Technik und musikalische Avantgarde. Transformationen musikalischer Ästhetik durch technisch produzierte und reproduzierbare Kunst


Magisterarbeit, 2005

113 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Technik in der Technikphilosophie
2.1. Einführung in den Technik- und Maschinenbegriff
2.2. Einführung in die Techno-Ästhetik

3. Technik in der musikalischen Kunsttheorie
3.1. Wegbereiter: Kunsttheorie um 1850
3.1.1. Richard Wagner »Das Kunstwerk der Zukunft«
3.2. Avantgarde: Kunsttheorie ab 1900
3.2.1. Ferruccio Busoni: »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst«
3.2.2. Herrmann Bahr: »Expressionismus« & Oswald Spengler: »Der Untergang des Abendlandes«
3.2.3. Der Futurismus
3.2.3.1. Filippo Tommaso Marinetti: »Gründung und Manifest des Futurismus«
3.2.3.2. Balilla Pratella: »Die futuristische Musik«
3.2.3.3. Luigi Russolo: »Die Geräuschkunst«
3.2.4. Das Bauhaus
3.3. Erben: Kunsttheorie um 1950
3.3.1. Karlheinz Stockhausen: »Elektronische Musik und Automatik«

4. Technik in der Kunstpraxis
4.1. Musikmaschinen und Instrumentenbau
4.2. Synästhetische und gesamtkunstwerkliche Bestrebungen

5. Resümee

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Technik auf bisher ungekannte Art und Weise in das Lebensumfeld und Lebensgefühl der Menschen eingedrungen. So ist es nicht verwunderlich, daß sie zunehmend auch eine Position in der künstlerischen Auseinandersetzung der Zeit einforderte.

Der Umstand aber, daß Technik auch in der Sphäre der Kunst noch als etwas Neues und Fremdes – oftmals sogar als etwas Gefährliches und Bedrohliches – wahrgenommen wurde, ist ein deutliches Indiz dafür, daß Kunst sich als autarke Kategorie inszenierte. Sie war Kunst grade in ihrer Abgeschiedenheit von allem Weltlichen. Der ›überirdische‹ Wert der Kultur konnte ihr nur durch die Ignoranz aller Verweise auf ihre weltliche, technische Gemachtheit zugesprochen werden. Kunst und Technik können in der Blüte der durch Geniekult und Schöpfungsmythos verklärten, romantischen Ästhetik also als idealtypische Antagonisten gesehen werden. Die Krise des romantischen Idealismus durch die über die Welt und die Kunst hereinbrechende Technik führte zu einer Stimmung, die heute als ›fin de siècle‹ zum Sinnbild geworden ist.[1] Einer Mischung von Weltuntergangsdepression und Fortschrittseuphorie, die die Technik mal als Totengräber der Zivilisation, mal als Heilsbringer der Menschheit stilisierte.

Im Zentrum dieser Arbeit steht die Bedeutung der Technik für die musikalische Avantgarde, insbesondere die durch die Technik ausgelösten oder in ihr verorteten Transformationen musikalischer Ästhetik und künstlerischen Selbstverständnisses. So gesteht auch dieser Ansatz der Technik die Position des Neulings und Erneuerers in der künstlerischen Domäne zu. Technik gerät dabei sowohl auf Seiten der Produktion, Reproduktion und Distribution von Musik als auch als programmatisches Element in den Blick. Unberührt davon bleibt aber die Frage, inwiefern wirklich technische Innovation oder bloße Wahrnehmung und Anerkennung der technischen Realität von Kunst substantielle Veränderungen auslöste.

Die Abwertung der Technik in der Kunst hat eine lange Geschichte. Haftet technischer Kunst noch heute in der öffentlichen Wahrnehmung der Makel des ›Uninspirierten‹ und die Unterstellung kreativer Minderwertigkeit an, so stand der griechische Begriff der téchne im ursprünglichen, aristotelischen Sinne noch für Kunstfertigkeit und Schöpfungskraft. Die Trennung von Kunst und Kunsthandwerk am Ende des Mittelalters führte schrittweise zur Abwertung alles Technischen und Handwerklichen. Das Technische als Symbol unendlichen menschlichen Erfindungsgeistes konnte seinen Platz in der Kunsttheorie des Abendlandes nicht behaupten. Warum aber ging der Bedeutungszuwachs der Technik für Wohlstand und Fortentwicklung der menschlichen Zivilisation mit ihrer Verdrängung aus der Kunst konform?

Nahm sich der Mensch im Mittelalter noch primär als der Natur ausgeliefert wahr, so begann er sich in der Neuzeit mit Hilfe der Technik zu emanzipieren. Technik trat damit zunehmend in Opposition zur Natur. Diese Befreiung des Menschen wurde zeitgleich aber auch immer schmerzlich als Entfremdung empfunden. So erfüllte die Kunst bald die Funktion des Mittlers zwischen der Welt des Menschen und der Welt der Natur. Der Naturzustand wurde zum Idealzustand verklärt, die Kunst zur Brücke stilisiert. Sie sollte zurückführen in den Zustand einer geschlossenen Wahrnehmung von Mensch und Welt. So wird verständlich, warum alles Technische aus der Sphäre der Kunst getilgt werden mußte.

Die durch Kant geprägte klassische Ästhetik neigt dazu, den künstlerischen Schaffensprozeß unter Aussparung der Technik zu fingieren. Das Technische wird synonym mit dem Kunsthandwerklichen und einem Mangel an kreativer Schöpfungskraft des ›Originalgenies‹. Mit dem Wandel der gesellschaftlichen Realität dringen aber auch die Maschinen verstärkt in das Bewußtsein der Künstler ein, drängen die technischen Apparaturen im Kunstwerk auf einen Platz in der ästhetischen Theorie. Doch die offizielle Reintegration des Maschinellen in die Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschränkt sich nicht auf eine Renaissance des barocken Maschinenbegriffs. Die Selbstbeschreibung des Menschen und seine Standortbestimmung zwischen den Antipoden Natur und Technik hat sich radikal verändert. Der Mensch fühlt sich der Natur vollends entfremdet und durch die Technik der Industrialisierung zunehmend in seiner Existenz bedroht. Den Platz in der Welt, den er sich durch das Hilfsmittel der Technik erkämpft hat, wird ihm nun scheinbar durch eine sich verselbstständigende Technik strittig gemacht. Die Kunst in ihrer Selbstbeschreibung als technikfreier Raum erscheint nicht länger fähig, adäquate Aussagen über die Welt formulieren zu können. Das Abendland sieht sich im Untergang begriffen. Aus diesem Nährboden erwachsen die verschiedenen Strömungen der historischen Avantgarde, die sich mit unterschiedlicher Positionierung dem drängenden Problem des Maschinellen und Technischen stellen und das Zeitalter der ›Moderne‹ einläuten. Die Maschine, kybernetisch begriffen als Anordnung von Regeln und Gesetzen der Transformation, wird auch in der Kunst zum Katalysator der Transformation klassischer Ästhetik.

Die Untersuchung der Bedeutung der Technik für die Kunsttheorie der musikalischen Avantgarde hat sich also mit dem Verhältnis von Kunst, Welt und Mensch, von Natur und Technik zu beschäftigen. Dabei geraten sowohl Fragen der Anthropologie und Ästhetik als auch der Produktion, Reproduktion und Rezeption von Kunst in das Blickfeld. Kann dieser Aufgabe nur durch die radikale Reduktion des Untersuchungsbereichs auf exemplarische Ausschnitte beigekommen werden, so ist doch der Blick über den ›Tellerrand‹ der Musik unabdingbar. Denn so zerrissen sich die verschiedenen Strömungen der historischen Avantgarde auch präsentieren,[2] so stark sind doch im Gegenzug die Bestrebungen der Integration zwischen den Künsten. Eint die Technik als Thema die verschiedenen Strömungen der Avantgarde, so macht sie als ›Technik‹ die Fusion der verschiedenen Künste denkbar. Technik als Technik meint hier sowohl die neuen technischen Medien wie Telephon, Grammophon und Film als auch die alten technischen Medien Druckerpresse, Bühne und Konzertsaal.[3]

In dieser Arbeit möchte ich mich auf einen Ansatz von Peter Weibel[4] stützen, der den Umbruch der klassischen zur modernen Ästhetik durch das Element des Technischen und am Beispiel der Malerei beschrieben hat. Weibel unterstellt dabei der abendländischen Tradition eine Präferenz der Raum-Kunst. Für ihn basiert auch die klassische Ästhetik auf der Ontologie des Bildes und der Abwertung transitorischer Kunst. Die neue Technik bewirkt aber die Etablierung der Zeit-Kunst als dominanter Strömung der Moderne. Malerei und Fotographie werden durch den Film zur Auseinandersetzung mit und Rechtfertigung der eigenen Statik gezwungen. Die ›eigene‹ Ästhetik der transitorischen Kunst wird dadurch auch im geschichtlichen Rückblick besonders bedeutsam. An dieser Stelle läßt sich der Ansatz gewinnbringend an eine Untersuchung der Bedeutung der Technik für die musikalische Kunsttheorie ankoppeln.

Die Musik ist dabei nicht willkürliches Beispiel einer Zeit-Kunst. Sie ist vielmehr der ideale Vertreter, erlangte sie für die verschiedenen Strömungen der historischen Avantgarde doch schnell die Funktion eines Vorbilds und Vorreiters.[5] Die früher eher als Mangel der Tonkunst empfundene Unfähigkeit zur Abbildung gereichte ihr im Zeitalter der Fotographie zum Vorteil. Geriet die bildende Kunst ob der unerreichbaren Perfektion der neuen Abbildungstechniken in die Krise, so wurde die Musik als absolute und abstrakte Kunst purer Expression zum Königsweg hin zu einer neuen Definition künstlerischer Inhalte. In der, auch durch die Avantgarde weiter betriebenen Fusion der Künste zu einem synästhetischen Gesamtkunstwerk, nahm die Musik und die musikalische Kunsttheorie schnell eine zentrale Position ein. Im Rahmen technisch produzierter Kunst und der neuen, technischen Medien wie Rundfunk und Film wurde die Bild- mit der Tonkunst vereinigt. Auf diese Art und Weise entstand die für das 20. Jahrhundert dominant werdende Kopplung des ›Audiovisuellen‹.[6]

Im Rahmen dieser Untersuchung möchte ich die Bedeutung der Technik exemplarisch für drei Grundpositionen an drei Strömungen der historischen Avantgarde nachzeichnen. Bei der Auswahl der Beispiele zeigte sich, daß die Werke und Künstler, die für die weitere Entwicklung der musikalischen Kunsttheorie unter dem Aspekt des Technischen von besonderer Relevanz waren, nur zum Teil dem ›klassischen‹ Lager der Komponisten zugerechnet werden. Es kann als symptomatisch für die Übersprechungsphänomene zwischen den Künsten gewertet werden, daß die maßgeblichen Innovationen im Bereich musikalischer Technik von den Malern des Futurismus und den Architekten am Bauhaus gemacht wurden. Es kann aber auch negativ als typisches Beispiel für die Außenseiterposition der Musik in der Diskussion aktueller kunstästhetischer Fragen gewertet werden, denen sie stets ein bis zwei Jahrzehnte ›hinterherhinkte‹.

Der Expressionismus muß als Sammelbegriff eine Vielzahl musikalischer Strömungen in sich vereinen. Im eher intellektuellen Expressionismus der zweiten Wiener Schule steht die innermusikalische Technik im Vordergrund. Neue Kompositions- und Instrumentationstechniken führen die Musik zu ihrem systematischen Kern zurück und zelebrieren wie im Extrembeispiel des Schönbergschen »Vereins für musikalische Privataufführungen« die Abkopplung von der Außenwelt. Auch auf dem Gebiet des Instrumentenbaus und neuer Spieltechniken geht vom Expressionismus nur ein geringer Antrieb aus. Der expressionistischen Musik, wie sie von Igor Stravinsky oder Béla Bartók komponiert wird, kann eine gewisse Technikfeindlichkeit unterstellt werden, die sie durch den Rückbezug auf das Basale und Archaische (den ›Naturzustand‹) artikuliert, ohne aber den Dualismus von Natur und Technik ästhetisch zu überwinden.

Die futuristische Musik und speziell der Bruitismus sind in ihrem Technikbezug die zentrale und wirkungsmächtigste Strömung der historischen Avantgarde. Die Technophilie des Futurismus scheint antithetisch zum Expressionismus dann auch in einer generellen Natur- und Lebensfeindlichkeit zu gipfeln. Die vollendete Hingebung des Menschen an die Technik und die Aufgabe seiner letzten natürlichen Wurzeln und Bande markieren die Geburt des neuen Menschen. Ihre Wirkung entfaltet die futuristische Musik aber eher durch Manifeste und inszenierte Skandale als durch bleibende Werke. So hat die futuristische Musik keinen ernstzunehmenden Komponisten hervorgebracht, dessen Musik es in den Kanon der Konzertliteratur geschafft hätte. Die maßgeblichen Umwälzungen in der Musikästhetik, wie sie durch Edgard Varèse oder John Cage in den 30er und 40er Jahren begonnen wurden, fußen aber in dieser Avantgardebewegung.

