, S. 11).

Wissenschaftstheoretische Betrachtungen haben auch die Aufgabe, „empirisch nachprüfbare Systeme von Aussagen von solchen unterscheiden zu lernen, die durch den Einbau von Immunisierungsstrategien der empirischen Kontrolle entzogen und damit zu wissenschaftlich wertlosen Theorien gemacht werden“ (Stegmüller 1972, S. 13). Stegmüller fasst die Aufgaben der Wissenschaftstheorie wie folgt zusammen: „Wissenschaftstheorie als Metatheorie der Einzelwissenschaften hat Sätze, Systeme von Aussagen und von Begriffen, linguistische Gebilde einer Objektsprache und deren semantische Entsprechungen, Argumentations- und Begründungsweisen zum Gegenstand“ (Stegmüller 1972, S. 15). Weiterhin schreibt Stegmüller, dass die Wissenschaftskritik nur soweit zur Wissenschaftstheorie zu rechnen sei, als sie die Kritik der von Wissenschaftlern benützten Begriffe und angenommenen Theorien zum Inhalt hat (Stegmüller 1972, S. 20).

Gegenstand des der Einleitung folgenden Kapitels ist die wissenschaftstheoretische Präzisierung des Ursachenbegriffs, dass allgemeine theoretische Überlegungen zum Begriff der Ursache enthält. Im dritten Kapitel wird auf die Begrifflichkeit und die unterschiedlichen Definitionsansätze der Lese- Rechtschreibstörung eingegangen. Im vierten Kapitel wird der Zusammenhang von Intelligenz und der Lese- Rechtschreibschwäche diskutiert und der phänomenologische Definitionsansatz der Lese- Rechtschreibschwäche genauer behandelt. Weiterhin erfolgt in Kapitel vier eine sachlogische Überlegung zu den legastheniespezifischen Fehlern als Diagnosekriterium bei lerntheoretischen Legastheniekonzepten. In Kapitel fünf werden Annahmen zur phonologischen Bewusstheit sowie eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung zum Konzept der phonologischen Bewusstheit als Ursache der Lese- Rechtschreibstörung in traditionellen Legasthenieprogrammen vorgestellt und besprochen. In Kapitel sechs wird auf die kognitiven Sprachverarbeitungsmodelle eingegangen und werden sachlogische Überlegungen zu den visuellen Sprachverarbeitungsmodellen von Morton und Coltheart angestellt. In Kapitel sieben erfolgt eine Gegenüberstellung von lerntheoretischen und neurobiologischen Konzepten. Des Weiteren wird auf die Untersuchungen zur Benenngeschwindigkeit von Denckla und Rudel eingegangen und werden die Methoden der Benenngeschwindigkeit vorgestellt. In Kapitel acht wird das Lese- Rechtschreibprogramm von Kossow beschrieben und unter verschiedenen, u.a. linguistischen, psycholinguistischen und wissenschaftstheoretischen Aspekten beleuchtet und untersucht. Kapitel neun setzt sich mit alternativen Therapieansätzen auseinander. Kapitel zehn stellt die neurobiologischen Grundlagen des Sehens vor und bespricht anhand einiger Beispiele die gestörten Augenbewegungen von Legasthenikern. In Kapitel elf wird genauer auf alternative, in diesem Fall das neurobiologisch begründete Trainingsprogramm celeco - RICHTIG LESEN LERNEN, eingegangen. In Kapitel zwölf werden nochmals die Unterschiede von herkömmlichen und alternativen Therapieansätzen diskutiert. Im dreizehnten Kapitel wird die Zeitverarbeitung unter lerntheoretischen und phonetischen Gesichtspunkten behandelt.

2. Wissenschaftstheoretische Präzisierung des Ursachenbegriffs

2.1. Theoretische Vorüberlegung zum Ursachenbegriff

Da die neurobiologische Betrachtung der Lese- Rechtschreibstörung ein Ursachennetzwerk von Störungen voraussetzt, muss logischerweise von einer Kette notwendiger und hinreichender Bedingungen von Leistungsdefiziten ausgegangen werden. Wenn man also annimmt, dass für ein Ereignis b (LRS) ein anderes Ereignis a ( (1) notwendige oder (2) hinreichende oder (3) notwendige und hinreichende Bedingungen) die Ursache für b ist, lassen sich drei Fälle von diesem Gedanken ableiten (Werth 1988, S. 71-77).

1., a für b notwendig, aber nicht hinreichend oder
2., a hinreichend, aber nicht notwenig für b und
3., a ist notwendig und hinreichend für b

Eine Bedingung kann auch notwendig oder hinreichend dafür sein, dass eine andere Bedingung hinreichend für das Auftreten einer Lesestörung ist. So können z.B. zu kurze Fixationszeiten (< 300 ms) hinreichend dafür sein, dass gehäuft Lesefehler auftreten. Dass ein Leser überhaupt die Fähigkeit besitzt, den Zusammenhang zwischen Schriftzeichen und Lauten herzustellen, d.h. diesen Zusammenhang richtig erlernt hat, ist aber eine notwendige Bedingung dafür, dass durch zu kurze Fixationszeiten die Zahl der Lesefehler steigt. Dass der Leser Wortsegmente einer bestimmten Länge innerhalb einer Fixationsphase, die mindestens 300 ms dauert, erkennen kann, ist eine hinreichende Bedingung dafür, dass die Zahl der Lesefehler ansteigt, wenn die Fixationsphasen < 300 ms lang sind. Es lassen sich Ketten von Bedingungen finden, derart, dass eine Bedingung notwendig oder hinreichend dafür ist, dass eine andere Bedingung notwendig oder hinreichend dafür ist, dass eine andere Bedingung notwendig oder hinreichend dafür ist… dass eine Lesestörung auftritt (nach Werth 1988, S.75). Da zwischen diesen Bedingungsketten auch Querverbindungen bestehen können, ergeben sich Bedingungsnetze (Werth 1988, S. 76 und Abb.: 1.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.: 1. Werth, R. 2003, S. 127-128. Legasthenie und andere Lesestörungen

2.1.1. Ausformulierung der Theorie am Beispiel der Lese- Rechtschreibschwäche

Wenn bei einem Kind sowohl eine Lese- Rechtschreibschwäche als auch ein Wahrnehmungsdefizit festgestellt wird, reicht es nicht aus, zu sagen, die Ursache für die Lese- Rechtschreibschwäche des Kindes ist z.B. ein Wahrnehmungsdefizit. Zwischen einem Wahrnehmungsdefizit und einer Lese- Rechtschreibschwäche muss, sofern nicht eindeutig nachweisbar, kein ursächlicher Zusammenhang bestehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Lese- Rechtschreibschwache keine Wahrnehmungsauffälligkeiten zeigen. Es bedeutet aber auch nicht, dass jedes Wahrnehmungsdefizit automatisch zu einer Lese-Rechtschreibschwäche führt. Auch das offensichtliche Nichtvorhandensein eines Wahrnehmungsdefizits, z.B. im visuellen Bereich, bedeutet nicht, dass kein Wahrnehmungsdefizit in diesem Bereich vorhanden ist, nur weil es oberflächlich betrachtet nicht erkennbar ist.

Es mag auch durchaus vorkommen, dass eine Lese- Rechtschreibschwäche ohne offensichtliches Wahrnehmungsdefizit auftreten kann. Meist handelt es sich dann um eine erworbene Lese- Rechtschreibschwäche. Es ist aber grundsätzlich falsch bei der erworbenen oder entwicklungsbedingten Lese- Rechtschreibschwäche davon auszugehen, dass soziale Faktoren, wie z.B. schlechte Erfahrungen, zwar die kognitiven Leistungen beeinflussen, aber nicht die dafür zuständigen neuronalen Netzwerke. Kognitive Leistungen wie das Lesen sind auch motivationsabhängig, wenn z.B. das Lesen in einem Kind unangenehme Empfindungen wachruft, wird das Kind versuchen, diese negative Erfahrung zu vermeiden. Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass sich diese Faktoren in biologischen und neurobiologischen Abläufen niederschlagen und die Hirnfunktion beim Lesevorgang oder anderen kognitiven Leistungen beeinträchtigen. „Die gelegentlich noch vertretene Auffassung, Erfahrung, Empfinden, Denken und manch andere kognitiven Leistungen seien von Hirnfunktionen unabhängig, kann als überholt betrachtet werden. Das gilt auch für das Verständnis von Lesestörungen“ (Werth 2003, S. 137)

2.1.2. Notwendige und hinreichende Bedingungen

Geht man von einer ursächlichen oder psychobiologisch bedingten Lese- Rechtschreibschwäche aus, muss zusätzlich untersucht werden, welche „Kette“ von hinreichenden und notwendigen Bedingungen erfüllt sein muss um eine Lese-Rechtschreibschwäche zu bedingen. Bei den herkömmlichen, d.h. lerntheoretischen Therapien, wird zwischen einer Lese- Rechtschreibschwäche und einem Wahrnehmungsdefizit und/oder einem Defizit auf der kognitiven Ebene ein ursächlicher Zusammenhang vermutet und ganz außer Acht gelassen, dass ein Wahrnehmungsdefizit auch nur eine untergeordnete Rolle spielen kann, nämlich dann, wenn ein Wahrnehmungsdefizit oder ein Defizit auf der kognitiven Ebene lediglich eine Begleiterscheinung bzw. ein Begleitsymptom ist.

