„Viele dieser Aufzeichnungen sind nicht viel mehr als die trockene Bilanz eines beschwerlichen, in treuer Pflichterfüllung gelebten Lebens. Die Welt spielt in ihnen keine Rolle. Die Verfasser sehen ihr Leben weitgehend losgelöst von den großen politisch-gesellschaftlichen Vorgängen ihrer Zeit.“1 Dieses Urteil Karl Wolfgang Beckers über die Tradition der biographischen Vorgehensweise im 18. Jahrhundert steht im Kontrast zu Goethes Autobiographie „Dichtung und Wahrheit. Aus meinem Leben“ und charakterisiert in diesem Zusammenhang einen epochalen Einschnitt in der Betrachtung des einzelnen Menschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Untersuchung dieses Einschnitts, den ich als ′Individualitätsproblematik′ kennzeichne, wird Gegenstand dieser Arbeit sein. Insbesondere werde ich der Frage nachgehen, welche historischen Voraussetzungen zu einer solchen Umdeutung, die sich im Gebrauch des Begriffs ′Individualität′ manifestiert, geführt haben und wie Goethe sich damit auseinandersetzt. Diese Fragestellung impliziert eine Untersuchung von Goethes Individualitätsbegriffs in „Dichtung und Wahrheit“.
Goethes Autobiographie ist, wie noch zu zeigen sein wird, nicht nur der Versuch, seine Individualität darzustellen, sondern auch diese zu entdecken. Daraus ergeben sich die Fragen, ob Individualität überhaupt erkennbar und darstellbar ist, mit welchen Mitteln Goethe versucht das zu erreichen und inwiefern das Vorhaben letztendlich gelingt. Um einen Einstieg in die Problematik zu leisten, wird der Arbeit ein skizzenhafter Überblick über die Begriffsgeschichte von ′Individualität′ vorangestellt. Da nach Fotis Jannidis eine Gesamtdarstellung zu diesem Thema bisher noch fehle,2 habe ich eine philosophische Herangehensweise gewählt. Denn gerade die philosophische Tradition ist für die Bildung von Goethes Individualitätsbegriff von entscheidender Bedeutung gewesen. Als Grundlage für diesen Überblick hat mir das „Historische[...] Wörterbuch der Philosophie“3 gedient. An diese philosophische Betrachtung schließt eine, für meine Fragestellung eine entscheidende Rolle spielende, historische Untersuchung der Bedeutung und Verwendung des Begriffs in der Zeit der anbrechenden ′Moderne′4 an, der die Fragestellung nach den Ursachen zur Entstehung der ′Individualitätsproblematik′ zugrunde liegt.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Individualitätsproblematik
- Philosophische Begriffsgeschichte – Ein Überblick
- Individualität als Herausforderung an die „Sattelzeit“
- Die Darstellung von Goethes Individualitätsbegriff in „Dichtung und Wahrheit“
- Exkurs: Individualität als Teil des Bildungsbegriffs
- Darstellbarkeit von Individualität
- Literarische Fremdporträts als Mittel zur Darstellung
- Der Aspekt des genetischen Denkens
- Der teleologische Aspekt
- Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit untersucht die Individualitätsproblematik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, insbesondere im Kontext von Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Sie analysiert die historischen und philosophischen Voraussetzungen, die zu einer Umdeutung des Begriffs „Individualität“ führten, und beleuchtet Goethes Auseinandersetzung mit dieser Thematik in seiner Autobiographie.
- Die Entwicklung des Individualitätsbegriffs in der philosophischen Tradition
- Die Herausforderungen der „Sattelzeit“ für das Verständnis von Individualität
- Goethes Darstellung von Individualität in „Dichtung und Wahrheit“
- Die Rolle des Bildungsbegriffs im Kontext von Individualität
- Die Frage der Darstellbarkeit von Individualität in literarischen Texten
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einem Überblick über die philosophische Begriffsgeschichte von „Individualität“, wobei die Entwicklung des Begriffs von der Antike bis zur Scholastik betrachtet wird. Anschließend wird die historische Bedeutung des Begriffs in der Zeit der „Moderne“ beleuchtet, um die Ursachen für die Entstehung der „Individualitätsproblematik“ zu ergründen.
Im Hauptteil der Arbeit wird Goethes „Dichtung und Wahrheit“ analysiert, um seine Auseinandersetzung mit dem Individualitätsbegriff zu untersuchen. Dazu wird ein kurzer Exkurs über Goethes Verständnis von Bildung unternommen, bevor die Darstellbarkeit von Individualität in der Autobiographie beleuchtet wird. Schließlich werden die beiden zentralen Aspekte von Goethes Individualitätsbegriff – das „genetische Denken“ und die „Teleologie“ – näher betrachtet.
Schlüsselwörter
Individualitätsproblematik, „Dichtung und Wahrheit“, Goethe, Bildung, Philosophie, „Sattelzeit“, Moderne, Darstellbarkeit, Genetisches Denken, Teleologie, Literarische Fremdporträts.
- Quote paper
- Dirk Brandes (Author), 2006, Zur Individualitätsproblematik des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Spiegel ihrer Darstellung in Goethes "Dichtung und Wahrheit", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56475