Eine Sonderposition in der historischen Avantgarde nimmt die Bauhausbewegung ein. Ganz entgegen dem zukunftsgewandten Futurismus orientiert sie sich an den Handwerkstraditionen des Mittelalters und springt damit vor die Zeit der ästhetischen Differenzierung von Natur und Technik, von Kunst und Kunsthandwerk. Diese neue ›alte‹ Selbstverständlichkeit erlaubt es der Bauhausbewegung auf eine erstaunlich ›unaufgeregte‹ Weise die zentralen ästhetischen Kategorien zu transformieren. Die technische Produktion und Reproduktion von Kunst führt hier zu ersten Experimenten mit apparativer, elektrischer Musik. Weil die Musik nicht zu den offiziellen Disziplinen am Bauhaus gehörte, findet sich kein Komponist unter den Lehrenden. Doch vermehrt sind auch bedeutende Komponisten wie Josef Hauer, Paul Hindemith und Hans Stuckenschmidt am Bauhaus präsent. Aber auch unter den Malern und Architekten finden sich wieder Künstler, die musikalische Werke schreiben und sie in den Kontext gesamtkunstwerklicher Bestrebungen stellen. Eine neue Welle synästhetischer Konzeptionen führt Musik, Malerei, Tanz, Theater und Film zusammen und in direkter Linie in die multimediale Medienkunst heutiger Zeit.

Es wird also deutlich, daß die Bedeutung der historischen Avantgarde für die Transformation der musikalischen Ästhetik nicht in einer Momentaufnahme zu erfassen ist. Sie nimmt ästhetische Probleme und Strömungen auf, die ihr in langer Tradition vorausgehen und entfaltet ihre Wirksamkeit oftmals erst in späteren Jahren, namentlich in der Neo-Avantgarde nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Den verschiedenen Ebenen des Technischen innerhalb der Kunsttheorie und Theorie der Musik werde ich mich durch exemplarische Texte nähern. Dabei setzte ich mit Richard Wagner als einem Wegbereiter der Moderne bereits vor der historischen Avantgarde an und zeichne die Entwicklung einzelner Begriffe und Themenfelder bis zur Neo-Avantgarde nach.

2. Technik in der Technikphilosophie

2.1. Einführung in den Technik- und Maschinenbegriff

Um die Bedeutung der Technik zu erfassen, ist es zuerst von Nöten, den Begriff der Technik näher zu betrachten. Technik bezeichnet sowohl Objekte als auch Praxen. Wie bereits erwähnt liegt der Bedeutungsschwerpunkt der Wortwurzel in der Praxis: gr.: téchne bezeichnet den Einsatz eines Mittels zum Zweck. Technik ist damit keine abstrakte Größe, sondern eine menschliche Eigenschaft und Fähigkeit. Im Prinzip ist damit alles absichtsvolle Handeln, auch das nicht-menschliche, Technik. Obwohl Technik damit stets teleologisch ist, verbleibt sie intellektuell doch auf einer recht basalen Stufe. So ist die Abwertung der artes mechanicae vor den artes liberales nicht weiter verwunderlich.[7]

Für Aristoteles geht der Begriff der Technik dann über die bloße Praxis hinaus. Sie umfaßt das absichtsvolle Erschaffen von Gegenständen, die ihrem eigenen Zweck gehorchen.

»Indem Aristoteles so die poietisch-hervorbringende Funktion der Technik hervorhebt, stellt er sie in ein deutliches Kontrastverhältnis zum natürlichen Entstehen und Vergehen. Menschliche Kunst zielt auf Schaffung und Gestaltung. Vernichtung und Verfall dagegen wird den Naturkräften zugeordnet«.[8]

Die Geburtsstunde der Kunst liegt also in der absichtsvollen Entfremdung von der Natur durch die Technik. Bereits an diesem Punkt ist der menschliche Wunsch nach der Befreiung aus dem Joch der ›grausamen‹ Natur spürbar. Diese Wahrnehmung wird sich im Laufe der Geschichte dann mehrfach ins Gegenteil verkehren.

Techniken nutzen Objekte und schaffen Objekte. Das technische Artefakt wird so zur selbständigen Kategorie. Als Werkzeug oder Instrument[9] wird es in philosophischer (Martin Heidegger) und anthropologischer (Ernst Kapp/ Arnold Gehlen) Hinsicht zum Kriterium der Menschwerdung: der Mensch ist Mensch und vom Tier geschieden durch den Werkzeuggebrauch. Ernst Kapp begreift 1877 im ersten genuin technikphilosophischen Werk das Werkzeug als Externalisierung des menschlichen Selbst, als Organprojektion (gr.: organon – Körperglied, Nachbild, Werkzeug).[10] Die von ihm geführte Argumentation verquickt Anthropologie mit Sprachwissenschaft:

»wenn daher die sprachlichen Spuren der Bezeichnung eines Werkzeugs sich in fernste Zeiten zurückverfolgen lassen bis zur Tätigkeit eines Organs, welche genau mit Gebrauch und Zweck des technischen Produkts stimmt, so liegt in diesem Fall auch der Beweis vor, daß das technische Produkt von der Tätigkeit eines Organs produziert und projiziert ist«.[11]

Die Schritte der technischen Entwicklung vollziehen sich

»unbewußt nach organischem Muster vor sich gehende Anfertigung, demnächst die Begegnung, das Sichfinden von Original und Abbild nach dem logischen Zwang der Analogie, und dann die im Bewußtsein wie ein Licht aufgehende Übereinstimmung zwischen Organ und künstlichem Werkzeug«.[12]

Kapp entwickelt also eine fast metaphysische Vorstellung der impliziten Übertragung von Wissen aus dem Mensch in die Welt. Es geht ihm nicht um die Erkenntnis allgemeiner, physikalischer Phänomene, denen sich der Mensch genauso wie die Natur bedient, sondern um die eigenständige und aktive Externalisierung der Organe durch den passiven Werkzeugmacher Mensch.

Denn »das charakteristische Merkmal der Organprojektion [ist] das unbewußte Vorsichgehen«.[13]

Der Mensch wird so in letzter Konsequenz autopoietisch konstruiert.[14] Zwar weiß sich Kapp vom technischen Weltbild des 18. Jahrhunderts abzugrenzen, verzichtet aber nicht darauf, ebenso technische Entwicklung als Erklärungs- und Verständnismodell für den Menschen heranzuziehen. Es kann auf anatomisch-funktionale Vorgänge rückgeschlossen werden.

Arnold Gehlen übernimmt diesen Ansatz und beschreibt die Evolution der Technik in den drei Stufen: Werkzeug, Maschine und Automat.[15] Der Mensch als ›Mängelwesen‹ benötigt die Technik als Organersatz, Organentlastung und Organverstärkung. So ist es nicht das Wesen der Technik, sondern der ihr auferlegte und eingeschriebene Zweck, der sich zwischen den Mensch und seine Umwelt schiebt. Die zunehmende Angst vor der verselbstständigten Technik zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht aber auf eine Entfremdung des Menschen durch die Technik zurück, die schon Hegel beschrieben hat:

»die Maschine ist nicht nur Differenz zur Natur, sie erschafft zugleich die Differenz des Subjekts, des Menschen, von seiner Arbeit, von seiner Tätigkeit in der Welt der Dinge«.[16]

Diese Entfremdung greift auch Martin Heidegger auf, wenn er Technik als ›Ge-Stell‹ begreift, das nicht nur den Weg zur Natur ›ver-stellt‹, sondern in einem aggressiven Sinne ›zum Kampf stellt‹. So kann Technik konstruktive Potenzen im »Werk-Zeug« und destruktive Potenzen im »Ge-Stell« entfalten.[17]

Eine weitere Komplexitätssteigerung erfährt der Begriff der Technik durch die zusammengesetzten technischen Artefakte: Maschinen. Der Leibnizianer Christian Wolff definiert die Maschine 1719 als »ein zusammengesetztes Werck, dessen Bewegungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind.«[18] Die Einfachheit dieser Definition zeugt von einen Maschinenbegriff, der sich fast unbegrenzt übertragen läßt. Jedes regelhafte und aus Teilen zusammengesetzte System ist demnach als eine Maschine zu begreifen. Die barocke Übertragung des Uhrwerks auf den Weltenlauf – die ›macchina mundi‹ – muß auf und in den Menschen und das Zusammenspiel aller seiner Werke ausgedehnt werden. So wird bereits im 17. Jahrhundert, vorangetrieben durch die Mathematik, jedes Zeichensystem (und damit jede Sprache) als abstrakte Maschine begriffen.[19] Der Maschinenbegriff koppelt sich so zunehmend von seinen physischen Wurzeln ab und wird zu einer rein informatorischen Kategorie. Die Kybernetik des 20. Jahrhunderts definiert eine Maschine lediglich noch als »Anordnung von Regeln und Gesetzen, durch die gewisse Tatbestände in andere transformiert werden.«[20]

In der Evolution der technischen Apparatur steht der Automat an letzter Position. Als Maschine mit eigenem ›Antrieb‹ integriert die Technik hier (scheinbar) die eigene Teleologie und emanzipiert sich vom Menschen. Die große Anzahl barocker Lese-, Schreib-, Musik-[21] und Spielautomaten simuliert dank ausgeklügelter Feinmechanik und Uhrmachertechnik lediglich die Unabhängigkeit vom Programmierer. Die komplexen Systeme zweiter Ordnung der Kybernetik (zelluläre Automaten) haben heute den autopoietischen Zustand verselbständigter Technik erreicht.

2.2. Einführung in die Techno-Ästhetik

Die philosophische Disziplin der Ästhetik umfasst ein frei definiertes Begriffssystem, in dem Kategorien von Begriffen in Ordnungs-, Abhängigkeits- und Wertehierarchien gesetzt werden. Die Formulierung einer ästhetischen Theorie bedarf einer bestimmten Menge isomorpher Merkmale aus einer kontingenten Anzahl exemplarischer Werke. Der Phase der Formulierung eines ästhetischen Wertesystems folgt die Phase der Anwendung. Der semantische Raum einer expliziten, ästhetischen Theorie wird auf ein neues Werk übertragen, das nicht zum Kanon der exemplarischen Werke ihrer Formulierung gehörte. Es wird deutlich, daß es sich um ein historisch beschränktes System handelt: die Semantik einer ästhetischen Theorie ist stets durch ›veraltete‹ Werke determiniert.[22]

Erscheinen diese Begriffe und Bezüge einer ästhetischen Theorie auf philosophischer und kunsttheoretischer Ebene diskutabel und verhandelbar, so zeigt sich doch, daß ihre realen, (kultur-) politischen Machtimplikationen nicht frei zur Disposition stehen. Die Definitionsmacht über zentrale Begriffe wie Sinn, Wahrheit und Schönheit rührt an die Grundfesten menschlichen Seins. Ästhetische Systeme setzen Begriffe in Verbindung und Abhängigkeit und erschaffen damit Arten und Weisen, Welt zu denken. Sich der manipulativen Macht gesellschaftlich gültiger Ästhetik zu entziehen erscheint genauso unmöglich, wie sie individuell auszuüben.[23]

Der Ansatz von Peter Weibel zur Beschreibung der Transformation von ästhetischen Systemen basiert auf einem marxistischen Modell.[24] Seine klare und strukturierte Darstellung der Transformation klassischer Ästhetik krankt meiner Meinung nach lediglich an der Vorstellung, Macht ließe sich überwinden.[25] Die bleibende Dominanz klassischer Ästhetik liegt seiner Auffassung nach im Klassenkampf begründet. Sie basiert auf der Ontologie des statischen Bildes und negiert Dynamik, Immaterialität und Zeitform. Technisch produzierte Kunst basiert dagegen nicht auf einem statischen Seins-, sondern auf einem dynamischen Zustandsbegriff. Das gesellschaftlich dominante Interesse der Besitzstandswahrung aber verhindert die Durchsetzung einer prozessualen Ästhetik. So haben sich Wissensmonopol und Bürgerkultur unbeeinflußt von der ersten, industriellen und zweiten, postmodernen (elektronischen) Revolution behaupten können. Die Anschlüsse der musikalischen Ästhetik an die hier vorgestellte Transformation einer primär visuellen Ästhetik erfolgen in den folgenden Kapiteln.