2.1.2.1. Wissenschaftstheoretische Voraussetzung für Bedingungsnetze

Bereits die Frage nach der Ursache ist aus wissenschaftstheoretischer Sicht problembehaftet. „Allein die umfangreichen wissenschaftstheoretischen Versuche, den Begriff der Ursache logisch präzise zu fassen, zeigen, dass diese Begriffe keineswegs unproblematisch sind“ (Werth 2003, S.127). Oft wird auch die Ursache einer Lese- Rechtschreibschwäche mit einem ihrer Begleitsymptome und somit mit einem Element aus dem Bedingungsnetz der Lese- Rechtschreibschwäche verwechselt. Dabei wird oft fälschlicherweise davon ausgegangen, dass zwei gleichzeitig auftretende Merkmale oder Leistungsdefizite wie eine Lese- Rechtschreibschwäche und z.B. ein sogenanntes Defizit der phonologischen Bewusstheit (auf die Problematik dieses Begriffs wird in Kapitel fünf noch einmal eingegangen) sich auch ursächlich bedingen müssen, ohne dass dieser Zusammenhang nachgewiesen ist und ohne dass diese beiden Merkmale Bedingungen für das Auftreten von Lese- und Rechtschreibstörungen sind.

Traditionelle Diagnosen basieren sehr oft auf einer vermuteten Kausalität zwischen einem Begleitsymptom (z.B. defizitärer phonologischer Bewusstheit) und dem eigentlichen Ereignis b (in diesem Fall der Lese- und Rechtschreibschwäche) und sehen das Begleitsymptom als Verursacherprinzip, als die Ursache für Ereignis b an. Das Begleitsymptom wird hier fälschlicherweise zum Ereignis a ( (1) notwendige oder (2) hinreichende oder (3) notwendige und hinreichende Bedingungen) erhoben. Wenn z.B. bei einem Kind eine so genannte Differenzierungsschwäche vorhanden ist, kann dies ausreichend für eine ie-ei-Verwechslung (Ereignis b) sein, muss es aber nicht. Genauso gut kann die ie-ei-Verwechslung auf den Metakontrast zurückzuführen sein (Kap. 4.2.3.). Wenn dies der Fall ist, so ist nicht die Differenzierungsschwäche, sondern der Metakontrast eine hinreichende Bedingung dafür, dass dablieben statt dableiben gelesen wird. Die Differenzierungsschwäche ist in diesem Beispiel also nicht Ereignis a, das Ereignis b ursächlich bedingt, sondern ein Begleitsymptom. Erst der Metakontrast, als hinreichende Bedingung für Ereignis b, kann als Ereignis a bezeichnet werden. Die Differenzierungsschwäche darf hier also nicht mit einem Element aus dem Bedingungsnetz bzw. der Kette von hinreichenden und notwendigen Bedingungen für die ie-ei-Verwechslung (Ereignis b) gleichgesetzt werden. Neben den hinreichenden Bedingungen gibt es aber auch notwendige Bedingungen. Als notwendige Bedingungen sind diejenigen Bedingungen zu bezeichnen, die eine Grundvoraussetzung sind, ohne die das Lesen nicht möglich wäre. Eine solche notwendige Bedingung ist z.B. das Erlernen von Buchstaben oder die Graphem-Phonem-Zuordnungsfähigkeit, die nicht mit der phonologischen Bewusstheit verwechselt werden darf (s.a. Kap. fünf). Weitere notwendige Bedingungen sind z.B. auch eine ausreichende Sehschärfe oder dass „der Text für ein bestimmtes Zeitintervall auf einem Ort der Netzhaut abgebildet wird“ (Werth 2003, S.128). Aber notwendige Bedingungen allein sind nicht ausreichend um lesen zu können. „Notwendige Bedingungen sind noch keine hinreichenden Bedingungen. Umgekehrt sind die hinreichenden Bedingungen nicht zugleich auch notwendige Bedingungen“ (Werth 2003, S. 128). Ein Beispiel: Es besteht gleichzeitig eine Lese- Rechtschreibschwäche und eine so genannte verminderte phonologische Bewusstheit. Ein Defizit der phonologischen Bewusstheit kann durchaus eine hinreichende Bedingung dafür sein, das z.B. die Buchstaben d und p oder b und p vertauscht werden. Das Defizit der phonologischen Bewusstheit ist aber nicht auch gleichzeitig eine notwendige Bedingung (d.h. unverzichtbare Voraussetzung) dafür, dass d, p und b ständig vertauscht werden (müssen). Die Ursache für diese Verwechslung kann durch andere hinreichende Bedingungen als die mangelnde phonologische Bewusstheit, wie z.B. die verlangsamte Benenngeschwindigkeit hervorgerufen werden (Kap. 7.2.3.). Die Symptomatik beider Schwächen, also das Nichtzuordnen-können von Lauten zu den jeweiligen Buchstaben, ist aber gleich, deshalb genügt es nicht, die Buchstaben-Lautzuordnung zu üben, sondern es ist auch zu überprüfen, ob das Kind etwa ein „langsamer Benenner” ist und deshalb in der Phonemabrufzeit und nicht in der Buchstaben-Lautzuordnung trainiert werden sollte. Das setzt natürlich zum einen eine ursachenspezifische Diagnose und zum anderen eine ursachenspezifische Therapie voraus. Das bedeutet auch, sich im Klaren darüber zu sein, dass die Leseleistung aus neurobiologischer Sicht nicht nur darauf basieren kann, dass alle Teilleistungen für sich genommen richtig arbeiten, sondern auch, dass alle diese Teilleistungen richtig miteinander funktionieren.

Es ist daher sinnvoller, erst dann eine Diagnose zu stellen, nachdem man untersucht hat, welche notwendigen und/oder hinreichenden Bedingungen für altersgerechtes Lesen nicht erfüllt sind. D.h. aber auch, dass für jedes einzelne Kind die jeweilige passende Kette von hinreichenden und notwendigen Bedingungen im möglichen Bedingungsnetz gefunden und realisiert werden muss. Eine solche Therapie fragt nicht nach der Ursache für die Verbesserung der Lese- Rechtschreibstörung, sondern danach „welche der im möglichen Bedingungsnetz für die Besserung der Lese- Rechtschreibschwäche angegebenen möglichen (d.h. notwendigen und hinreichenden) Verbindungen (...) in diesem konkreten Fall realisiert (ist)“ (Werth 1988, S.73-74). Eine solche detailgenaue Diagnose kann aber nicht durch eine routinemäßige Untersuchung beim Psychologen zustande kommen, sondern muss mit speziellen Verfahren erstellt werden.

3. Begrifflichkeit der Lese-Rechtschreibschwäche

Die entwicklungsbedingte, nicht die durch Hirnschädigung erworbene Lese- Rechtschreibschwäche ist in den Krankheitskatalog psychischer Störungen der ICD-10 der WHO aufgenommen worden. Nach international anerkanntem psychiatrischem Klassifikationsschema gehört die Lese- Rechtschreibstörung zur Klasse der umschriebenen Entwicklungs- oder Teilleistungsstörungen und wird daher als umschriebene Lese- und Rechtschreibstörung bezeichnet. Hauptmerkmal einer Lese- und Rechtschreibstörung bzw. -schwäche (LRS) ist nach der Definition der WHO und der ICD-10 eine auffällige Schwierigkeit beim Erwerb der Lese- und Rechtschreibfähigkeit, die unabhängig von Deprivation, unzureichender Beschulung oder neurologischen Störungen besteht.

3.1. Versuch einer Definition

Problematisch bei der Lese- Rechtschreibschwäche ist, dass es keine exakte Definition für die Schwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache gibt. Es gibt eine Reihe unterschiedlicher definitorischer Ansätze, die bedingt durch die Ursachenannahme und deren unterschiedlichen Erklärungsversuchen der verschiedenen Berufsgruppen (medizinischer vs. pädagogisch-psychologischer oder linguistischer und linguistischer vs. pädagogisch-psychologischer Ansatz) zustande kommt. Der Begriff der Legasthenie zur Bezeichnung von Lese- Rechtschreibschwierigkeiten wurde bereits 1916 vom Psychiater Ranschburg eingeführt. 1951 verband Lindner den Begriff Legasthenie mit dem der Intelligenz, um so Kinder mit durchschnittlicher bis guter Intelligenz von lernbehinderten Kindern mit allgemeinen Lernschwierigkeiten abzugrenzen. „Unter Legasthenie verstehen wir eine spezielle und aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (...) bei sonst (...) relativ guter Intelligenz“ (Lindner 1951, S. 18). Neben den Begriffen der Lese- und Rechtschreibschwierigkeit, Dyslexie oder Legasthenie wird die Lese- Rechtschreibschwäche auch als umschriebene Lese- und Rechtschreibstörung bezeichnet um das definitionsbedingte Diskrepanzkriterium des IDC-10 zu erfüllen. Diese Unterscheidung durch das Diskrepanzkriterium ist trotz aller Kritik bis heute gültig und wurde auch von der neueren Literatur übernommen. Es wird zwischen normalintelligenten Legasthenikern und weniger intelligenten LRS-Kindern unterschieden, die mit den Begriffen „diskrepante“ und „nicht- diskrepante“ Lese- und Rechtschreibschwache umschrieben werden (Klicpera 1993, S. 159). Es ist auffallend, dass in der Literatur der Legasthenieforschung eine große Diskussionsbereitschaft im Hinblick auf die Terminologie der Lese- Rechtschreibschwäche vorherrscht, die die unterschiedlichen Ansätze zu den Lehrmethoden des Lesens und Schreibens und den daraus resultierenden Therapieverfahren ausgiebig diskutiert, ohne jedoch zu einem Konsens in den eben erwähnten Punkten zu gelangen. Diese terminologische Unsicherheit ist auch als Indiz für die diagnostische Schwierigkeit der Lese- Rechtschreibstörung zu werten. Sehr oft wird auch nur von einer Lese- und Rechtschreibschwäche- oder -störung, kurz LRS, gesprochen, obwohl es sich in erster Linie nicht um eine Lese- und Schreibschwäche- bzw. -störung, sondern um eine „Leselernschwäche“ und eine Schwäche im Erlernen des orthographisch richtigen Schreibens in der dafür vorgesehenen Zeit handelt. Die gestörte Rechtschreibentwicklung setzt sich wie die Lesestörung ebenfalls aus heterogenen Störungsbildern zusammen, die genau wie bei der Lesestörung einer Polyätiologie entspricht. In der Praxis treten beide Störungen häufig gemeinsam auf. Sie können aber auch unabhängig voneinander als deutlich beeinträchtigte Lesefähigkeit (Lese- und Rechtschreibstörung mit oder ohne Rechtschreibstörung) oder in einer deutlichen Störung der Rechtschreibentwicklung (isolierte Rechtschreibstörung) vorkommen. Das „zeigt, dass sie nicht gleichzusetzen sind und zumindest nicht in jedem Fall auf gleiche Weise bedingt sein müssen“ (Werth 2003, S.125). In neueren Quellen bezieht man sich auf die Lese- Rechtschreibschwäche- oder -störung (vormals Legasthenie), wenn von einem somatogenen, d.h. legasthenieverursachenden Faktor oder Defekt ausgegangen wird, in Abgrenzung zur Lese- Rechtschreibschwierigkeit, bei der eher psychogene Faktoren als lediglich legastheniebegünstigend vermutet und meist auf nicht-diskrepante LRS-Kinder bezogen werden. Alle diese Begriffe sind Sammelbegriffe, die sowohl in der Symptomatik als auch in ihrer Ursache stark von einander abweichende Formen einer Störung in der Aneignung der Schriftsprache bezeichnen. „In der neueren Literatur (...) wird hervorgehoben, dass die Kinder, welche mit Leseschwierigkeiten zu kämpfen haben, keine einheitliche Gruppe bilden, dass im Gegenteil die Lese- und Buchstabierfähigkeit Symptom ganz verschiedener Syndrome sein kann. Je mehr (...) man die mit Leseschwierigkeiten behafteten Kindern erforscht, umso ersichtlicher wird die Verschiedenheit von Typen, Ursachen und Formen“ (Schenk-Danzinger 1968, S. 11). Entscheidend ist, dass die unterschiedlichen Begriffe nicht zur Differenzierung dieses Phänomens dienen, sondern lediglich zur Verwirrung beitragen, da die Begriffe in der Literatur nicht exakt festgelegt wurden und von verschiedenen Autoren manchmal synonym, manchmal auch bedeutungsunterscheidend verwendet werden. Wie bereits erwähnt wurde, ist diese Art der wissenschaftlichen Tätigkeit nach Stegmüller als unwissenschaftlich zu bezeichnen, da die wichtigsten, d.h. die formalen Bedingungen der Wissenschaftlichkeit nicht erfüllt sind: „die erste unerläßliche Voraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens ist das Bemühen um sprachliche Klarheit“ (Stegmüller 1972, S. 5). Es sollte daher immer gegenwärtig sein, dass die wissenschaftstheoretische Begriffsbildung lediglich besagt, dass ein Begriff wie z.B. Legasthenie, nur ein wissenschaftliches Konstrukt ist, also eine Bezeichnung für etwas, was man meint, sinnvoll beschreiben zu müssen (nach Chalmers 2001). Erwähnenswert ist, dass mit keinem dieser Begriffe das in der Praxis häufig vorkommende Lesen als Rekodierfähigkeit, d.h. schlechtes Leseverständnis, bei flüssigen Lesern (vgl. Pisa) impliziert werden kann, da die Theorien der Legasthenieforschung eher dazu tendieren, symptomorientiert zu arbeiten. Der Einfachheit halber wird in dieser Arbeit der Begriff LRS verwendet, der sich auf alle Arten einer Lese- und Rechtschreibstörung bezieht; wo unterschieden werden muss, werden die Begriff „diskrepant“ bzw. „nicht-diskrepant“ verwendet.

3.1.1. Ursachenannahme und Ätiologie der Lese-Rechtschreibschwäche

Die Unterscheidung von diskrepanten Lese- Rechtschreibschwachen (so genannten intelligenten Legasthenikern) und nicht-diskrepanten Lese- Rechtschreibschwachen (d.h. weniger intelligenten LRS-Kindern) trägt dazu bei, eine ätiologisch andere Ursache der Lese- und Rechtschreibstörung zu vermuten. Die am weitesten verbreitete Annahme ist, über die Qualität der Fehler auf unterschiedliche Defizite und somit Ursachen bei der LRS von diskrepanten und nicht-diskrepanten Kindern schließen zu können, die nach bisherigem Forschungsstand jedoch nicht belegt werden konnte (Valtin 1981, S.88-182, Jung 1981, S. 1-87, Klicpera & Gasteiger-Klicpera 1993, S. 163). Vergleichende Untersuchungen könnten auch eine große Übereinstimmung in den Symptomen „intelligenter“ und „weniger intelligenter“ Lese- Rechtschreibschwacher (Seidenberg et al. 1985, S. 161-180) ermitteln. „Selbst die Häufigkeit von Reversionsfehlern, die von vielen Lehrern und Laien als untrügliches Zeichen für eine Legasthenie angesehen wird, diskriminiert die Gruppen nicht” (Scheerer-Neumann 1996, Kap. 2.2). Die wohl bekannteste Ursachenannahme bei diskrepanten Lese-Rechtschreibschwachen ist die angeblich mangelnde Entwicklung der Hemisphärendominanz. 1925 entwickelte Orton seine Theorie zur Hemisphärenkonkurrenz, die sowohl ausführlich bei Schenk-Danzinger (1963 Kap. 2.) als auch bei Legasthenieautor Kossow und vielen Lerntheoretikern großen Anklang fand. „Wir messen der frühkindlichen Hirnschädigung ätiologisch eine hohe Bedeutung bei (...), indem wir bei 60% der LRS-Fälle eine frühkindliche Hirnschädigung, bei 40% ein familiäres Auftreten fanden“ (Kossow 1971, S. 16). Obwohl Scheerer-Neumann [(„Die Defizite beziehen sich auf die Speicherelemente des Rechtschreibprozesses“ (1988, S. 33)] bereits nicht mehr von einem medizinischen Krankheitsmodell wie Schenk-Danzinger [„Legastheniker speichern eben schwächer“ (1963, S.110)] oder „Die (...) Schwäche des Speicherungssystems der sogenannten Legastheniker ist anlagebedingt (Hallgren 1950, Spiel 1953, Weinschenk 1962 in: Schubenz & Buchwald 1964, S. 157)“ ausgeht, sehen beide eine Ursache der LRS auf Grund von Speicherschwäche bestätigt.