Die klassische Ästhetik erschließt sich uns bereits als Hilfskonstruktion, mit der die gestörten Relationen zwischen Mensch, Natur und Kunstwerk bzw. Kunst, Sein und Wahrheit gestützt werden sollen. Sie ist maßgeblich geprägt durch das Denken Immanuel Kants, einem Vertreter des kritischen Idealismus. Kunst wurde in ihrer Relation zum weltlichen Objekt gedacht. Die Kunstschönheit war damit die durch die zwischen Werk und Objekt etablierte Relation übertragene, natürliche Schönheit. Ausgehend vom Paradoxon der Möglichkeit, Schreckliches in der Kunst schön abzubilden, fand Kant zur Lösung des ›schönen Scheins‹:

»Schöne Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint. An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei. […] Die Natur war schön, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht«.[26]

Kant löst das Problem durch die Auflösung der übertragenden Relation zwischen Werk und Objekt. Die Repräsentanz[27] der Objekteigenschaften im Kunstwerk entspricht nicht mehr den tatsächlichen Objekteigenschaften. Die künstlerische Repräsentation eines Objekts ist nur in sofern schön, als wir die künstliche Schönheit als solche und davon unbenommen die Relation zum Objekt erkennen. Um die Kunst durch diese Hilfskonstruktion aber gegenüber der Natur nicht abzuwerten (die ja ohne notwendige Relation zu einem außerhalb stehenden Bezugspunkt ›schön‹ ist), muß Kunstschönheit werthaltig mit Naturschönheit gleichgesetzt werden. Der Absichtslosigkeit und Freiheit der Naturschönheit steht aber die absichtsvolle Zweckmäßigkeit der Künstschönheit gegenüber. Der natürlichen Ordnung setzt das System der Kunst das willkürliche Regelwerk der Kunsttheorie entgegen. Die Gleichsetzung erfordert also den ›Schein‹:

»Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d. i. schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein«.[28]

Kunst wird so zur Illusionskunst. Sie ist aus Regeln und mit Absicht herzustellen, darf diese Gemachtheit aber nicht offenbaren, sondern muß ›natürlich‹ scheinen. Sie soll uns die Wahrheit über die Welt offenbaren, und ist doch im Urgrunde ihres Seins ›falsch‹.

Ein noch größeres Problem erwächst aus der Regelhaftigkeit der Kunst. War der Künstler in der Sphäre der Naturschönheit noch frei und an keine Regeln gebunden, schränkt das Konzept einer regelnden Kunsttheorie die Kreativ-leistung des Schaffenden ein. Kant rettet sich mit der Etablierung des Genie-begriffs. Die Originalität des Genies schafft eine verhandelnde Position zwischen Natur und Kunst. Das Schaffen des Originalgenie gibt der Kunst Regeln vor, ist aber selber regellos und nur durch das Gefühl der Erhabenheit geleitet.

»Zum Schönen der Natur müssen wir einen Grund außer uns suchen, zum Erhabenen aber bloß in uns und der Denkungsart, die in der Vorstellung der ersteren Erhabenheit hineinbringt«.[29]

Zum Kriterium der Regelhaftigkeit tritt mit der Erhabenheit noch ein Konzept hinzu, das sich nicht im Naturobjekt, sondern nur im urteilenden Subjekt selber findet. So ist nur das menschliche Genie fähig, ›schöne‹, und damit werthaltige Kunst zu schaffen. Durch den Geniekult der Romantik ist der Genie-Begriff zum wohl hartnäckigsten Konzept klassischer Ästhetik und kulturpolitischer Macht geworden. Das Konzept des Originalgenies hat alle technische, mechanische und konzeptionelle Kunst abgewertet und ihm allenfalls den Status des Kunsthandwerks zugebilligt. Die im Barock noch bestehende Verbindung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (als Disziplinen der Kunstwissenschaft) wird damit in der Klassik getrennt. Kunst und Technik werden Antipoden. In der Technik gibt es keinen Platz für das Wirken eines Originalgenies. So erben wir mit Kant den Mythos vom Original und vom schöpferischen Genie.

Erst als sich die Künstler in der historischen Avantgarde wieder zum Stellenwert des Technischen im Produktionsprozeß des Kunstwerks bekannt haben, beginnt die Macht von Kants Begriffssystem zu wanken. Die Bestrebungen einer Mechanisierung und Automatisierung des Schaffensprozesses stellen eine direkte Kampfansage an die Begriffe dieser Ästhetik dar. Die Sinnentleerung der Kunst, wie sie der Dadaismus vollzogen hat, ist eine Antwort auf die geistige Überfrachtung der Kunst im Erbe hegelianischer Geisteskultur. Diese Gegenbewegungen zur klassischen Ästhetik werden gemeinhin mit einer Position von ›Anti-Kunst‹ assoziiert.[30]

Die historische Avantgarde richtete sich auch fast geschlossen gegen das etablierte und um feste Institutionen zentrierte Kunstsystem. In einer Attitüde der Revolution und des Skandals versucht sie sich gegen das Produktions- und Distributionssystem der Museen und Konzertsäle aufzulehnen. Die Kunst fand dabei zu neuen Orten und Selbstdefinitionen. Inwieweit sie aber selber wieder dem ›schönen Schein‹ einer pseudo-revolutionären Inszenierung verfiel, bleibt zu klären.

Das fundamentale Beziehungsgestell der klassischen Ästhetik ist das Dreieck Werk, Wahrheit und Sein: im Kunstwerk entbirgt sich uns Wahrheit über unser Sein. Dieses Fundamental-Tripel wird durch die technische Kunst, sofern sie ›Anti-Kunst‹ ist transformiert. Es kommt zu Kunstwerken ohne Wahrheit und ohne Sein, ja selbst zu Werken ohne Werk und ohne Kunst. Es kommt zu anonymen Werken und kollektiver Kunst, die dem Originalgenie den Kampf ansagt. So führt die technische Kunst die Schöpfungskraft der Natur fort und erhebt sich aus der Sphäre der Ontologie hin zum sozialen Akt:

»Insofern ist Technik die Konstruktion des Universums als Morphogenese des Menschen, ist Technik der Text der Natur im Buch des Menschen […] Das Wesen der Technik ist also weniger das Sein als der Mensch selbst. Technik ist nicht mehr das Werkzeug, sondern das Schaffen von Werkzeugen und Werken. […] Insofern geht es bei der Technik weniger um die Unterscheidung von Handwerk und Kunst, oder von Natur und Kunst oder Sein und Mensch, sondern von Wissen und Nichtwissen«.[31]

Das fundamentale Beziehungsgestell der technischen Ästhetik ist also das Dreieck Mensch, Sein und Technik. Die Technik verstellt dem Menschen nicht den Weg zur Natur, sondern sie stellt durch ihr Wesen des Entbergens von Wahrheit menschliche Freiheit her.

»Diese dubiose Dialektik der Kehre, wonach die Technik sowohl Wahrheit entbirgt wie verbirgt, wonach die Technik sowohl die Gefahr wie das Rettende, sowohl das Sein wie Feind des Seins ist, rührt im Grunde aus der schöpferischen Funktion und schöpferischen Bestimmung der Technik selbst her. Durch die Macht des Herstellens tritt die Technik gleichsam in Konkurrenz zur Natur«.[32]

Das Problem der technischen Kunst ist das ›Ge-Stell‹ der Technik, das sich als Apparatur in die Relation von Objekt und Werk einschleicht und auf einen Platz in der ästhetischen Theorie drängt. Durch seine bloße Präsenz aber setzt es die Kategorien wie Autonomie, Schöpfer und Originalität außer Kraft. Die Bestätigung des materiellen Apparates des Kunstwerkes aber stellt die Unmittelbarkeit der Entbergung des Seins in Frage.[33]

»Die ontologische Begründung des Kunstwerkes ist nur möglich, wenn ich die realen, materialen Prozesse der Konstruktion leugne. […] Der technische Apparat der Kunst zeigt, daß es keine Ontologie der Kunst gibt, keine Wesenheiten, sondern nur Konstruktionen von Kunst«.[34]

Um diese Konstruiertheit von Kunst zu verbergen, bemühte Kant seine theoretischen Hilfskonstruktionen. Nur durch die Abwertung und den Ausschluß der Technik aus der ästhetischen Theorie konnte er die ›Natürlichkeit‹ der Kunst simulieren und die Trias aus Werk, Wahrheit und Sein aufrechterhalten. Die Techno-Transformation hat das Begriffssystem der klassischen Ästhetik konsequent in Frage gestellt und damit Wahrnehmung und Denkbarkeit neuer Kunstformen erst ermöglicht.

3. Technik in der musikalischen Kunsttheorie

Jede künstlerische Disziplin besitzt ihre eigene, ästhetische Problematik. So finden sich zwar übergreifende Themen und Begrifflichkeiten, die spezifische Ausprägung im Werk, implizite Wertkategorien und die Positionierung der Begriffsfelder aber differieren. Der Fokus der klassischen Ästhetik nach Immanuel Kant und Georg W. Hegel liegt auf der Abbildung von Natur und der Entbergung von Wahrheit über die Welt. Diese Zielsetzung der Kunst ist mit dem Wert- und Schönheitskriterium verbunden. Die notwendige Unmittelbarkeit der Relationen bedingt die Okkultation aller technischen Aspekte der Kunstproduktion.

Die Musik sah sich auf theoretischer und ästhetischer Ebene schon immer besonderen Anforderungen ausgesetzt. Als transitorische Kunst ist sie radikal der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit ausgeliefert. Sie ist immateriell und abstrakt. Zudem ist sie der Abbildung von äußeren Objekten nur sehr bedingt bis gar nicht fähig. Dies führte in der Kunstmusik des Abendlandes zu spezifischen Dualismen. Als transitorische Kunst kann Musik nicht ›vorgefunden‹ werden, sondern zerfällt in den Dualismus von Komposition und Interpretation. Der musikalische Künstler definiert sich im Spannungsfeld dieser beiden Begriffe. Der Schöpfer eines musikalischen Werkes hat seine auktoriale Position stets zu teilen. So muß die abstrakte Klangvorstellung zuverlässig tradierbar sein. Die Immaterialität der Musik bedingte also ein Speichermedium. Dies wurde im Zeichensystem einer Schrift gefunden. Noch heute ist das Bild dominant, das den Komponisten als Literaten stilisiert: einen ›Schreiber von Partituren‹. Die Verbindung der Musik mit anderen Künsten, primär der Literatur, erweitert sie um die Möglichkeit der Abbildung. Der Dualismus von absoluter und programmatischer Musik eröffnet ein weiteres ästhetisches Spannungsfeld. Die Verbindung von Text und Musik erscheint dabei so natürlich, daß sie nur selten bewußt als hybride Kunstkonstruktion wahrgenommen wird.

Die ästhetische Konstruktion einer Unmittelbarkeit in der Relation ›Produzent – Werk – Rezipient‹ ist in der Musik schon durch den Interpreten unmöglich. Zudem schiebt sich mit dem Klangerzeuger, der technischen Appa-ratur des Instruments als Werkzeug, ein weiteres Element in die ästhetische Theorie. Die musikalische Kunsttheorie ist also gezwungen, in zentralen As-pekten der Kantschen Ästhetik eigene Wege zu gehen, koppelt sich aber nicht völlig von den Themen ab. So ist die Wahrnehmung technischer Elemente im Kontext der Tonkunst zwar stets gegenwärtig, steht der Konstruktion des Komponisten als Originalgenie aber nicht im Wege. Der Wandel des Kom-ponisten vom komponierenden und improvisierenden[35] Musiker am Instru-ment zum Literaten am Schreibtisch ist ein Phänomen der Dominanz abend-ländischer Schriftkultur. Die Komposition ist nicht nur ein kreativer Akt, sondern vor allem die Technik der Überführung einer abstrakten klanglichen Vorstellung in ein schriftliches Notat. Die Schrifttechnik ermöglicht sogar den (z. B. rein mathematischen) Entwurf einer Komposition, die nicht vom Klang ausgeht.[36] Auf Seiten der Interpretation des Schriftbildes zur Klangvorstellung übernimmt so zunehmend der Interpret die vom Komponisten abgefallenen praktisch-musikalischen Attribute. Die Freiheit des Künstlers in der Improvisation wechselt zum Interpreten und führt zur Entwicklung des Virtuosentums. Hier wird die Technik durch Fragen der Spieltechnik und der Vervollkommnung des Instrumentariums präsent. Der Instrumentenbau, also die Konstruktion mechanischer Apparaturen zur Klangerzeugung, eröffnete schon der Mechanik des Barock die Möglichkeit einer ›Reproduktion‹ von Musik durch Automation.[37] Der nicht immer als Vorteil empfundene Dualismus von Interpret und Komponist hielt den Wunsch nach einem technischen Speichermedium für den musikalischen Klang wach. Der ›künstliche Musiker‹ wurde so zum Vorreiter einer Mechanisierung des Menschenbildes.