Psycholinguisten wie Pinker (1998), Pléh (2003, S. 377-283) oder Grissemann (1980,1984,1986,1996) vertreten die Annahme eines Defizits in der Sprachentwicklung als Ursache der Lese- Rechtschreibschwäche und sehen keinen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Lese- Rechtschreibschwäche, da sie von einer intelligenz- unabhängigen Sprachentwicklung ausgehen. Ein in der Praxis wohl bekanntes Beispiel ist das Williams-Beuren-Syndrom (WB- Syndrom). Spezifisches Merkmal dieser geistigen Behinderung ist ein außergewöhnliches Sprachvermögen. Auffallend ist weiterhin, dass viele als geistig behindert eingestufte Kinder alle ihnen bekannten Wörter lesen und schreiben können, jedoch nicht in der Lage sind, ihnen unbekannte oder sogar kurze Pseudowörter zu lesen (Seymour & Elder 1986, S. 1-36). Dies ist deshalb erwähnenswert, da die Annahme besteht, dass es einen Zusammenhang zwischen gesprochener und geschriebener Sprache gibt. Forscher wie Schubenz und Buchwald gingen ebenfalls davon aus, dass die „Regelhaftigkeit“ der Fehler, wie z.B. Reversionen, nicht das Indiz eines bestimmten Defizits sei, sondern dass diese typischen Fehler auf eine mangelnde Sprachentwicklung zurückzuführen seien (Schubenz & Buchwald 1964, S. 158). Dies erscheint nachvollziehbar. Beobachtet man Kinder beim Schriftspracherwerb, so fällt auf, dass Kinder nachsprechen, was sie hören, schreiben, was sie sprechen, und auch lesen können, was sie schreiben. Dennoch kann nicht von einer Kausalität zwischen einer Sprachauffälligkeit und der Legasthenie gesprochen werden. In der Praxis finden sich auch Legastheniker ohne Sprachauffälligkeiten und Nicht-Legastheniker mit solchen.

4. Zusammenhang von Intelligenz und Lese- Rechtschreibschwäche

Viele Lehrer und Eltern betrachten die Lese- und Rechtschreibfähigkeit als Gradmesser für die intellektuellen Fähigkeiten ihrer Kinder. Trotzdem wollen sie verständlicherweise normalintelligente von lernbehinderten Kindern unterschieden wissen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch der traditionelle Legastheniebegriff seit den 50er Jahren Legastheniker als eine qualitativ andere Gruppe als LRS-Kindern betrachtet und beide Gruppen mittels Intelligenzniveau voneinander abgrenzt. „Wir sind nun nicht der Meinung, daß man die Schreib-Leseschwäche der ‚Dummen’ vom Syndrom der Legasthenie abtrennen kann, sondern daß ein legasthenisches Syndrom eben bei vielen, unter anderem auch bei leichten Schwachsinnsformen beobachtet werden kann” (Schenk-Danzinger 1968, S. 49). Unklar ist jedoch, mit welcher Methode, welcher Leistung und ab welcher Abweichung vom Durchschnitt noch eine Legasthenie oder bereits eine Lernbehinderung festgestellt werden kann. Die Lese- Rechtschreibschwäche in Abhängigkeit zur kognitiven Begabung eines Kindes zu diagnostizieren, d.h. die LRS über das Diskrepanzkriterium der Intelligenz zu definieren, wird jedoch zunehmend kritisiert. Der Begriff der Legasthenie stellt „Ein psychometrisches Kunstprodukt ohne klare Konturen dar, dessen praktische Brauchbarkeit (...) obendrein erheblich in Frage gestellt wird“ (Zielinski 1998, S.108). Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass eine Lese- Rechtschreibstörung auf allen Intelligenzstufen vorkommen kann.

4.1. Definitionsversuch der Lese- Rechtschreibschwäche unter Rückgriff auf die Intelligenz: Analyse

Bei einer Diagnose auf Basis von Einschlusskriterien wird nach den Leitlinien des ICD-10 die Lesefähigkeit anhand standardisierter Testverfahren dahingehend geprüft, ob die Leistungen des Kindes unter dem Niveau liegen, das aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Beschulung zu erwarten wäre (Dilling 1994). In diesem Fall bezeichnet der Begriff „Legastheniker“ in erster Linie nicht einen beliebigen Personenkreis mit dem Syndrom der eingeschränkten Fähigkeit des Erlernens der Schriftsprache, sondern nach ICD-10 einen bestimmten Personenkreis, in dem erwiesenermaßen keine psychosozialen und/oder soziokulturell und/oder neurologisch begründeten Ursachen für eine Legasthenie angeführt werden können und gleichzeitig das doppelte Diskrepanzkriterium zum Tragen kommt: „1. Diskrepanz: das Niveau im Lesen und in der Rechtschreibung ist mangelhaft oder ungenügend im Vergleich altersgleicher Schulpopulation; 2. Diskrepanz: das Niveau im Lesen und in der Rechtschreibung ist wesentlich niedriger als das gemessene Intelligenzniveau” (Warnke 2004, S. 2). Die angewandten Lese-, Rechtschreib- und Intelligenztests sollen feststellen, welche Lese- und Rechtschreibfähigkeit ein Kind seinem Alter und seiner Intelligenz entsprechend normalerweise im Stande sein müsste zu erbringen. Ein Kind wird dann als legasthen bezeichnet, wenn sich seine Leseleistung „erwartungswidrig” verhält und sich im Bezug auf seine Altersnorm signifikant von seinem Intelligenzniveau unterscheidet. Die Forschungsleitlinien des ICD-10 fordern, dass die Lese- und Rechtschreibleistung mindestens zwei Standardabweichungen unter dem Durchschnitt der Altersgruppe und der durch die Intelligenz vorhergesagten Leistungen liegen soll (Donczik 1998, Dilling et al. 2000).

Dagegen spricht, dass die auf der Basis der Intelligenz und des Alters errechnete Lese- und Rechtschreibfähigkeit ein theoretischer Wert ist und somit nicht repräsentativ sein kann, da 1. die Korrelation zwischen Lese-, Rechtschreib- und Intelligenzleistungen gerade mal mittelmäßig ist. Im IGLU

(Internationale Grundschul-Leseuntersuchung) korrelierte der Intelligenztest mit der Lesekompetenz zu r = 50, mit der Rechtschreibleistung zu r = 39. Von einer „erwartungswidrigen“ Lernstörung kann gar nicht die Rede sein, vielmehr ist das Gegenteil der Fall (Bos 2003); 2. können Messfehlerschwankungen und unterschiedliche Intelligenztests bei unterschiedlichen Kindern zu gegensätzlichen Ergebnissen hinsichtlich der Diagnose Legasthenie führen (Valtin 1981). „Die Kritik an der unterschiedlichen Behandlung der beiden Gruppen war umso berechtigter, als die Diagnose „Legasthenie” auf lediglich zwei Testwerten (aus einem Intelligenztest und einem Rechtschreibtest) beruhte, die, wie alle Testwerte, stark von dem konkret ausgewählten Test abhängen und mit Fehlern belastet sind” (Scheerer-Neumann 1996, Kap. 2.2). Einem Zusammenhang zwischen IQ und einer Lese- und Rechtschreibstörung wurde u.a. auch von Tallal 1980, S.182-198, Siegel 1988, S. 201-215, Schulte- Körne & Deimel & Remschmidt, 1997, S. 210-217 widersprochen. Bei der Betrachtung von Intelligenztests, z.B. dem Zahlensymboltest aus dem Hamburger-Wechsler-Intelligenztest (HAWIE), fällt auf, dass komplexe Fähigkeiten, die sich aus mehreren Einzelleistungen wie Wahrnehmungsleistungen, visuelle Exploration und Kurzzeitgedächtnis zusammensetzen, geprüft werden. Jede dieser Einzelleistungen kann gestört sein, so dass ein schlechtes Abschneiden im Test gerechtfertigt scheint. Nicht gerechtfertigt ist jedoch die Annahme, dass die mangelnden kognitiven Fähigkeiten die Ursache für eine Lese- Rechtschreibstörung sind. Es muss auch in Betracht gezogen werden, dass lediglich eine einzige Leistung, z.B. ein Defizit in der visuellen Exploration, eine Lese- Rechtschreibstörung verursachen kann. Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass eine gestörte Einzelleistung eine Lese- Rechtschreibschwäche bedingen kann, unabhängig davon, ob das Kind nun als lernbehindert bzw. als LRS-Kind oder als intelligenter Legastheniker eingestuft wurde (nach Werth 2003, S. 133). „Die Diagnose einer Legasthenie dadurch zu begründen, dass neben der Ursache für die Lesestörung noch andere Leistungseinbußen bestehen, die von der Lesestörung unabhängig sind, ist eine willkürliche Einteilung“ (Werth 2003, S. 135).

4.1.1. Kritische Betrachtung der „ diskrepanten “ Lese-Rechtschreibschwäche: Analyse

„Die Forschung bietet kaum Befunde, die die Unterscheidung zwischen den beiden Gruppen rechtfertigen könnte, obwohl viele Forscher auch weiterhin mit der Diskrepanzdefinition arbeiten. Wie bereits erwähnt, verliert die unerwartete Diskrepanz zwischen der Lese- und Rechtschreibleistung auf der einen und der Intelligenz auf der anderen Seite schon durch die in der Regel nur mittelhohe Korrelation zwischen beiden Variablen an Bedeutung (Pfeiffer & Zielinski 1975). Die Klassifikation der Kinder ist nicht nur abhängig von den verwendeten Tests, sondern auch sehr instabil über die Zeit: Nur etwa ein Viertel der von Share & Silva (1986) untersuchten Kinder wurde sowohl im Alter von 7 als auch mit 9 Jahren der gleichen diagnostischen Kategorie zugeordnet“ (Scheerer-Neumann 1996, Kap. 2.2).

Außerdem verändern sich die Lese- Rechtschreibleistungen des Kindes während des Erwerbsprozesses kontinuierlich. Manche Kinder bleiben länger auf einer Entwicklungsstufe der Rechtschreibung stehen, während wiederum andere Kinder bestimmte Entwicklungsstufen im Rechtschreibprozess schneller durchlaufen. Auch die Kinder, bei denen eine Verzögerung auf einer bestimmten Stufe offensichtlich ist, können auf einer anderen Stufe ohne Probleme vorankommen. Auch dann, wenn es sich bei der Verzögerung um einen längeren Zeitraum handelt. Die längere Verweildauer auf einer Stufe muss nicht zwangsläufig als Legasthenie bezeichnet werden oder zu dieser führen, da es sich beim Lesen- und Schreibenlernen ja um einen Entwicklungsprozess handelt, der individuell ausfällt. Dies ist auch bei dem unterschiedlichen Leistungsgefälle von Jungen und Mädchen recht gut erkennbar. Viele Jungen haben Ende der 2. Klasse immer noch nicht die Rechtschreibfähigkeit, die Mädchen am Anfang der 2. Klasse aufweisen konnten, erlangt. Trotzdem gibt es Jungen, die in der gleichen Zeitspanne wie die Mädchen deren Entwicklungsstufe erreichen, und Mädchen, die in derselben Zeit nur die Entwicklungsstufe der Jungen erreichen und weit hinter ihren AltersgenossInnen zurückbleiben (Thomé 2004) . In beiden Fällen passen sich trotz einer gewissen Entwicklungsverzögerung die Leistungen nach einer gewissen Zeit wieder aneinander an. Solange der Prozess des Schriftspracherwerbs noch nicht vollständig abgeschlossen ist, bleibt es also fraglich, ob überhaupt eine gültige Norm für die Rechtschreibleistung bestimmt werden kann. Die Rechtschreibleistung eines Kindes lässt sich noch am ehesten am Klassendurchschnitt messen. Doch auch diese Norm kann schwerlich objektiviert werden, da in einer durchschnittlich schlechten Klasse eine mangelhafte Rechtschreibleistung anders ausfällt als in einer durchschnittlich guten Klasse. Aber auch der Klassendurchschnitt ist keine objektive Größe, da sich zumindest in Deutschland nach der vierten Klasse auch die Schultypen unterscheiden. Eine in der 5. Klasse Hauptschule als durchschnittlich gut bewertete Lese- Rechtschreibleistung wird in der 5. Klasse Gymnasium aller Wahrscheinlichkeit nach als unterdurchschnittlich bewertet. Hierbei sollte noch bedacht werden, dass herkömmliche Lese- und Rechtschreibtests nicht repräsentativ sein können, da sie nach Alters- oder Klassenstufen genormt sind und die unterschiedliche Leistungsspanne der Schultypen nicht berücksichtigt wurde. Genau dieser Punkt ist aber für die Bewertung eines Testergebnisses äußerst wichtig, da sich sogar im selben Schultyp die verschiedenen Klassen der gleichen Klassenstufe unterscheiden. Deswegen konnte bisher definitorisch auch nicht festgelegt werden, ab wann eine Leistung bei Kindern, die sich ja noch im Entwicklungsprozess der Schriftsprache befinden, als lediglich verzögert oder bereits mangelhaft bezeichnet werden kann. Der Leistungsbegriff kann keine objektive Größe bezeichnen, sondern steht immer nur im Vergleich zum Durchschnitt, ist also relativ. Deutschlandspezifisch muss auch der Umstand der neuen Rechtschreibreform berücksichtigt werden. Mangelnde Kenntnis des neuen Regelwerks führt trotz einwandfreier Rechtschreibkompetenz in der alten Regelung zu sehr schlechten Ergebnissen, zumindest bei einem Rechtschreibtest, der nach der neuen Rechtschreibung erstellt wurde. Das macht deutlich, dass sogar das orthographische Regelwerk keine objektive Größe ist, sondern durch äußere Faktoren beeinflussbar und damit stark veränderbar ist. Diese Art der Testung ist unrealistisch, zeigt jedoch, wie sehr eine Lese-, Rechtschreib- und Intelligenzleistung oder -fähigkeit von äußeren Kriterien abhängig und dementsprechend interpretierbar ist. Die Rechtschreibkompetenz darf also nicht grundsätzlich mit der Schreibkompetenz gleichgesetzt werden, im großen Unterschied zum Lesen. Im Gegensatz dazu bedeutet Lesekompetenz immer auch ein informationsverarbeitendes Lesen (und dies ist in den allermeisten Fällen nur mit einem flüssigen Lesestil möglich), da das Erbuchstabieren eines Textes diesen in so kleine Einheiten aufspaltet, dass ein Textverstehen nicht mehr möglich ist. Die Erfassung der Intelligenz durch Tests wird nötig, wenn die Diagnose der Legasthenie nach ICD-10 oder DSM-IV erfolgen soll. Bei lese- rechtschreibschwachen Kindern empfiehlt es sich logischerweise einen non-verbalen Intelligenztest, wie z.B. Grundintelligenztest Skala 1 und 2 (CFT 1, CFT 2) oder Standard (SPM) bzw. Advanced Progressive Matrices (APM), durchzuführen, da die solcher Art ermittelte Intelligenz noch am ehesten als realistisch einzuschätzen ist. Erwähnt werden muss dennoch, dass sowohl herkömmliche Intelligenztests wie der Hamburger-Wechsler-Intelligenztest (HAWIE) als auch sprachfreie Intelligenztests wie CFT1 in ihren Untertests nicht das messen, was gemeinhin als Intelligenz bezeichnet wird. Es werden vielmehr komplexe Fähigkeiten, die sich aus mehreren Einzelleistungen, wie z.B. visu-motorische, visuelle Leistungen und Konzentrations- bzw. Aufmerksamkeitsfähigkeit zusammensetzten, gemessen (nach Werth 2003, S. 132). Demnach ist es problematisch, von einer Kausalität zwischen der Intelligenz schlechthin und der Lese- Rechtschreibfähigkeit auszugehen. Ein anderer Kritikpunkt von Lese-, Rechtschreib- und Intelligenztests liegt bemerkenswerterweise in den Anforderungen der Tests selber. In den letzten hundert Jahren konnte ein Anstieg der Intelligenz anhand der steigenden Anzahl von richtigen Antworten festgestellt werden (z.B. Neisser 1998). Da nun die Legasthenie über das Diskrepanzkriterium definiert wird, müsste logischerweise die Zahl der so genannten Legastheniker kontinuierlich ansteigen, da bei gleichbleibender schriftsprachlicher Leistung die Intelligenz (als Kriterium der Legasthenie) angestiegen ist. Dies ist vermutlich auch der Grund, warum je nach Test die Zahl der Legastheniker zwischen 2-3% und 50-60% variiert (Haffner et al. 1998, S. 127).