Die technische Entwicklung neuer Aufzeichnungsmedien für Klänge und Bilder am Ende des 19. Jahrhunderts führte in allen Künsten zu zentralen Paradigmenwechseln. Die Technik der Fotographie wurde als Krise der Malerei begriffen. Ihr zentrales Anliegen der Abbildung wurde durch das neue Medium deklassiert. Letztendlich stellte sie aber den entscheidenden Antrieb und die Möglichkeit dar, sich von der Bindung an die Relation zum Objekt und von der künstlerischen Aufgabe einer Abbildung der Natur zu befreien. Eine ähnliche Funktion erfüllte die Erzeugung und Speicherung von Klängen durch die Maschine.[38] Sie befreite den Komponisten vom Interpreten und machte seine Komposition unabhängig vom Notat. Sie ermöglichte den Prozeß der Komposition vom Bild des Schreibens abzulösen[39] und allmählich zum heute (vor allem im Bereich der U-Musik) dominanten Bild des ›Produzierens‹ von Musik zu überführen. Durch die Integration der Maschine in den Schöpfungsprozeß der Tonkunst (z. B. in der elektronischen Musik) wurde die Realisation von Klängen ermöglicht, die sich einem Notat, und damit einer Verwendung im klassischen Sinne entzogen. Es ist also zwischen der Integration der Maschine in den Bereich der Interpretation und der Komposition zu differenzieren.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand die Aufnahme von Maschinenklängen ins klassische Instrumentarium im Vordergrund. Die Musiktheorie stand damit vor einem eher geringfügigen Problem: anders als in den Nachbarkünsten war Technik doch durch das ›Instrument‹ implizit schon immer im künstlerischen Prozeß präsent gewesen.[40] Klangmaschinen wie das Grammophon, der Geräuschtöner oder der filmische Lichtton bewirkten aber eine Veränderung der Tonkunst auf anderer Ebene. Hatte die verbesserte Abbildungsfähigkeit der technischen Apparatur zur Krise des Abbilds in der Bildkunst geführt, so wurde durch die Möglichkeit der Reproduktion von ›natürlichen‹ Geräuschen die Abbildung in die Musik erst integriert. Der Klang der Objekte und das natürliche Geräusch konnte aufgezeichnet, gespeichert und in den Konzertsaal eingeführt werden. So wurden neue musikalische Formen wie das Hörstück (für das neue Medium des Hörfunks) oder die Filmmusik als Vertonung des Bildes mit Musik und Geräusch ermöglicht. Der ›Soundtrack‹ des Films führt als ›Klangspur‹ so in direkter Linie zur ›Sample‹-basierten Musikproduktion heutiger Zeit.[41]

3.1. Wegbereiter: Kunsttheorie um 1850

3.1.1. Richard Wagner »Das Kunstwerk der Zukunft«

Das Denken Richard Wagners entspringt der spätromantischen Epoche, von der sich die historische Avantgarde in Abgrenzung definierte. Sein musikalisches und musiktheoretisches Werk blieb aber in zentralen künstlerischen Kategorien auch in zahlreichen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts von hoher Bedeutsamkeit. Er wurde zur Folie der negativen Abgrenzung: statt einer klaren Definition des Neuen, gründeten sich viele Bewegungen aus der Ablehnung des Alten. Seine musikästhetische Übermacht aber konnte nicht gebrochen werden. Er muß als Vater vieler künstlerischer Bestrebungen und Utopien gelten, die erneut in die Programme der Avantgardisten Einzug hielten.

Durch die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung, insbesondere der Optik und Akustik, erscheint der in der Romantik zum Programm gereifte Gedanke einer synästhetischen Kunst und Wahrnehmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts obsolet geworden zu sein.[42] Die zahlreichen Theorien und Konstruktionen einer naturgegebenen Verbindung zwischen Ton und Farbe lassen sich nicht verifizieren, und die lange Geschichte der Synästhesie[43] findet in den Augen einiger Naturwissenschaftler in der romantisierten Übersteigerung und Verklärung dieser ›künstlerischen‹ Wahrnehmungsform ihre adäquate Repräsentanz und Vollendung. Doch die künstlerische Auseinandersetzung mit der Farbe-Ton Beziehung überlebt den wissenschaftlichen Dolchstoß, sie beginnt mit der letztgültigen Verwerfung eines biologistischen Zusammenhangs der Sinneswahrnehmungen sogar erst ihren Siegeszug und bleibt bis in die heutige Zeit in den Diskursen um Musikvideo und Multimedia präsent.[44] Innerhalb des Untersuchungszeitraumes dieser Arbeit ist die Bauhaus-Bewegung zentraler Vertreter eines synästhetischen Ansatzes.

Auch der für Wagner zentrale Begriff des Gesamtkunstwerks erfährt zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ›Renaissance‹. Wagners Konzept eines durch das Genie einer die ›gesamte‹ Kunst authentisch in sich vereinenden Person geschaffenen Gesamtkunstwerks galt in Ermangelung potenter Künstler zunächst als Sackgasse. Die Ausnahmesituation einer Einheit von Ort, Werk und Künstler, wie sie Wagner mit den Bayreuther Festspielen entworfen hatte, erwies sich für die ›alltägliche‹ Kunstproduktion auf Seiten der Schöpfer und Veranstalter als unpraktikabel. Der Traum vom Gesamtkunstwerk erwachte aber unter geänderten Vorzeichen sehr bald von Neuem und wurde zum zentralen Aspekt fast aller Strömungen der historischen Avantgarde. Verknüpft mit den Ansätzen einer neuen, synästhetischen Kunst auf der Basis technischer Entwicklungen wie Film und Radio, mündet das Gesamtkunstwerk schließlich in der Medienkunst,[45] die die künstlerischen Einzeldisziplinen im Rahmen des jeweiligen technischen Mediums vereint und zu einem Mehrwert führt. Um die Bedeutung und den Stellenwert des Technischen in der Transformation des aus dem Musikdrama stammenden Gesamtkunstwerk-Gedankens in den ästhetischen Schriften der historischen Avantgarde nachvollziehen zu können, ist es daher notwendig, sich zunächst mit dem Wagnerschen Konzept auseinanderzusetzen.

Richard Wagner gehört zu den wenigen Komponisten, die auch ein reichhaltiges musikästhetisches Schriftentum hinterlassen haben. Von besonderer Bedeutung für die Klärung seiner Vorstellung von einem Gesamtkunstwerk und seiner Haltung gegenüber der Technik sind zwei Schriften aus seiner Züricher Zeit: »Die Kunst und die Revolution« und »Das Kunstwerk der Zukunft« von 1849. Das von Wagner in diesen Schriften entworfene Kunstwerk und der Künstler der Zukunft führte in der Folgezeit zum Begriff ›avveniristi‹ (Zukunftsmusiker), und war, von konservativen Künstlern geprägt, als höhnischer Spottname im Gebrauch. Die Aneignung und positive Umdeutung des ›Künstlers der Zukunft‹ durch den Futurismus etablierte (bewußt oder unbewußt) eine direkte Beziehung zum Schriftentum Wagners, daß zum einen Teil ästhetisch, zum anderen religionswissenschaftlich geprägt ist. Wagner verknüpft die Kunst stets mit dem Göttlichen, die Fortentwicklung des Menschen durch die Kunst mit der Eschatologie. Auch der Futurismus kann sich in seiner Verkündigung der zukünftigen, technischen Heilserwartung und der Erschaffung des neuen Menschen mit den Mitteln der Kunst eines eschatologischen Anstrichs nicht erwehren. Der geschichtliche Theozentrismus unserer Kultur wird im Futurismus durch einen Technozentrismus ersetzt. Der Künstler als Schöpfer avanciert so zum Theo-/Technologen eines neuen Zeitalters, zum Priester-Gott der neuen Technik-Religion.

Wagners Schrift »Die Kunst und die Revolution« knüpft an die gesellschaftliche Situation seiner Zeit nach der gescheiterten Februarrevolution von 1848 an und verquickt gesellschaftspolitische Fragen mit einer Kunstästhetik (bzw. kulturpolitischer Programmatik). Ihm dient die Kunst des antiken Griechenlands als Idealbild der ›reinen‹ Kunst. Sie entstand aus dem Wirken der »aus innerer Naturnothwendigkeit aufgesproßten Künste«,[46] das sich »wie in einem Brennpunkt vereinigte, um das höchste erdenkliche Kunstwerk, das Drama, hervorzubringen«.[47] Dieses ›native‹ Gesamtkunstwerk vereinte die Künste und die Gesellschaft, die sich geschichtlich überhaupt noch nicht als trennbar wahrgenommen hatten. Die Kunst war Bestandteil der Gesellschaft und stand zu ihr in einem reziproken Abbildungsverhältnis. Wagner unterstellt zudem eine Einheit des griechischen Volkes auf der Basis eines ›Wesens‹, das im Denken und Handeln aller Griechen seinen Ausdruck fand. So war auch das mannigfaltige Kunstwerk Ausdruck griechischen Wesens in seiner Gesamtheit:

»Bei den Griechen war das vollendete, das dramatische Kunstwerk, der Inbegriff alles aus dem griechischen Wesen Darstellbaren […]. Jede Zerteilung dieses Genusses, jede Zersplitterung der in einem Punkt vereinigten Kräfte […] mußte diesem herrlich einen Kunstwerke, wie dem ähnlich beschaffenen Staate selbst, nur nachtheilig sein«.[48]

Dem griechischen Kunstwerk kam damit konservativer, den Staat erhaltender und repräsentativer Charakter zu.

Doch Wagner verfällt nicht, wie so viele vor ihm, in unreflektierte Verklärung griechischer Ursprünglichkeit. Die von ihm geforderte ›große Menschheitsrevolution‹ unterliegt dem gleichen, ursächlichen Übel, das er auch als für den Niedergang griechischer Kultur verantwortlich ausmacht: der Sklaverei. Von dieser, durch den Kapitalismus und die Industrialisierung erneut und effektiv eingeführten Geißel der Menschheit will Wagner die Menschheit befreit sehen. Er erweist sich damit nicht nur als Anhänger linkshegelianischen Geistes, sondern in seiner durchgängigen Kapitalismuskritik und Forderung einer Menschheitsrevolution auch als Mit- und Vordenker des Marxismus.

Die Sklaverei war die ›faule‹ Grundlage, die den griechischen Staat unterminierte und letztendlich das griechische Wesen, und damit auch die Einheit der (griechischen) Kunst, in sich zusammenstürzen ließ.

»Wie sich der Gemeingeist in tausend egoistische Richtungen zersplitterte, löste sich auch das große Gesamtkunstwerk der Tragödie in die einzelnen, ihm inbegriffenen Kunstbestandtheile auf«.[49]

Die Individualisierung der Künste ist also eng mit der Individualisierung des Menschen verknüpft, der sich am Ende der Einheit des Volkes unter dem Sinnbild des griechischen Staates zur Subjektivierung gezwungen sah. Ein gesellschaftlicher ›Gemeingeist‹ ist nur noch schwerlich wahrzunehmen und stets von der Kunst des Individuums getrennt. Das reziproke Abbildungsverhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft hat sich zu einer monodirektionalen Interpretation der Gesellschaft durch das Künstler-Individuum gewandelt. Nur dadurch kann der ›konservative‹ Charakter der griechischen Kunst zur revolutionären Kunst der Gegenwart werden, denn »bei uns ist die echte Kunst revolutionär, weil sie nur im Gegensatze zur gültigen Allgemeinheit existirt«.[50] Kunst und Künstler etablieren sich in einer Absatzbewegung und Individualisierung gegenüber einer (unterstellten) Einheit und Vermassung der Menschen in der Gesellschaft. Genauso müssen Kunst und Künstler sich aber auch von der (unterstellten) Einheit der etablierten und tradierten Kunst abgrenzen, um in ihrem Individualisierungsprozeß nicht in Abhängigkeiten zu geraten. Auf diese Art und Weise erscheint der Zwang zum ›Neuen‹, ›Revolutionären‹ und ›Freien‹ in der Kunst erklärbar.

Die neuzeitliche, kapitalistische Versklavung der Menschheit bricht sich laut Wagners Denken in jeder Form monetärer Entlohnung ihren subversiven Weg und entwertet die entlohnte Arbeit, indem sie sie zum Mittel eines (Geldbeschaffungs-) Zwecks macht. Die Bezahlung des Künstlers durch die Öffentlichkeit versetzt ihn automatisch in die Sphäre des Kunsthandwerkers. Die ›reine‹ Kunst der antiken Griechen wurde nach Wagners Meinung nur durch die Zustimmung der Bevölkerung entlohnt und entzog sich so den Zwängen der Versklavung.[51] Kapitalistische Kunst wird durch die Nähe zum Handwerk in die Nähe des potentiell Maschinellen und Automatisierbaren versetzt und entwertet.

»Der Künstler hat, außer an dem Zwecke seines Schaffens, schon an diesem Schaffen […] selbst Genuß; sein Schaffen ist ihm an und für sich erfreuende und befriedigende Thätigkeit, nicht Arbeit. Dem Handwerker gilt nur der Zweck seiner Bemühungen […] ; die Thätigkeit, die er verwendet, erfreut ihn nicht, sie ist ihm nur Beschwerde, […] die er am liebsten einer Maschine aufbürden möchte«.[52]

Der Begriff des Handwerkers ist bei Wagner nicht mehr positiv besetzt, sondern wird im kapitalistischen Zusammenhang in die Bedeutungssphäre der Sklaverei gerückt. Grade bei der Arbeit am Bau sieht Wagner den Übergang vom rein Handwerklichen (der für das Bauwerk absolut notwendigen Arbeit) zum Kunsthandwerklichen (der gestalterischen Ausschmückung) deutlich repräsentiert. An der gleichen Stelle setzt später auch Walter Gropius an.