Allgemein gilt, dass das Heranziehen des erwerbsunspezifischen Kriteriums der Intelligenz für die Definition einer erworbenen Fähigkeit somit recht willkürlich ist und wiederum nur als diagnostisches Konstrukt verstanden werden kann. Klicpera & Gasteiger-Klicpera (1998, S. 216-217) stellen fest, „dass es derzeit kaum Hinweise dafür gibt, dass das Erscheinungsbild der Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten von der Intelligenz der Kinder abhängt.“ Auch stellt sich die Frage, welche Fähigkeit bei einem Intelligenztest überhaupt gemessen wird, denn „Was als Intelligenz im ‚Intelligenztest’ gemessen wird, ist nicht Intelligenz als Einzelleistung“ (Werth 2003, S.132). Auch Neisser (1996) führt an, wie wenig die Leistungen verstanden werden, die mit herkömmlichen Intelligenztests untersucht werden. Er unterscheidet hierbei sechs Faktoren, die die „Intelligenz“ mitbestimmen und entscheidend beeinflussen können:

„1. Unterschiede in den genetischen Anlagen tragen erheblich zu individuellen Unterschieden in (gemessener Test-)Intelligenz bei. Aber wir wissen noch nicht, auf welchen Wegen dies geschieht. Das statistische Gewicht genetischer Unterschiede nimmt mit dem Alter zu, aber wir wissen nicht, warum.
2. Umweltbedingungen tragen ebenfalls erheblich zur Entwicklung der Intelligenz bei, aber wir verstehen noch nicht, um welche Bedingungen es sich im einzelnen handelt und wie sie wirken. Die Dauer des Schulbesuchs ist sicher wichtig, aber wir wissen noch nicht, welche Aspekte von Schule entscheidend sind.
3. Der Beitrag der Ernährung zur Intelligenz bleibt unklar. Ernste Mängel in der kindlichen Ernährung haben einen eindeutig negativen Einfluss, aber die Annahme, das bestimmte Spurenelemente bei insgesamt zureichend ernährten Personen das Intelligenzniveau beeinflussen könnten, ist bis jetzt nicht überzeugend belegt worden.
4. Es gibt auffallende Zusammenhänge zwischen Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung und in Tests gemessener Intelligenz, aber das Muster der Befunde lässt sich theoretisch nicht einfach erklären.
5. Der Durchschnitt gemessener Intelligenzleistungen nimmt ständig zu -- in den vergangenen 50 Jahren um rund 30 IQ-Punkte, und der Anstieg scheint noch steiler zu werden. Niemand weiß genau, warum dies so ist und was es bedeutet.
6. Der Unterschied zwischen der Durchschnittsintelligenz von Schwarzen und Weißen (rund 15 IQ-Punkte, in letzter Zeit mit abnehmender Tendenz) lässt sich nicht mit Einseitigkeiten in der Konstruktion und Durchführung der Tests erklären, er ist auch nicht einfach auf Unterschiede im sozioökonomischen Status zurückzuführen. Kulturelle Faktoren könnten erklärungskräftig sein, aber es gibt kaum empirische Belege dafür. Mit Sicherheit gibt es keine genetische Erklärung. Zur Zeit kennt niemand die Gründe.
7. Es gibt eine breite Übereinstimmung, dass standardisierte Tests nicht alle Formen der Intelligenz erfassen. Offensichtliche Beispiele sind Kreativität, Weisheit, praktische Geschicklichkeit und soziale Sensibilität, und es gibt sicher weitere. Trotz der Bedeutung dieser Fähigkeiten wissen wir nur wenig über sie: wie sie sich entwickeln, welche Bedingungen ihre Entwicklung bestimmen, und in welcher Beziehung sie zu den traditionellen Maßen stehen“ (Neisser 1996, S. 77-101).

Eine Differenzierung aufgrund von Intelligenztests in intelligente Legastheniker vs. weniger intelligente LRS-Kinder ist daher wenig sinnvoll, aus Prinzip nicht möglich und neueren Untersuchungen zufolge auch nicht nötig (vgl. hierzu Kap. 2.1.3.). Weitere Untersuchungen haben zusätzlich ergeben, dass Legastheniker und LRS-Kinder dieselben Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben aufweisen. Auch empirisch konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen Legasthenikern und LRS-Kindern hinsichtlich der Effektivität von Förderung nachgewiesen werden (Klicpera & Gasteiger-Klicpera 1995, Kap. 3). Es konnte jedoch sogar eine teilweise höhere Effektivität bei vergleichsweise geringerer

Intelligenz belegt werden, was wiederum die Möglichkeit eines intelligenzunabhänigen, automatisierten Lese- und Rechtschreiberwerbs untermauert (Weber & Marx & Schneider 2001, S. 85-98). Dieses Ergebnis spricht für die Empfehlungen der KMK von 1978, allen Kindern mit LeseRechtschreibschwierigkeiten unabhängig von ihrem Intelligenzniveau dieselbe Förderung zukommen zu lassen (Valtin 2003, S. 227-264).

4.2. Phänomenologischer Definitionsversuch der Lese- Rechtschreibschwäche

Die Annahme, die „Legasthenie lässt sich über spezifische und typische Fehler definieren, die sich in unterschiedlichen Phasen symptomatisch manifestieren“ (Schenk-Danzinger 1974, S.5-6, Dummer 1981, S.15) führte zu dem Versuch die Legasthenie über die Art der Fehler, die gemacht werden, zu definieren. Dies liegt vermutlich in der Tradition der frühen Fehlerforschung in Deutschland begründet. Diese diente überwiegend zur Aufklärung der Ursachen psychischer Defekte, die für das Auftreten der Fehler verantwortlich gemacht wurden. An der Häufung und ständigen Wiederkehr von typischen Fehlern sahen z.B. die Psychiater „typische Kennzeichen seelischer Störungen“ (Weimer 1926, S. 82 in Dummer 1981, S. 19). Eine so definierte, spezielle Lese- Rechtschreibstörung wird bei intelligenten Kindern als Legasthenie bezeichnet und als angeborener bzw. ererbter Defekt des Kindes („Teilleistungsstörungen“) und als Ursache der Legasthenie betrachtet (Legasthenie - Erlass 2005, S. 10 - 13).

4.2.1. Aufzählung legasthenietypischer Fehler

- Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeile im Text
- Niedrige Lesegeschwindigkeit
- Vertauschen von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in den Wörtern
- Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Worten oder Wortreihen
- ungenaues Phrasieren - Kein Leseverständnis
- Unfähigkeit, spezifische Aspekte einer Geschichte zu erzählen Ebenfalls als legasthenietypisch gelten Rechtschreibfehler wie
- Reversionen, Verdrehungen von Buchstaben im Wort (b-d, p-q, u-n)
- Reihenfolge- oder Sukzessionsfehler: Umstellungen von Buchstaben (die- dei)
- Auslassungen von Buchstaben (auch-ach) - Einfügungen falscher Buchstaben
- Regelfehler (Dehnung, Groß- und Kleinschreibung)
- Wahrnehmungsfehler (Verwechslung von d-t, g-k)
- Fehlerinkonstanz (kein wiederkehrendes Fehlerbild)

(Warnke & Roth 2000, S. 453-476 vgl. auch Schenk-Danzinger 1968, S. 59-111 und Dummer 1981, S. 15-21, Legasthenie-Erlass 2005, S. 11 - 12)

4.2.2. Legastheniespezifische Fehler am Beispiel der WR-Fehler

Fehler der Wahrnehmungsrichtung (WR-Fehler) gelten als legastheniespezifisch und werden in drei Untergruppen eingeteilt:

1. Reversionen, das sind Verwechslungen spiegelbildlicher Buchstaben bei vertikaler Spiegelachse (b-d)
2. Inversionen, das sind Verwechslungen spiegelbildlicher Buchstaben bei horizontaler Spiegelachse (u-n, m-w)
3. Umstellungen, das sind Veränderungen der Buchstabenfolge (Korb- Krob):

ie-ei-Vertauschungen werden von manchen als Reversion, von anderen als Umstellungsfehler interpretiert.

4.2.3. Legastheniespezifische WR-Fehler oder Maskierungseffekt?: Überlegung

Die ie-ei-Verwechslung gilt als klassisches Symptom der Legasthenie und wird auch als Folge einer Lautnuancentaubheit oder Differenzierungsschwäche bezeichnet. In der nun folgenden Überlegung wird dargelegt, dass es sich hierbei nicht immer nur um einen legastheniespezifischen Lesefehler handeln muss.