»Das Bauhaus erstrebt die Sammlung alles künstlerischen Schaffens zur Einheit, die Wiedervereinigung aller werkkünstlerischen Disziplin zu einer neuen Baukunst […] Das letzte, wenn auch ferne Ziel des Bauhaus ist das Einheitskunstwerk – der große Bau […] Der beherrschende Gedanke des Bauhauses ist also die Idee der neuen Einheit, die Sammlung der vielen ›Künste‹, ›Richtungen‹ und Erscheinungen zu einem unmittelbaren Ganzen, das im Menschen selbst verankert ist und erst durch das lebendige Leben Sinn und Bedeutung gewinnt«.[53]

Auch für Gropius steht die Fusion der Künste und ihr Zusammenwirken im Einheitskunstwerk im Vordergrund. Im Bau möchte er das Gesamtkunstwerk realisiert und die Handwerkskunst rehabilitiert sehen.[54] Doch die neue Macht der kapitalistischen Technik wird auch von Anhängern der Bauhausbewegung kritisch bewertet. So zweifelt selbst Oskar Schlemmer an der möglichen Restauration des mittelalterlichen Kunsthandwerkerwesens:

»Ich glaube nicht an das Handwerk. Das Handwerk des Mittelalters stellen wir nicht wieder her, so wenig wie die Kunst des Mittelalters, auch nicht relativ im entsprechenden modernen Sinn. Es ist überholt durch die ganze moderne Entwicklung. Handwerkliches Kunstgewerbe im Zeitalter der Maschine und Technik wird Ware für die Reichen, ohne die breite Basis von ehedem und Wurzel im Volk […] Ich glaube nicht, daß das Handwerk, wie wir es am Bauhaus treiben, über das Ästhetische hinaus tiefere soziale Aufgaben erfüllen kann«.[55]

So machen Maschine, Technik und industrielle Produktion in letzter Konsequenz in der kapitalistischen Gesellschaft eine technische Kunst unmöglich. Denn gibt, wie schon Wagner erkannte, der Kunsthandwerker

»das Produkt seiner Arbeit von sich, bleibt ihm davon nur der abstrakte Geldeswerth, so kann sich unmöglich seine Thätigkeit je über den Charakter der Geschäftigkeit der Maschine erheben; sie gilt ihm als Mühe, als traurige, saure Arbeit. Dieß Letztere ist das Loos des Sklaven der Industrie; unsere heutigen Fabriken geben uns das jammervolle Bild tiefster Entwürdigung des Menschen: ein beständiges, geist- und leibtötendes Mühen ohne Luft und Liebe, oft fast ohne Zweck«.[56]

Das Technische und Maschinelle wird Wagner also zum Sinnbild der kapitalistischen Versklavung und Entwürdigung des Menschen. Die geforderte Menschheitsrevolution hat den Menschen wieder mit seiner Arbeit und die Gesellschaft mit der Kunst zu vereinen. Die Einheit dieser Gesellschaft aber darf nicht wie im antiken Griechenland auf dem Trugbild einer durch Ausbeutung und Versklavung gegründeten Zivilisation beruhen.[57] Die Kunst der neuen Gesellschaft soll das nicht ›wieder‹, sondern ›neu‹ zu gebärende Gesamtkunstwerk des Dramas werden. Die Tragödie soll den Geist aller Völker einen und als »Kunstwerk der Zukunft den Geist der freien Menschheit über alle Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen«.[58]

Diese Programmatik führt Wagner zur Abfassung seiner Schrift vom »Kunstwerk der Zukunft«, in dem der Gedanke vom Gesamtkunstwerk im Vordergrund steht. Entgegen seiner eigenen künstlerischen Realität entwarf er das Gesamtkunstwerk aber nicht als Großtat eines Einzelnen. Wagner wußte sich zwar als Genius und Universalkünstler zu inszenieren, sah die Zukunft des Kunstwerkes aber möglicherweise schon unter dem Vorzeichen einer Dekonstruktion des singulären Autors:

»Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesamtkunstwerk erkennt er [der Geist] nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft«.[59]

Laut Wagners Meinung, kann der schöpferische Geist in der Gegenwart unter den Zeitgenossen voll »willkürlicher Eifersucht« keinen Anschluß finden und schöpft damit »in einsamer Gemeinsamkeit mit sich und der Menschheit der Zukunft«.[60] Mit Hilfe dieser Konstruktion versuchte Wagner sich meiner Meinung nach schon zu Lebzeiten in den Adelsstand der ›künftigen‹ Künstlergeneration zu erheben. So schaffte er den Spagat zwischen dem von ihm entwickelten Zukunftstypus des Künstlers und seinem eigenen Status als ›romantischem‹ Genius. Im Geiste bereits Kollektivkünstler, mußte er seinen Personenkult weder aufgeben noch theoretisch verantworten.

Noch präziser formuliert Wagner diesen Anspruch im Kapitel über den ›Künstler der Zukunft‹: »Wer wird also der Künstler der Zukunft sein? […] Nothwendig die Genossenschaft aller Künstler «.[61] Nehmen wir, wie bereits angedeutet, die Futuristen als legitime Erben dieses Entwurfes eines Zukunftskünstlers an, so stoßen wir bei ihnen zwar auf gesamtkunstwerkliche Bestrebungen, gleichzeitig aber auch auf die Fortschreibung und Bestätigung des singulären Autors nach dem Modell des tatsächlichen Künstlers ›Wagner‹. So waren viele mit dem Futurismus assoziierte Künstler gleichzeitig als Maler, Musiker und Poeten tätig. Pratella fordert im »Manifest der futuristischen Musik« sogar stets die Einheit von Komponist und Textdichter zu wahren.[62] Wie Peter Weibel interpretieren würde, ist es eine Strategie des Klassenkampfes, die das Wertesystem der abendländischen Kunst stets nach einem singulären Autor fordern läßt und Kollektivleistungen abwertet.[63]

Wagner zeichnet eine Menschheitsgeschichte entlang der Begriffe Natur, Kultur und Kunst, die er auf mannigfacher Ebene verwendet. So ist der Naturzustand der Kunst die Lyrik bzw. das griechische Drama, das aus »drei reinmenschlichen Kunstarten in ihrem ursprünglichen Vereine«[64] besteht. Diese sind Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst, die ihrem Wesen nach untrennbar sind und als Einzeldisziplinen lediglich »leben- und bewegungslos nur ein künstlich angehauchtes, erborgtes Leben noch fortführen«.[65] Dies beschreibt den Kulturzustand der Gegenwart, während der wahre Kunstzustand erst im ›Kunstwerk der Zukunft‹ erreicht werden kann. Aber auch die Geschichte der menschlichen Zivilisation faßt er mit der Trias dieser Begrifflichkeiten in die Epochen des antiken Griechenlands, der Neuzeit und der zukünftigen, übernationalen Weltgemeinschaft.

Die Tonkunst siedelt Wagner als verbindendes Element zwischen den Gegensätzen der Tanz- und Dichtkunst an. Die ihr ureigene Kategorie des Rhythmus teilt sie mit dem Tanz, die der Melodie mit der Dichtung. Die Harmonie aber bleibt ihr alleine vorbehalten. Die besondere Befähigung der Tonkunst zur Abfassung absoluter Kunst[66] war im Laufe der Geschichte oftmals Grundlage eines angenommenen Primats der Musik über die anderen Künste. In vielen Strömungen der historischen Avantgarde wird die Forderung laut, diese Absolutheit auf die anderen Künste zu übertragen und dort zu analogen, selbstreflexiven Werken zu finden. Die absolute Musik wurde jedoch von Wagner[67] als zutiefst unnatürlich empfunden. Ihren sinnbildliche Ausprägung findet sie in der Kompositionstechnik des Kontrapunktes:

»Der Kontrapunkt, in seinen mannigfaltigen Geburten und Ausgeburten, ist das künstliche Mitsichselbstspielen der Kunst, die Mathematik des Gefühls, der mechanische Rhythmus der egoistischen Harmonie. In seiner Erfindung gefiel sich die absolute Tonkunst dermaaßen, daß sie sich einzig und allein als absolute, für sich stehende Kunst ausgab […]. In ihrem Stolze war daher die Musik zu ihrem geraden Gegentheile geworden: aus einer Herzens angelegenheit zur Verstands sache, aus dem Ausdrucke unbegränzter christlicher Gemüthssehnsucht zum Rechenbuche moderner Börsenspekulation«.[68]

Wagner muss als Kenner der Musikgeschichte bewußt gewesen sein, daß der Kontrapunkt den Großteil christlicher, kirchenmusikalischer Musik bestimmte, während die Anfänge der modernen Börsenwelt von den gefühlsbetonten Klängen der Romantik umweht wurden. Wichtiger als geschichtliche Korrektheit erscheint Wagner aber die erneute Verknüpfung von unnatürlicher Technizität und Kapitalismus (Börse) gewesen zu sein. Das Technische aber steht aus Wagners Sicht dem Menschen und der Natur entgegen. Die Entfremdung des Menschen von der Natur erscheint mittels der Kunst überwindbar, könnte dieser nur endlich von der Maschine lassen. Den Begriff der Maschine verwendet Wagner bereits im Sinne seiner Zeit in einem semantisch sehr weiten Verständnis für diverse Phänomene der Kultur. So beschreibt er auch das Aufkommen neuer ›Moden‹ in der Gesellschaft als mechanistischen Vorgang, als eine autopoietische Maschinerie:

»Das Mechanische unterscheidet sich vom Künstlerischen aber dadurch, daß es von Ableitung zu Ableitung, von Mittel zu Mittel geht, um endlich doch immer wieder nur ein Mittel, die Maschine, hervorzubringen«.[69]

Das Maschinelle potenziert das Technische und droht nun den Menschen und die Kunst zu verschlingen:

»So ist denn die Maschine der kalte, herzlose Wohlthäter der luxusbedürftigen Menschheit. Durch die Maschine hat diese endlich aber auch noch den menschlichen Verstand sich unterthänig gemacht; denn vom künstlerischen Streben, vom künstlerischen Auffinden abgelenkt, verläugnet, verunehrt, verzehrt er sich endlich im mechanischen Raffiniren, im Einswerden mit der Maschine, statt im Einswerden mit der Natur im Kunstwerke«.[70]

Im Schriftentum Richard Wagners sind deutlich die Grundthemen der ausgehenden Romantik wie auch des neuen Jahrhunderts zusammengefasst. Seine klar ablehnende Haltung gegenüber der Technik ist eng mit dem marxistischen Gedankengut verknüpft. Die Maschine wird ihm zum Symbol der kapitalistischen Versklavung und Ausbeutung der Menschheit. Die Beschreibung der ›Kunst-Techniken‹ und die Verwendung des Maschinenbegriffs in der phänomenologischen Analyse der Gesellschaft geht aber weit über eine rein gesellschaftspolitische Diskussion seiner Zeit hinaus. Sie liefert die kunsttheoretische und -ästhetische Vorlage, an der sich das Denken der ›Künstler der Zukunft‹ abarbeiten wird. Sein eigenes Konzept einer Zukunftskunst als Gesamtkunst kollektiver Autoren der Völkergemeinschaft wird zumindest in den fortdauernden Bestrebungen der Zusammenführung der Künste aufgegriffen.

3.2. Avantgarde: Kunsttheorie ab 1900

Der Wechsel ins 20. Jahrhundert ist mit einer gesellschaftlichen Stimmung verknüpft, die zum Sinnbild des ›fin de siècle‹ wird. Eine Mischung aus Euphorie und Endzeit. Entfremdung auf der einen, uneingeschränkter Zukunfts- und Fortschrittsglauben auf der anderen Seite. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit hat sie eine derartig radikale Veränderung der Lebensumstände und Beschleunigung der Innovations-Zyklen verkraften müssen wie im 20. Jahrhundert. Die über Jahrhunderte hinweg relativ stabile Position der Technik im Gefüge von Mensch und Natur beginnt plötzlich mit ihrer expotentiellen Expansion. Die Definition und Position des Menschen gegenüber seiner natürlichen und technischen Umwelt gerät dadurch völlig aus dem Gleichgewicht. So kommt dem durch Unwägbarkeit geprägten neuen Zeitalter und der Kunst als seinem verbindenden Nenner auch nur noch der relativ vage Begriff der ›Moderne‹ zu.[71]

3.2.1. Ferruccio Busoni: »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst«

Busonis »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst« erschien 1907 erstmals und fast völlig unbemerkt im Druck.[72] Erst nach der Gründung des Futurismus durch die Veröffentlichung von Marinettis »Manifest des Futurismus« in Le Figaro am 20. Februar 1909 war aber der Boden bereitet, um Busonis Schrift in der Neuveröffentlichung von 1916 die notwendige Aufmerksamkeit zu sichern. So erscheinen viele seiner Ideen im Zuge des Futurismus und speziell des durch Russolos Schrift zur Geräuschkunst von 1913 gegründeten Bruitismus formuliert zu sein. So wurde Busoni auch von Zeitgenossen zum Kreis der Futuristen gerechnet, wogegen er sich stets verwahrte. Selbst Hans Pfitzner sieht sich anlässlich der Neuveröffentlichung von Busonis Ästhetik zur Abfassung einer mit »Futuristengefahr« betitelten, extrem konservativen Streitschrift berufen.[73]

Tatsächlich geht Busonis ästhetische Schrift den Futuristen aber nicht nur voraus, sondern weicht auch in bedeutsamen Details vom Programm der ›Zukunfts-Künstler‹ ab. Entgegen der Attitüde der revolutionären Futuristen bewahrt sich Busoni einen Blick für die Relativität des ›Modernen‹ und lehnt den Bruch mit der Geschichte ab.