Die größte Sehschärfe befindet sich im Zentrum des Gesichtsfeldes. Ist das Aufmerksamkeitsfeld verengt, können trotz normaler Sehleistung nur wenige im Gesichtsfeld liegende Buchstaben gelesen werden. Buchstaben, die sich in der Peripherie des Gesichtsfeldes befinden, können dann bereits nicht mehr gelesen werden. Experimentelle Untersuchungen von Webster & Haslerud, Ikeda & Takeuchi und Henderson & Ferreira (zitiert nach Werth 2003, S. 43) bestätigen, dass sich der Bereich des Gesichtsfeldes von Versuchspersonen, in dem mehrere Stimuli angeboten wurden, verkleinerte, wenn diese, während sie mit ihrem Blick die Mitte einer Fläche fixierten, gleichzeitig z.B. Lichtpunkte zählen oder komplexe Figuren wiedererkennen mussten. Daraus lässt sich schließen, dass es schwieriger ist, Reize, die gleichzeitig geboten werden, zu erkennen, als Einzelreize, nachdem die Aufmerksamkeit bereits auf einen Punkt fixiert wurde. Für das Lesen bedeutet das, dass es zu Auslassungen, Ersetzungen und Verdrehen von Buchstaben am Anfang und am Ende eines Wortes kommen kann.

Folgt man dieser Überlegung und berücksichtigt man die erwähnten Forschungsergebnisse, so kann die ie-ei-Verwechslung auch durch den so genannten Maskierungseffekt, auch Metakontrast, hervorgerufen werden, der durch ein gegenteiliges Phänomen wie die Gesichtsfeldverengung hervorgerufen wird. In diesem Fall werden zwar die Buchstaben, die sich am Anfang und am Ende eines Wortes befinden, erkannt, die mittigen Buchstaben werden jedoch vertauscht.

Als Maskierungseffekt oder Metakontrast wird das Phänomen der Buchstabenverdeckung durch andere visuelle Reize (benachbarte Buchstaben) bezeichnet. Der Maskierungseffekt wird verstärkt durch die Länge des Wortes und den Abstand der einzelnen Buchstaben zueinander. Untersuchungen von Bouma und Legein (in Werth 2003, S. 53) berichten davon, dass legasthene Kinder im Randbereich der Fovea schlechter sehen als normallesende Kinder (Kap. zehn). Gleichzeitig konnten Straßburger, Harvey & Rentschler (in Werth 2003, S. 53) nachweisen, dass am Rand der Fovea der Maskierungseffekt im Allgemeinen wesentlich höher ist. Diese Ergebnisse können ein möglicher Erklärungsansatz für den Maskierungseffekt sein. Denn werden die Wörter abgedeckt und nur jeweils das zu lesende Segment gezeigt, können sich diese Fehler einstellen und das Wort kann ohne diese Verwechslung gelesen werden. Abbildung 2 verdeutlicht den Maskierungseffekt. Werden die Augen auf die Markierung * in der ersten Zeile gerichtet, kann ohne Probleme der rechts davon stehende Buchstabe N erkannt werden. Wenn nun aber der Blick auf die Markierung * in der zweiten Zeile gerichtet wird, kann der Buchstabe N (in der zweiten Zeile), obwohl weder seine Größe noch der Abstand zur Markierung * verändert wurde, nur mehr schlecht erkannt werden. Der Grund hierfür ist, wie oben erwähnt, dass der Buchstabe N durch die von ihm links und rechts stehenden Buchstaben verdeckt wird. Je länger ein Wort ist, desto mehr flankierende Buchstaben gibt es, die den zu lesenden Buchstaben verdecken können. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Maskierungseffekt bei längeren Wörtern v.a. bei legasthenen Kindern eintritt, sehr hoch, da 1. im parafovealen Bereich (Randbereich der Fovea) im Allgemeinen auch Normallesende schlechter sehen (Straßburger, Harvey & Rentschler, 1991) und 2. bei legasthenen Kindern der durch den parafovealen Bereich bedingte Maskierungseffekt sich im Gegensatz zu Normallesenden noch zusätzlich verstärkend auswirkt (Bouma & Legein, 1977). Der Maskierungseffekt ist erst dann wieder aufgehoben, wenn der Buchstabe N höher gestellt wird als die ihn flankierenden Buchstaben (dritte Zeile). Nun kann die Markierung * fixiert werden, ohne dass der Buchstabe von den übrigen Buchstaben verdeckt wird (vgl. mit erster Zeile).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.: 2. Werth, R. 2003, S. 54. Legasthenie und andere Lesestörungen

4.3. Sachlogische Überlegungen zum phänomenologischen Definitionsansatz: Analyse

Mittlerweile können viele Studien belegen, dass eine störungsspezifische Diagnose, die bis zum heutigen Tag auf der weit verbreiteten Annahme beruht, dass sich die Qualität der Fehler von diskrepanten und nicht-diskrepanten Lese- Rechtschreibschwachen unterscheidet, nicht möglich ist, da man empirisch nicht in der Lage war, „Arten von Lesefehlern zu identifizieren, die allein bei Legasthenikern, nicht jedoch bei normalen Lesern auftreten“ (Werth 2003, S. 131). Dieselbe Problematik gilt auch für Rechtschreibstörungen. Obwohl es zahlreiche Studien zur Erfassung und Kategorisierung von Rechtschreibfehlern gibt, konnten noch keine legastheniespezifischen Rechtschreibfehler empirisch belegt werden. Auch Untersuchungen so genannter „klassischer Legasthenikerfehler“, wie z.B. Verwechslungen von b und d, entbehren jeglicher empirischer Fundierung (Birkel 1990, S. Abb. 1). Bereits ältere Untersuchungen, u.a. von Schubenz & Buchwald (1964, S. 158), kamen zu dem Ergebnis, das wohl im Allgemeinen verifizierbar ist, dass „legasthenietypische Rechtschreibfehler sich proportional zur Fehlerrate verhalten. Je mehr geschrieben wird, desto mehr Rechtschreibfehler entstehen“ (Tordrup 1963, S.8, Ferdinand & Müller 1965, S. 6). Auch die Art der Fehler ist qualitativ nicht unterscheidbar und wird sowohl von intelligenten als auch von weniger intelligenten Kindern gemacht. „Das Überwiegen bestimmter Fehleranlässe und bestimmter Fehler ist kein Charakteristikum der Legasthenie oder des Legasthenikers“ (Schubenz & Buchwald 1964, S. 166). Bei vergleichenden Untersuchungen von Legasthenikern und LRS-Kindern zu Buchstaben-Benennung, Reimen, Pseudowörtern und Lese-Verständnis konnten zwar geringe, aber keinesfalls signifikante Unterschiede festgestellt werden. Selbst im eigentlichen Leseprozess sind die Unterschiede zwischen Legasthenikern und LRS-Kindern zu vernachlässigen (Stanovich 1988, S. 590- 604). In einer ähnlichen, aber neueren Untersuchung wurden 21 Studien im Hinblick auf Wortwahrnehmung, Dekodierung, Lese-Verständnis und phonologische Bewusstheit ausgewertet. Auch hier konnten keine signifikanten Unterschiede von Legasthenikern und LRS-Kindern bestätigt werden (Toth & Siegel 1994, S. 45-70, Klicpera & Gasteiger-Klicpera 1993, S.163). Allgemein gilt, dass die meisten Forschungsergebnisse unter Berücksichtigung der jeweilig angepassten Auslesekriterien einer bestimmten Untersuchungsgruppe zu betrachten sind. So ist davon auszugehen, dass die Studien zum Nachweis legastheniespezifischer Fehler zur Unterlegung des lerntheoretischen Konzepts der störungsspezifischen Diagnose, wie z.B. bei Schenk-Danzinger, auch von einer bestimmten Annahme ausgingen: „als Arbeitshypothese wurde das Vorkommen einer erhöhten Zahl von Reversionen, Inversionen und Buchstabenumstellungen als Kriterium für das Vorhandensein einer Legasthenie (...) angenommen“ (1968, S. 123). In diesem Zusammenhang fällt auf, dass diese Untersuchung methodische Mängel aufweist, da 1. ein Vergleich mit einer nicht legasthenen bzw. unausgelesenen Kontrollgruppe fehlte (als legastheniefrei wurden Kinder mit bis zu 4 Reversionen bezeichnet = Gruppe 1, von 5 bis 11 Reversionen leichte Legasthenie = Gruppe 2, ab 12 Reversionen schwere Legasthenie = Gruppe 3, vgl. ebd. S. 124, Anm. der Verf.), die errechneten Prozentsätze also mit einer normallesenden Kontrollgruppe nicht vergleichbar waren; 2. eine selektive Gruppenauslese stattfand, die durch ätiologische Vorannahmen bestimmt war und ausschließlich legasthene Kinder mit Reversionshäufungen aufgegriffen hat bzw. normallesende Schüler, die nach dem Reversionsmerkmal als legasthen bezeichnet wurden. Wenn eine Hypothese, z.B. Reversion = Legasthenie, bewiesen werden soll, ist eine so konstruierte Studie wissenschaftlich gesehen nicht sinnvoll, da das zu Beweisende, in diesem Falle die Reversion, gleichzeitig als Selektionsmerkmal eingesetzt wird. Ein derartiges Ergebnis bestätigt daher selektionsbedingt 1. nur die subjektive Annahme und trifft 2. nur auf genau diese eine Gruppe zu, lässt sich also nicht verallgemeinern. Wären bestimmte Arten von legasthenietypischen oder legastheniespezifischen (d.h. nur bei Legasthenikern vorkommenden) Fehlern nachweisbar, könnte die Legasthenie tatsächlich als eigenständige Störung nach der wie oben beschriebenen Ursache-Wirkung-Methode diagnostizierbar sein. Neuere Untersuchungen belegen aber, dass „exklusive“ Legasthenikerfehler sogar von kompetenten, aber überforderten Erwachsenen, nicht legasthenen Kindern während des Lernvorgangs im Erwerb der Schriftsprache oder bei zu schweren, nicht altersgerechten Texten produziert werden (Grissemann 1986, S. 107- 114). „Alle Symptome sind für dysphasische Entwicklung im Schriftspracherwerb generell kennzeichnend und sind damit Entwicklungssymptome bzw. Symptome des Lernprozesses“ (Klicpera & Gasteiger-Klicpera 1995, S.125 vgl. auch Scheerer-Neumann 1997 und Valtin 2000.