»Die vergänglichen Eigenschaften machen das ›Moderne‹ eines Werkes aus […]. Absolut Modernes existiert nicht – nur früher oder später Entstandenes; länger blühend oder schneller welkend. Immer gab es Modernes und Altes«.[74]

Obwohl seine Überlegungen zur Zukunft und Entwicklung der Tonkunst auf einer technischen Weiterentwicklung der Instrumente und einer Erweiterung der chromatischen zur mikrotonalen (enharmonischen) Skalierung des Tonraums beruhen, stellt er die Technik doch nicht vor das Werk. Der Inhalt der Kunst ist von höherem Wert als die Technik. Nur auf diese Art und Weise wird das Kunstwerk unvergänglich:

»Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunstwerk wie im Menschen; technische Errungenschaften […] werden überholt, oder der Geschmack wendet sich von ihnen gesättigt ab«.[75]

Ein Kunstwerk ist nach Busonis Auffassung umso reiner und dauernder, als es sich an das Wesen seiner Kunstgattung und die ihr eigenen Mittel des Ausdrucks hält. Busoni erteilt dem Gesamtkunstwerk also eine deutliche Absage. Die einzelnen Künste sollen nicht verschmelzen, sind sie doch bereits alle durch das gleiche Ziel miteinander verbunden: »nämlich die Abbildung der Natur und die Wiedergabe der menschlichen Empfindungen«.[76]

Nun darf Busoni in seiner Verbundenheit an das ›Unvergängliche‹ früherer Kunst, der Ablehnung zeitgeistiger Bestrebungen um die Fusion der Künste und der kritischen Haltung gegenüber der Technik aber nicht als konservativer Verfechter einer ewigen Wiederkehr des Gleichen und Bewährten interpretiert werden.

»Der Schaffende sollte kein überliefertes Gesetz auf Treu und Glauben hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem gegenüber von vorneherein als Ausnahme betrachten. […] Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und nicht Gesetzen zu folgen. Wer Gesetzen folgt, hört auf ein Schaffender zu sein«.[77]

Das jüngste und noch entwicklungsfähigste Kind unter allen Künsten aber ist für Busoni die Musik.

»Das Kind – es schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. […] Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur selbst. Es ist frei«.[78]

Dieses ›freie‹ Kind wird entgegen seinem Wesen ständig falschen und ›künstlichen‹ Regeln unterworfen, um es zu zähmen, weil die Menschen die Macht dieser höchsten und vollendetsten Kunst fürchten. Wie Pratella[79] kritisiert Busoni die festen, symmetrischen Formschemata, in die die Musik gepresst wird. Nur im freien Vorspiel und Übergang ist die Musik ganz bei sich selbst (ihrer wahren Natur). Zudem wird die Musik auch außerhalb der Einbindung in den Zusammenhang einer gesamtkunstwerklichen Konzeption schon durch jede Form von Programmatik beeinträchtigt.

»Sie wird der vollständigste aller Naturwiderscheine werden durch die vollständige Ungebundenheit ihrer Unmaterialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Unkörperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und dann auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen sein […] und ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener Intensität, die vom ›Begriffe‹ unabhängig ist«.[80]

»Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der Programmmusik aus«.[81]

So erscheint Busoni als Vertreter einer rein technischen Musik, die sich ausschließlich selbstreflexiv mit der ihr immanenten Technik und Systematik auseinandersetzt. Das klassische Beispiel für eine derartige Kunst ist der schon von Wagner abgelehnte Kontrapunkt. Symbolisch steht er für das Verständnis des Terminus ›Absolut‹ in der Musik. Doch dieses Verständnis des Absoluten deckt sich nicht mit Busonis Vorstellung: die damit umschriebene Musik ist formalisiert, ihrer Natur entfremdet, und seiner Meinung nach besser als ›symmetrische‹ Musik zu bezeichnen. Absolute Musik ist ihm der Gegenbegriff zur Gesamtkunst, in der die Einzeldisziplin nicht für sich alleine stehen kann. Die Gesamtkunst aber verknüpft er mit Wagners Entwurf des Musikdramas, das ihm ohne Zukunft und Entwicklungspotential erscheint:

»Wagner, ein germanischer Riese, […] der die Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte […], ist durch die selbstgeschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst«.[82]

Als technisches Grundproblem der Musik macht Busoni die Notation aus: das Transkribieren eines musikalischen Einfalls – die Wahl der Verschriftlichung (verwendetes Notationssystem und Festlegung der Grundparameter wie Taktmaß und Tonart) – stellen bereits eine Transformation und Abkehr vom Original dar.[83] Wie jede transitorische Kunst ist auch die Musik auf die Schrift als Speichermedium und Interpretationsgrundlage angewiesen. Die Entwicklung und Erfindung der Schrift geht auf das menschliche Bedürfnis zurück, sein Wissen über die Welt symbolisch codiert zu speichern. Erhaltene Felsmalereien um 15.000 v. Chr. sind älteste Zeugen eines künstlerischen Zeichensystems, das im Gegensatz zur gesprochenen Sprache auf ›Zeitlosigkeit‹ angelegt ist.

Unsere Schriftsysteme entwickelten sich über das Stadium der Bilderschriften (Piktographie und Logographie) zur phonologischen Schrift. Aufschreibsysteme sind damit originär Abbilder der Natur – Simulationen der Realität – die nicht nur Wissen über die Welt speichern, sondern gleichzeitig auch erschaffen: ein kodifiziertes Symbolsystem gibt eine bestimmte Art und Weise vor, über die Welt zu sprechen. Information wird somit speicherbar, reproduzierbar und übertragbar. Das Schriftkonzept folgt dem Modell der Sprache und stellt sich mit der phonologischen Schrift sogar ganz in ihren Dienst. So übernimmt sie das lineare Zeitkonzept der gesprochenen Sprache. Anders als im Libretto oder Regiebuch des Theaters, steht das verwendete Symbolsystem der Musik aber in keinem ›phonetischen‹ Abbildungsverhältnis. Das Schriftbild der Musik besitzt eine eigene Ästhetik und wird besonders in der Musik des 20. Jahrhunderts zu einer eigenen Form ›bildnerischer‹ Kunst. So gehen Komponisten bewußt den Weg, nicht nur Bilder zu vertonen,[84] sondern Bilder als Repräsentanten oder Improvisationsgrundlagen ihrer Kompositionen zu schaffen. Synästhetische Übersprechungsphänomene sind der Tonkunst also schon durch die Form ihrer Speicherung ›eingeschrieben‹.

Als zentrales Hemmnis einer Weiterentwicklung der Tonkunst nennt Busoni das klassische Instrumentarium:

»Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daß die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert. […Wenn die Musik] zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückkehren soll, […] stehen die musikalischen Werkzeuge zunächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festgekettet«.[85]

»Ich meine, zum abstrakten Klang, zur hindernislosen Technik, zur tonlichen Unbegrenztheit. Dahin müssen alle Bemühungen zielen, daß ein neuer Anfang jungfräulich entstehe«.[86]

Zuletzt erscheint ihm noch das willkürliche System der diatonischen und chromatischen Skala, mit seiner Begrenzung des unendlichen Raums der Tonhöhenabstufungen auf 12 temperierte Töne, als Schranke einer Fortentwicklung der Musik.[87] Die genaue Intonation von Mikrointervallen auf dem klassischen Instrumentarium stößt allerdings an die Grenze menschlicher Fähigkeiten und technischer Möglichkeiten. Für wegweisend erachtet Busoni hier eine Entwicklung seiner Zeit: die Tonerzeugung mittels elektrischer Apparaturen:

»Demnach konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grundton schwingen läßt, eine Anzahl supplementärer Apparate, von welchen jeder einen der Obertöne erzeugt, und konnte solche in beliebiger Anordnung und Stärke dem Grundton zuhäufen. […] Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen Strom und der Luft wählte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch diesen glücklichen Einfall ist es möglich geworden, […] selbst auf große Entfernungen hin, die Klänge des Apparates zu versenden […] Der Apparat sieht aus wie ein Maschinenraum«.[88]

Busoni bezieht sich auf die Entwicklung des ›Dynamophons‹ durch Dr. Thaddeus Cahill und seine Verwendung von Sinuston-Oszillatoren zur additiven Klangsynthese. In der additiven Synthese werden mehrere Sinusschwingungen zu einer komplexen Schwingung gemischt. Mit diesem Verfahren lassen sich (theoretisch) alle möglichen Schwingungen und Klangverläufe synthetisieren. Im Gegensatz dazu ist die subtraktive Synthese, die mittels eines oder mehrerer Filter aus dem Gesamtspektrum Schwingungsanteile entfernt, deutlich leichter, aber auch deutlich unflexibler zu handhaben.

Die 1906 von Dr. Thaddeus Cahill veranstalteten Konzerte konnten (nur) über das Telefonnetz abgehört werden. Die praktische und technische Unmöglichkeit, eine klassische Konzertsituation mit einer Musikmaschine zu inszenieren, die ungefähr 200 Tonnen wog, führte so ganz nebenbei zu einer Frühform der Netzkunst. Busoni beschränkt sich in seiner Schrift aber lediglich auf die Anmahnung neuer Instrumente. Er macht selber keine gezielten Vorschläge zur Art und Konstruktion mechanischer oder elektrischer Musikmaschinen. Erst durch den Futurismus und die Zusammenarbeit von Luigi Russolo und Ugo Piatti entstand mit den ›intonarumori‹ ein neues Instrumentarium, das sich in die Konzertsituation des klassischen Orchesters einfügte. Busoni wirkte später an der Konstruktion eines Viertelton-Klaviers mit, das zwar dem Anspruch einer Erweiterung der intervallischen Auflösung genügte, den Klang des streng determinierten Klaviers aber nicht dekonstruierte. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde durch die Veränderung der Spieltechnik des Klaviers im Expressionismus, besonders durch Béla Bartók und George Antheil vollzogen.[89] Obwohl das Klavier rein technisch auf dem Prinzip des ›Anschlagens‹ basiert, war es bisher nicht zur Gruppe der Schlaginstrumente gerechnet worden. Den größten Entwicklungsschritt hat die ›Befreiung‹ des Klavierklangs aber John Cage zu verdanken, der durch den Eingriff in die Mechanik des Apparates,[90] radikal neue Klänge erzeugte und das Instrument im wahrsten Sinne des Wortes dekonstruierte. Vor allem Igor Stravinsky machte als Musiker des Expressionismus deutlich, daß nicht nur eine veränderte Spieltechnik, sondern bereits eine radikal veränderte Technik der Komposition und Instrumentierung die scheinbaren klanglichen Grenzen des klassischen Instrumentariums überwinden konnte.[91]

3.2.2. Herrmann Bahr: »Expressionismus« & Oswald Spengler: »Der Untergang des Abendlandes«

Der Expressionismus präsentiert sich als kunsttheoretisch schwer zu fassende Gruppierung. Unter dem Epochenbegriff versammeln sich unterschiedlichste Strömungen und Künstler.[92] So verfolgte der Expressionismus auch kein direktes Programm und hinterließ keine Manifeste. Der Begriff des Expressionismus ist in Anlehnung und Abgrenzung zum Impressionismus gebildet worden. Die Kunst des Expressionismus hat aber nicht die Einheitlichkeit einer Richtung erreicht (oder erreichen wollen). So ist auch die Zuordnung von Kunstströmungen und Künstlern zum Expressionismus oftmals erst in späterer Zeit als Akt kunstgeschichtlicher Systematisierung erfolgt und kann sich nicht auf Selbstaussagen der Künstler berufen.[93] So wird sowohl Arnold Schönberg und der hochgradig vergeistigte Satz der Dodekaphonie dem Expressionismus zugerechnet als auch Igor Stravinskys archaische und durch volkstümliche Einflüsse geprägte Stilistik.