4.3.1. Sachlogische Überlegungen zur Methodik des phänomenologischen Definitionsversuchs

Bei Verdacht auf eine Rechtschreibschwäche werden üblicherweise die so genannten qualitativen Fehleranalysen der diagnostischen Rechtschreibtests von Psychologen, Therapeuten usw. empfohlen und angewandt. Aufgrund dieser diagnostischen Rechtschreibtests findet aber wiederum eine Auslesediagnostik und keine Förderdiagnostik statt, da angenommen wird, dass diese Tests ein Symptom, d.h. legastheniespezifische Fehler, messen können, die Legastheniker von Nicht-Legasthenikern, d.h. kognitionsschwachen LRS- Kindern, trennt. Leistungsorientierte Rechtschreibtests, wie der Diagnostische Rechtschreibtest DRT 2 bis DRT 5 für 2., 3., 4. und 5. Klasse oder die Hamburger Schreib-Probe HSP1+ bis HSP 3+ für 1., 2. und 3. Klasse (eine aktuelle Übersicht findet sich z.B. in Klicpera 2003, S. 219), sollen die Rechtschreibleistung erfassen und dienen in erster Linie zur Beurteilung besonderer Förderungsbedürftigkeit im Zusammenhang mit der Diskrepanzdefinition der Legasthenie. Eine Diskrepanz, nach der die Legasthenie festgestellt wird, besteht, wenn die Intelligenz bei IQ > 90, PR 25 der übrigen Schulleistungen unter PR 10 und die Leistungen der Lese- Rechtschreibtests bei einem PR von < 15 liegen. Leistungsorientierte Diagnosetests wie DRT 2 bis 5 oder HSP 1+ bis 3+ beschränken sich lediglich auf eine Kategorisierung von Verstößen gegen Rechtschreibregeln und Gestaltabweichungen. Als Verstöße gegen Rechtschreibregeln sind z.B. „ich wahr“ statt „ich war“. Als Verstöße von Gestaltabweichung sind z.B. „d“ statt „t“ wie bei „Dochter“ statt „Tochter“ zu nennen. Dies entspricht einer qualitativen Fehleranalyse, da der Auslöser also die Strategie, die hinter der Verschreibung steht, nicht miterfasst wird. Eine für Kinder logische, orthographisch jedoch falsche Strategie sind z.B. Analogiebildungen, bei denen die lautorientierte Schreibweise eine große Rolle spielt. Der Anlaut „SCH“ zum Beispiel wird sowohl bei dem Wort „Schaf“ als auch bei dem Wort „Spinne“ gehört. Ist dem Kind die richtige Schreibweise des Wortes „Schaf“ bekannt, ist es sich aber in der Schreibweise des Wortes „Spinne“ unsicher, wird es analog zum „Schaf“ auch die „Spinne“ mit „Sch“, also „Schpinne“, schreiben. Ein wichtiges Kriterium bei normierten Tests ist auch, wie alt und wie repräsentativ sie noch für die Gesamtpopulation sind. Normierte Tests sollten nicht älter als zehn Jahre sein. Beachtet werden sollte auch, dass die Rechtschreibtests nicht die Möglichkeit haben, für jede Art von Fehlern eine große Anzahl Beispiele zu Verfügung zu stellen. Rechtschreibfehler bzw. deren Analysen sind somit eigentlich nicht validierbar, da diese Art der Testung nur die quantitative Auswertung und auch diese nur für diesen Test ermöglicht. D.h., dass ein Testergebnis nur den momentanen Leistungsstand offen legt: also eine bestimmte Leistung, zu einem bestimmten Zeitpunkt, bei dem das Kind nur in diesem bestimmten Test ein bestimmtes Ergebnis erreicht. Bereits zwei Tage später kann dasselbe Kind zu einem anderen Zeitpunkt mit einem anderen Test ein völlig anderes Ergebnis erzielen. Je nachdem, durch welche Ursachen seine LRS bedingt ist. Daher ist die Rechtschreibleistung des Kindes auch nicht objektiv, sondern nur die Leistung, die in einem bestimmten Rechtschreibtest zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht wurde. In der Praxis kommt es auch häufig vor, dass bei anderen Prüfungsmethoden die Leistung, die vorher nicht erbracht werden konnte, auf einmal gelingt, obwohl dasselbe Wissen, nur eben auf eine andere Art, abgefragt wurde. Bei herkömmlichen qualitativen Analysen wird der Normwert mit dem Durchschnittswert der ermittelten Fehler und Richtigschreibungen aus den Tests verglichen. Qualitative Fehleranalysen können aber nicht die Fehler nach angeblichen verursachenden Faktoren, wie z.B. mangelnder phonologischer Differenzierungsfähigkeit, klassifizieren. Das bedeutet nicht, dass solche Fehler nicht aufgrund eines schwachen phonologischen Bewusstseins entstehen können, der umgekehrte Fall ist aber auch möglich. Eine sehr ausgeprägte phonologische Bewusstheit in Verbindung mit dialektalen oder fremdsprachlichen Einflüssen kann zum selben Fehlerphänomen führen. Qualitative Fehleranalysen können jedoch keinen Aufschluss darüber geben, ob das Wort „Bub“, das als „Bou“, „Nürnberg“, das als „Nünbäich“ geschrieben wird, auf einen ausgeprägten Dialekt und einer gut oder schlecht funktionierenden lautlichen Unterscheidungsfähigkeit basieren. Bei den Fehlerphänomenen fällt auf, dass vor allem die Verschlusslaute b, d, g, k, t und p, die ja in vielen Dialekten nicht die korrekte Schreibweise wiedergeben, oft vertauscht werden. Aus „t“ wird „d“, aus „k“ wird „g“. Aber auch Anlautverhärtungen wie „Pruder“ statt „Bruder“ oder Auslautverhärtungen wie „spannent“ statt „spannend“ sind häufig zu beobachten und dürfen in den allermeisten Fällen nicht auf eine Lautnuancentaubheit, sondern eher auf eine subtile phonologische Wahrnehmung zurückzuführen sein. Qualitative Fehleranalysen lassen auch nicht erkennen, ob die orthographische Schreibung einfach nicht bekannt ist oder ob trotz Kenntnis der Regelschreibung diese aus den verschiedensten Gründen nicht angewandt wird oder werden kann.

[...]

Ende der Leseprobe aus 148 Seiten

Details

Titel
Wissenschaftstheoretische Untersuchung gegenwärtiger Theorien zur LRS
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Psycholinguistik und Sprechwissenschaften)
Note
1,15
Autor
Jahr
2005
Seiten
148
Katalognummer
V56444
ISBN (eBook)
9783638511124
Dateigröße
1587 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wissenschaftstheoretische, Untersuchung, Theorien
Arbeit zitieren
Christina Boronkay (Autor:in), 2005, Wissenschaftstheoretische Untersuchung gegenwärtiger Theorien zur LRS, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56444

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