»Der weiteste mögliche Begriff von musikalischem Expressionismus, wie ihn Will Hofmann (1954) voraussetzt, umfaßt sämtliche Neue Musik der ersten Phase (1908-1923), also auch die der verschiedenen Avantgarde-Bewegungen (z. B. Futurismus), der folkloristisch orientierten Bewegungen, sowie alles Experimentelle, auch wenn kein Streben nach intensivem Ausdruck bemerklich ist«.[94]

Der Fokus des Expressionismus liegt auf der inneren Welt, dem subjektiven Erleben. So hängt der inneren Einkehr auch immer der Anschein eines Rückzugs aus der Welt an. Symptomatisch in der Musik ist dafür die verstärkte Auseinandersetzung mit sich selber. Der erneute Aufschwung absoluter, kompositionstechnisch determinierter und konstruierter Musik geht mit dieser Entwicklung konform. »Das Material wird um vier Begriffe gruppiert: 1. Irritation (Exaltation), 2. Expression (Expansion), 3. Reduktion (Konzentration), 4. Abstraktion (Kristallisation)«.[95] Was die heterogenen Künstler des Expressionismus also eint, ist ihr negatives Welterleben. Den technischen Zeichen der Zeit begegnen sie durch Rückzug ins Abstrakte oder Rückbezug aufs Archaische (›Vor-Technische‹). Es wäre allerdings ungerecht, die ›Abstraktion‹ und ›Reduktion‹ des Expressionismus nur als Flucht vor einer zeitgemäßen Programmatik zu werten. Der Expressionismus wandte sich auch mit aggressiver Energie nach Außen. Durch ›Expression‹ und ›Irritation‹ entfaltete er große Wirkungsmacht und sorgte für legendäre Kunstskandale.

So hält auch Gerhard Plumpe das Moment des Aufstands für das zentrale und verbindende Element des Expressionismus.[96] Sein zerstörerisches Potential entfaltet sich gegenüber dem selbstzufriedenen, wilhelminischen Bürgertum, aus dessen Schoß fast alle expressionistischen Künstler entsprungen waren. Doch dieses Aufbegehren des Expressionismus blieb künstlerische Pose. Anders als der Futurismus und besonders der Dadaismus, versuchte sich der Expressionismus nicht gegen die eigene Infrastruktur des gesellschaftlichen Kunst- und Kultursystems zu wenden. Spielstätten und Spielregeln der Kunst des wilhelminischen Bürgertums wurden nicht in Frage gestellt. Der Schritt, die eigenen Wurzeln abzuschneiden und sich von der bürgerlichen Kunst zur ›Anti-Kunst‹ zu entwickeln oblag anderen Strömungen der Avantgarde.

Die Erkenntnis der Simultanität der sinnlichen Wahrnehmungen wird zum entscheidenden formalen und inhaltlichen Konsens zwischen den expressionistischen Strömungen. Dem Expressionismus geht es um den Menschen und seine Wahrnehmung der Welt. Seine Vorstellungen, Gefühle, Erlebnisse und Äußerungen kommen in der Kunst durch die Gleichzeitigkeit aller rezipierten und produzierten mentalen Prozesse zum ›Ausdruck‹. So setzt auch Herrmann Bahr in seinem 1916 verfassten Text zum ›Inhalt‹ des Expressionismus den Menschen und seine Seele in Abgrenzung gegenüber der Technik in den Mittelpunkt:

»Darum geht es: daß der Mensch sich wiederfinden will. [… E]r hat keinen Sinn mehr, seit er nur noch der Maschine dient. Sie hat ihm die Seele weggenommen. Und jetzt will ihn die Seele wieder haben. Darum geht es. Alles, was wir erleben, ist nur dieser ungeheure Kampf um den Menschen, Kampf der Seele mit der Maschine. Wir leben ja nicht mehr, wir werden nur noch gelebt [… W]ir sind dahin, der Mensch ist entseelt, die Natur entmenscht. […] Niemals war eine Zeit von solchem Entsetzen geschüttelt, von solchem Todesgrauen. Niemals war die Welt so grabesstumm. Niemals war der Mensch so klein. Niemals war ihm so bang. […D]er Mensch schreit nach seiner Seele, die ganze Zeit wird ein einziger Notschrei. Auch die Kunst schreit mit, in die tiefe Finsternis hinein, sie schreit um Hilfe, sie schreit nach dem Geist: das ist der Expressionismus«.[97]

Für Herrmann Bahr wird die Maschine als infame Ausgeburt der Technik zum Synonym für die Unterdrückung, ja für die ›Entmenschlichung‹ des Menschen. Er zeichnet die geschichtliche Linie der Auslieferung der Seele an die Maschine nicht nach, benennt keine Schuldigen und wird nicht politisch. Trotzdem ist man dazu geneigt, dem Text eine Gesinnung zu unterstellen, die schon aus Wagners »Die Kunst und die Revolution« bekannt ist. Die Maschine ist das Symbol der kapitalistischen Versklavung der Menschheit.

[...]


[1] Eine Übersichtsdarstellung findet sich in: Anton Weißmann, Die Musik in der Weltkrise.

[2] Der Pluralismus der avantgardistischen Strömungen verhindert eine klare Zielsetzung und Einordnung der Kunst als Epoche: »Die Autoren, die eine Instanz vermissen, die festlegt und vorschreibt, was zu gelten habe, diagnostizieren aus solchen Einsichten empört einen Avantgardismus ohne weltanschauliches Ziel, charakterisieren ihn als einen f ortschrittlosen Fortschritt und stehen in Wirklichkeit in der Tradition des Eislerschen ›Kampfes‹ gegen die von ihm so genannte Avantgarde des Untergangs bürgerlicher Musik in der Weimarer Republik, ohne das sie die Ergebnisse dieses Kampfes zur Kenntnis nehmen« (Giselher Schubert, Zur Einschätzung und Deutung des musikalischen Fortschrittdenkens in der Musikkultur der Weimarer Republik, S. 57).

[3] Technische Apparaturen als mediale Produktions- und Reproduktionssysteme sind umfassend dargestellt in: Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter.

[4] Peter Weibel, Transformation der Techno-Ästhetik.

[5] »Unter den verschiedenen Avantgardefraktionen des frühen 20. Jahrhunderts galt weithin als ausgemacht, daß eine Aufmerksamkeit für die spezifischen Details der Naturwelt mit der Einlösung des künstlerischen Ausdruckspotentials unvereinbar war. Als diejenige unter den modernen Künsten, die am eindeutigsten expressiv und abstrakt war – und damit offenbar jeglicher Abbildfunktion enthoben –, stieg die Musik bald zum Vorbild für alle anderen auf. Um die Jahrhundertwende übernahm man gern musikalische Ausdrucks- und Kompositionstheorien, um die Entwicklung von Architektur und Malerei voranzutreiben. (Daraus erklärt sich großteils die Bedeutung Richard Wagners und seiner Theorie für die Avantgardekünstler der Jahrhundertwende.) August Endell und Wassily Kandinsky zum Beispiel verhieß die scheinbar ›universelle‹ Expressivität der Musik die Möglichkeit einer abstrakten bildenden Kunst« (Charles Harrison/ Paul Wood, Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, S. 21).

[6] Vgl.: Helmut Rösing, Musik – ein audiovisuelles Medium. Über die optische Komponente der Musikwahrnehnumg.

[7] Die heutige, theoretisch ausgerichtete Technikphilosophie versteht sich als Handlungstheorie oder Wissenschaftstheorie der Technikwissenschaften. Sie operiert nicht mit einer festen Technikdefinition und hat sich stets gegen einseitige Veranschaulichungen und Funktionalisierungen ›der‹ Technik in Diskursen zu wenden. Sie unterscheidet grob zwischen Techniken der Produktion, Techniken der Organisation und Humantechniken (Techniken der Veränderungen seelischen Innenlebens).

[8] Dieter Birnbacher, Technik, S. 615.

[9] Auf dieser noch relativ einfachen Ebene lassen sich bereits alle Musikinstrumente denken: als Zusammensetzung von teleologischer Technik (eingeschriebener Praxis) und Werkzeug.

[10] Ernst Kapp, Grundzüge einer Philosophie der Technik, S. 72. Kapp formuliert hier Gedanken über die Technik, die auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf breiter Basis diskutiert werden.

[11] Ebd., S. 73.

[12] Ebd., S. 79.

[13] Ernst Kapp, Grundzüge einer Philosophie der Technik, S. 79.

[14] Der Mensch schafft das Werkzeug aus sich selbst heraus. Es ist Werkzeug nur als Abbild des Menschen. Der Gebrauch des Werkzeugs konstituiert aber erst den Menschen. Der Mensch als Kategorie ist Konsequenz des Werkzeuggebrauchs. Diese Konzeption wird von den Futuristen aufgenommen, die den ›neuen Menschen‹ ebenfalls als autopoietischen Prometheus anlegen, indem sie ihm omnipotente Schöpfungsmacht durch selbst gegebene Technik zusprechen.

[15] Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 19.

[16] Werner Künzel/ Peter Bexte, Maschinendenken/ Denkmaschinen, S. 84.

[17] Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, S. 5.

[18] Werner Künzel/ Peter Bexte, Maschinendenken/ Denkmaschinen, S. 13.

[19] Die gutenbergsche Zeichenmaschine wird für kurze Zeit zum universalen, lautmalerisch/ musikalischen Aufschreibesystem: »Es ist ein utopischer Zustand: die Grenzen der Sprache sollen mit den Lautgrenzen der Welt zusammenfallen, und zwar ohne einen Rest, von dem man nicht sprechen könne und über dessen Geheul also Sprachlosigkeit herrschte« (Werner Künzel/ Peter Bexte, Maschinendenken/ Denkmaschinen, S. 22). Bereits im 18. Jahrhundert ist dieser Optimismus verflogen. Die Suche nach der universellen Maschine aber blieb bestehen.

[20] Werner Künzel/ Peter Bexte, Maschinendenken/ Denkmaschinen, S. 13.

[21] Die Geburt der alleatorischen Musik beschreibt Jean Paul im Zusammenhang mit einem Musikautomaten: »Der Komponist war ein Paar Würfel, womit der Maschinenmann nach den im Modejournal gegebnen Regeln des reinen Satzes und einer Pariser Mode musikalische Fidibus zusammenwürfelte« (Jean Paul, Sämtliche Schriften, S. 547).

[22] Nach: Peter Weibel, Transformation der Techno-Ästhetik.

[23] Ich verzichte an dieser Stelle auf eine eigene Machtanalytik des diskursiven Systems gesellschaftlicher Ästhetik. Als Anhänger der foucaultschen Diskursanalyse würde mich mein Weg weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausführen.

[24] Vgl.: Peter Weibel, Transformation der Techno-Ästhetik, S. 207.

[25] Peter Weibel glaubt an die Überwindbarkeit der Dispositive der Macht: Anti-Kunst schafft machtfreie Räume (Peter Weibel, Transformation der Techno-Ästhetik, S. 245-246.)

[26] Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 241.

[27] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der maßgebliche Vertreter des deutschen (absoluten) Idealismus, wendet sich gegen Kants Repräsentanztheorie: die Kunst ist ihm nicht Abbild der Natur, sondern ein Weg des Geistes zur Erkenntnis der absoluten Wahrheit. Die Entbergung von Erkenntnis durch die Kunst bleibt bis zum heutigen Tage ein tradiertes Bild, in dem sich Künstler nach wie vor inszenieren. Vgl.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik.

[28] Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 241.

[29] Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 167.

[30] Eine Darstellung zur Anti-Kunst findet sich in: Hans Richter, DADA-Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas zu Kunst des 20. Jahrhunderts.

[31] Peter Weibel, Transformation der Techno-Ästhetik, S. 224-225.

[32] Ebd., S. 226.

[33] Zur Entbergung von Wahrheit in der Dualität aus ›Werk‹ und ›Zeug‹ vgl.: Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik.

[34] Peter Weibel, Transformation der Techno-Ästhetik, S. 228-229.

[35] Bei Komponisten wie Johann Sebastian Bach oder Ludwig van Beethoven wird die ›wahre‹ Größe des Genies von Zeitgenossen in ihrer Fähigkeit der Improvisation von Musik gesehen, deren Kunstfertigkeit noch über die (später) ausnotierten Werke hinausging.

[36] »Es ist nicht zufällig, daß die Vorstellung einer automatisch erzeugten Musik verstärkt in das Bewußtsein der Menschen rückte, als sich auch die Vorstellung über die Musik selbst grundlegend veränderte. Der mittelalterlichen Vorstellung von Musik als einer mathematischen Wissenschaft geht eine lange Entwicklung voraus, in deren Verlauf sich, ausgehend von einem überwiegend improvisierenden Musizieren, die Möglichkeiten der Fixierung und festen Organisation von Musik herausbildeten« (Michael Harenberg, Neue Musik durch neue Technik, S. 24).

[37] Die Geschichte der automatisierten Musik reicht bis ins Mittelalter. Reinhold Hammerstein, Macht und Klang. Tönende Automaten als Realität und Fiktion in der alten und mittelalterlichen Welt.

[38] Das Instrument als Werkzeug ist Objekt, das in der Technik seines Gebrauchs völlig vom Menschen abhängig ist. Die Maschine (z. B. Grammophon und Tonband) kann dagegen eine Subjektposition besetzen.

[39] Die Setzung von ›Komponieren als Schreiben‹ ist so wirkmächtig, daß sie sich auch in den Zukunftsvisionen der Komposition erhält. Edgard Varèse schreibt 1936: »Ich bin sicher, daß die Zeit kommen wird, da der Komponist, wenn er seine Partitur graphisch realisiert hat, das Schauspiel erleben wird, daß man sie auf eine Maschine legt, die den musikalischen Inhalt dem Hörer getreu vermittelt. Da in der Partitur Frequenzen und Rhythmen angegeben werden, wird unsere heutige Notenschrift dafür nicht taugen« (Edgard Varèse, Die Befreiung des Klangs, S. 13).

[40] »Die meisten Leute freilich halten Musik einzig für eine Kunst. […] Sind Sie sich bewußt, daß jedes Mal, wenn eine gedruckte Partitur zum Leben erweckt wird, sie wieder-erzeugt werden muß durch verschiedene Klangmaschinen, die man Musikinstrumente nennt, welche unsere Orchester bilden, unterworfen den gleichen physikalischen Gesetzen wie jede andere Maschine?« (Edgard Varèse, Die Befreiung des Klangs, S. 14).

[41] Die Musik integrierte mit den neuen Apparaturen der Klangaufzeichnung und Klangmanipulation nicht nur technische Verfahren in den Kanon der Kompositionstechniken, sondern erschloß sich in den neuen Medienräumen auch neue Anschlüsse an die anderen Künste. So ist der strukturelle Einfluß der Medien Film und Rundfunk auf die innermusikalischen Techniken nicht zu unterschätzen. »So können auch mit dem Mikrophon Kontraste, Großaufnahmen, Vogel- und Froschperspektiven realisiert und damit normalerweise nicht wahrgenommene Eigenschaften des Klanges offengelegt werden. […] Neben den hier erwähnten Möglichkeiten des umgekehrten Abspielens, die in den Anfängen der konkreten Musik häufig genutzt wurde, übernimmt Schaeffer vom experimentellen Film auch die Technik von Zeitlupe und Zeitraffer, der im Radio die Verlangsamung und Beschleunigung von Klangbildern entspricht. Auch Zoomeffekte wurden in der Tonkunst nachgeahmt und die assoziative Montage örtlich- und zeitlich voneinander getrennter Räume, die Eisenstein und Vertov für den Film erschlossen hatten. Auch wenn beide Medien mit der Montage konservierter Stoffe operieren, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Rezeptionsbedingungen« (Nathalie Singer, Musique invisible, S.157.)

[42] Vgl.: J. Schmidt-Görg, Probleme und Methoden musikalischer Klangfarbenforschung.

[43] Vgl. hierzu die Übersichtsdarstellungen: Alexander Wallace Rimington, Color Music. Adrian Klein, Color Music. Jörg Jewanski, Ist C=Rot? Carl Loef, Farbe, Musik, Form. Ihre bedeutenden Zusammenhänge.

[44] Einen Überblick über die Hochphase der neuen Farbe-Ton-Forschung in den 1920er Jahren bieten die drei Sammelbände von: Georg Anschütz, Farbe-Ton-Forschung. Den Weg bis zum Musikvideo zeichnen nach: Verushka Body/ Peter Weibel, Clipp, Klapp, Bumm. Von der visuellen Musik zum Musikvideo.

[45] Zu den verschiedenen Formen und Stadien der Verbindung von Musik mit den Nachbarkünsten vgl.: Fritz Winkel, Experimentelle Musik, Raum-Musik, visuelle Musik, Medien-Musik, Wort-Musik, Elektronische Musik, Computer-Musik.

[46] Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, S. 10.

[47] Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, S. 11.

[48] Ebd., S. 28.

[49] Ebd., S. 12.

[50] Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, S. 28.

[51] »Wo der griechische Künstler, außer durch seinen eigenen Genuß am Kunstwerke durch den Erfolg und die öffentliche Zustimmung belohnt wurde, wird der moderne Künstler gehalten und – bezahlt. Und so gelangen wir denn dahin, den wesentlichen Unterschied fest und scharf zu bezeichnen, nämlich: die griechische öffentliche Kunst war eben Kunst, die unsrige – künstlerisches Handwerk « (Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, S. 24).

[52] Ebd., S. 24-25.

[53] Walter Gropius, Idee und Aufbau des staatlichen Bauhauses Weimar, S. 405-406.

[54] Theoretische Vorarbeit leistete schon 1888: Theodor Alt, System der Künste . Mit Rücksicht auf die Fragen der Vereinigung verschiedener Künste und des Baustils der Zukunft.

[55] Oskar Schlemmer, Tagebuchauszug, November 1922, S. 400.

[56] Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, S. 25.

[57] »Nein, wir wollen nicht wieder Griechen werden; denn was die Griechen nicht wußten, und weßwegen sie eben zu Grunde gehen mußten, das wissen wir. Gerade ihr Fall, dessen Ursache wir nach langem Elend und aus tiefstem allgemeinen Leiden heraus erkennen, zeigt uns deutlich, was wir werden müssen: er zeigt uns, daß wir alle Menschen lieben müssen […]. Aus dem entehrenden Sklavenjoche des allgemeinen Handwerkerthums mit seiner bleichen Geldseele wollen wir uns zum freien künstlerischen Menschenthume mit seiner strahlenden Weltseele aufschwingen; aus mühselig beladenen Tagelöhnern der Industrie wollen wir Alle zu schönen, starken Menschen werden, denen die Welt gehört als ein ewig unversiegbarer Quell höchsten künstlerischen Genusses« (Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, S. 30).

[58] Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, S. 30.

[59] Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, S. 60.

[60] Ebd., S. 61.

[61] Ebd., S. 161.

[62] Vgl.: Balilla Pratella, Die futuristische Musik – technisches Manifest, S. 57.

[63] Vgl.: Peter Weibel, Transformation der Techno-Ästhetik, S. 207.

[64] Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, S. 67.

[65] Ebd., S. 67.

[66] Absolute Musik hat sich selbst zum ›Inhalt‹. Das generelle Manko einer mangelhaften Abbildungsfähigkeit der Musik wird so zum entscheidenden Vorteil gegenüber den anderen, stets programmgebundenen Künsten. Die Entwicklung einer sinnfreien Lyrik oder abbildlosen Malerei beruft sich auf das Ideal der absoluten Musik. »Als diejenige unter den modernen Künsten, die am eindeutigsten expressiv und abstrakt war – und damit offenbar jeglicher Abbildfunktion enthoben –, stieg die Musik bald zum Vorbild für alle anderen auf. Um die Jahrhundertwende übernahm man gern musikalische Ausdrucks- und Kompositionstheorien, um die Entwicklung von Architektur und Malerei voranzutreiben« (Charles Harrison/ Paul Wood, Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, S. 21).

[67] Wagner war Verfechter des Musikdramas. Es kann als Sinnbild programmatischer Kunst dienen und fungiert so als Antipode einer absoluten Kunst.

[68] Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, S. 88.

[69] Ebd., S. 58.

[70] Ebd.

[71] »Üblicherweise unterscheidet man innerhalb der Dynamik der Moderne drei miteinander verknüpfte Momente: Modernisierung, Modernität und Modernismus. Der Begriff der Modernisierung bezeichnet jene Prozesse des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts, die die Welt damals radikal anders erscheinen ließen. Modernisierung meint insbesondere die wachsende Bedeutung der Maschinentechnik, nicht zuletzt durch die Entwicklung des Verbrennungsmotors, und ihre Konsequenzen für Ingenieurbau und Schwerindustrie. […] Der Begriff der Modernität verweist auf die sozialen und kulturellen Umstände dieser objektiven Umwälzungen: die Eigenschaften des Lebens unter radikal gewandelten Bedingungen. […] Modernität unterhält eine instabile symbiotische Beziehung zum Modernismus: zur bewußten Reflexion und Destillation – mit einem Wort zur Repräsentation – der ungeordneten Erfahrung des Neuen« (Charles Harrison/ Paul Wood, Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, S. 164).

[72] Vgl.: Hans-Rudolf Zeller, Als Anreger weit unterschätzt. Ferruccio Busoni und die musikalische Avantgarde um 1920.

[73] Hans Pfitzner, Futuristengefahr bei Gelegenheit von Busonis Ästhetik.

[74] Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 6.

[75] Ebd.

[76] Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 6.

[77] Ebd., S. 31.

[78] Ebd., S. 8.

[79] Vgl.: Balilla Pratella, Die futuristische Musik – technisches Manifest.

[80] Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 8.

[81] Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 9.

[82] Ebd., S. 12.

[83] Vom »Optimismus einer universellen Aufschreibbarkeit ist dem 18. Jahrhundert nicht viel geblieben – und im gleichen Augenblick bricht der Lärm hervor, unkontrolliert und unkontrollierbar. […] Nun gibt es ein Sagbares und ein Unsagbares. Die Arbeit des Negativen hat begonnen: […] Im Inneren der Maschinen wird es laut. Damit stellt sich das Problem des Schreibens auf neue Weise« (Werner Künzel/ Peter Bexte, Maschinendenken, Denkmaschinen. An den Schaltstellen zweier Kulturen, S. 23). Die Schrift (z. B. Notenschrift) als abstrakte Textmaschine ist somit nur ein weiteres technisches Speichermedium, das der Musik nicht adäquat ist.

[84] Vgl.: Karin von Maur, Vom Klang der Bilder.

[85] Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 34.

[86] Ebd., S. 35.

[87] Bereits in der Frühzeit dieses Systems und noch vor der Einführung der temperierten Stimmung gab es Experimente mit mikrotonalen Instrumenten: Niccolo Vincentino konstruierte 1555 Instrumente, die mit einer in 31 Töne geteilten Oktave spielbar waren (Archicembalo und Archiorgano).

[88] Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 44-45.

[89] Bartók verblieb zwar ›auf den Tasten‹, behandelte das Klavier aber bereits als Schlaginstrument. Antheil erweiterte die Spieltechniken durch das Schlagen ›jenseits‹ der Tasten (auf den Korpus oder direkt auf die Saiten) und ein Spiel mit Faust oder Unterarm.

[90] John Cage erfand in den 50er Jahren durch das Anbringen von Holz-, Papier-, Plastik- und Filzteilen, sowie Schrauben und Muttern zwischen den Saiten das ›Prepared Piano‹.

[91] Das 1913 uraufgeführte »Sacre du Printemps« führte (ohne die Einführung neuer Spieltechniken oder Instrumente) in seiner radikalen Verwendung des klassischen Orchesters als Schlaginstrument archaischer Gewalt zu einem der größten und erfolgreichsten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts, und bewahrte sich bis zum heutigen Tag den Ruf eines ›Schreckgespensts‹ der Musikgeschichte.

[92] Als Basis des Expressionismus können die Künstler-Bewegungen der ›Brücke‹ (Dresden 1905) und des ›Blauer Reiter‹ (München 1909), sowie der Künstlerkreis um die Galerie ›Der Sturm‹ (Berlin 1910) gesehen werden. Literarische Vertreter des Expressionismus sind z. B. Trakl, Heym, Wildgans, Benn, Wedekind und Toller. Musikalische Vertreter unter anderem Schönberg (seit 1908) und seine Schüler Berg und Webern, als auch Honegger, Bartók, Stravinsky, Hindemith, Dallapiccola, Satie, Ives und der junge Varèse. Sie verbindet die Suche nach einer Erweiterung des musikalischen Ausdrucks, die Tendenz zur Abstraktion, Konstruktion, Symbolik und zu Formen der Groteske und Karikatur.

[93] Die Etablierung des Begriffs läßt sich nachvollziehen bei: Michael von Troschke, Der Begriff »Expressionismus« in der Musikliteratur des 20. Jahrhunderts.

[94] Rudolph Stephan, Expressionismus, S. 245.

[95] Rudolph Stephan, Expressionismus, S. 245.

[96] Vgl.: Gerhard Plumpe, Die historische Avantgarde, S. 22.

[97] Herrmann Bahr, Expressionismus, S. 155.

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Technik und musikalische Avantgarde. Transformationen musikalischer Ästhetik durch technisch produzierte und reproduzierbare Kunst
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Geschichtswissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
113
Katalognummer
V56480
ISBN (eBook)
9783638511391
ISBN (Buch)
9783638688413
Dateigröße
1208 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Transformationen, Kunst, Bedeutung, Technik, Avantgarde, Musikästhetik, Technikphilosophie, Reproduzierbare Kunst
Arbeit zitieren
Claas Hanson (Autor:in), 2005, Technik und musikalische Avantgarde. Transformationen musikalischer Ästhetik durch technisch produzierte und reproduzierbare Kunst, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56480

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