Zur Position des kommerziellen Kinderhörspiels im Deutschland der 80er Jahre


Dossier / Travail, 2005

47 Pages, Note: 2


Extrait


I. Inhaltsverzeichnis

II. Einleitung

III. Hauptteil
1.1. Das Hörspiel: Versuch einer Definition
1.2. Das Hörspiel und sein Verhältnis zu neuen Medien
1.3. Das Hörspiel als Kinderformat im deutschen Rundfunk
1.4. Zum pädagogischen Anspruch von Kinderhörspielen
2.1. Die Major Companies der kommerziellen Kinderhörspiele
2.2. Das "Zeitfenster" der 80er Jahre
2.3. Der "Kultfaktor"

IV. Fazit

V. Quellenverzeichnis

VI. Anhang
1.3. Linkliste
1.2. Interview mit Jörgpeter Ahlers
1.3. Internetdokumente

II. Einleitung

Eine wissenschaftliche Untersuchung des deutschen Hörspiels zeichnet sich traditionell durch zwei grundlegende Prämissen aus: Erstens, daß das Hörspiel eine Tonkunst sei, welches primär von Radiomachern für Radiohörer konzipiert werde. Zweitens, daß das eigens für Kinder produzierte Hörspiel unter pädagogischen Gesichtspunkten untersucht werden müsse.

Ich werde versuchen, hier einen radikalen Paradigmenwechsel zu vollziehen. Ich stütze mich dabei primär auf Annette Bastians These, der zufolge das kommerzielle Kinderhörspiel jene deutschen Kinder, welche zwischen 1975 und 1985 geboren wurden, entscheidend geprägt habe. Da die kommerziellen Kinderhörspiele in diesem Zeitrahmen primär auf Tonkassette erschienen sind, führt sie für die betroffene Generation den Begriff "Kassettenkinder" ein.

Da ich selbst ein "Kassettenkind" bin, kann ich Bastians These aus eigener Erfahrung bestätigen. Eine wissenschaftliche Untersuchung dieses Phänomens erwies sich indes als recht schwieriges Unterfangen, weil dieses Gebiet bislang weitgehend unerforscht geblieben ist. Die zur Zeit verfügbare Fachliteratur reduziert sich i.d.R. auf den "pädagogischen" Aspekt.

Das Ziel dieser Arbeit besteht somit nicht in einer abstrakten Theoriebildung. Ich werde vielmehr versuchen, eine logisch nachvollziehbare Positionsbestimmung des kommerziellen Kinderhörspiels in Deutschland zu liefern. Um den Rahmen einer Hausarbeit nicht zu sprengen, werde ich mich dabei auf den Zeitrahmen der 80er Jahre beschränken. Die Entwicklung des kommerziellen Kinderhörspiels im Deutschland der 90er Jahre hätte eine gesonderte Betrachtung verdient.

Ich erhebe bei dieser Untersuchung nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Die 80er Jahre zeichnen sich durch eine Veröffentlichungsflut kommerzieller Kinderhörspiele in Deutschland aus, welche in dieser Form ein bis heute einzigartiges Phänomen geblieben ist. Es ist schlichtweg unmöglich, alle Veröffentlichungen aus diesem Bereich empirisch zu erfassen und im Rahmen einer Hausarbeit auszuwerten.

Das Ziel dieser Hausarbeit besteht ferner nicht darin, einen Vergleich "Pro oder Kontra öffentlich-rechtliches Kinderhörspiel" aufzustellen. Ich beschäftige mich in der ersten Hälfte dieser Untersuchung allein deshalb mit der Position des öffentlich-rechtlichen Kinderhörspiels, um es präzise von seinem kommerziellen Pendant abgrenzen zu können.

Ich habe im Anhang dieser Arbeit ein Interview mit Jörgpeter Ahlers (Redaktionsleiter "Radio für Kinder“ beim NDR seit 1990) beigefügt, welches den Zusammenhang zwischen öffentlich-rechtlichem und kommerziellem Kinderhörspiel stärker thematisiert. Ferner habe ich eine Liste von Internetverweisen erstellt, welche es dem interessierten Leser ermöglichen soll, seine Kenntnisse zu der Thematik dieser Arbeit zu erweitern und zu vertiefen.

III. Hauptteil

1.1. Das Hörspiel: Versuch einer Definition

Eine allgemein anerkannte Definition des Hörspiels (engl. "radio drama") hat es bislang nicht gegeben, und wird es wohl auch zukünftig nicht geben. Karl Karst hat folgenden Definitionsversuch vorgelegt:

"'Hörspiel' bezeichnet [...] ein Spiel, das ausschließlich durch Hörbares und mit Hörbarem von Hörenden realisiert wird; es besteht notwendig aus einem gleichberechtigten Neben- und Übereinander von Ton, Geräusch, Wort und Stimme. Die ausschließliche Verwendung eines dieser Elemente wäre Anzeichen dafür, daß es sich nicht um ein 'Hörspiel' handelt."[1]

Wie ein Hörspiel konkret beschaffen ist, hängt immer auch von den technischen Rahmenbedingungen ab, unter welchen es produziert wird. Anfang der 80er Jahre hat z.B. Einführung des Stereosounds die Grenze zwischen Musik und Hörspiel verwischt.[2] Auch die Abgrenzung zum sog. "Feature" ist unscharf. Werden in einem Hörspiel etwa dokumentarische Tonwerte collagiert, so handelt es sich um eine Montage. Wird in eine solche Montage zusätzlich fiktives Material mit eingebunden, so erhält das dokumentarische Material die Funktion eines akustischen Zitats.[3] Eine Definition des Hörspiels kann daher nicht auf den technologischen Aspekt reduziert werden.

Karst sieht folgerichtig in der Ausrichtung auf technische Perfektion eine Gefahr für die Vitalität der Hörspielproduktion. Da Ästhetik über das Technische hinausgehe und nicht auf reine Konsumtion ausgerichtet sein könne, müsse das Hörspiel immer wieder durch die Mitarbeit externer Laien befruchtet werden.[4]

Entscheidend für die Positionsbestimmung eines einzelnen Hörspiels ist u.a. auch, ob es rundfunkextern Verwendung finden kann. Hierzu muß das Material laut Karst öffentlich zugänglich und nutzbar für "Selbsterfahrung, Artikulationsschulung und Medienkunde" sein.[5]

Ich werde im Folgenden das Phänomen Hörspiel anhand seiner geschichtlichen Entwicklung diskutieren. Der deutsche Begriff "Hörspiel" als Bezeichnung für Hörereignisse, die speziell für den Rundfunk verfaßt werden, wird erstmalig 1924 von Hans Siebert im Augustheft der Zeitschrift "Der Deutsche Rundfunk" verwendet.[6] Als Kunstform ist das Hörspiel also ursprünglich untrennbar an das Medium Radio gebunden. Ab werden 1929 Hörspiele auf Wachsplatten mitgeschnitten[7] und ein Jahr später sogar auf Schallplatte übertragen; dieser Vorgang ersetzt zunächst aber nur die Liveaufführungen der Erwachsenenhörspiele im Rundfunk.[8]

In den 30er Jahren produziert dann die Grammophon als erstes Label Kinderhörspiele auf Schallplatte, wobei sie vornehmlich Kasperstücke aus dem Rundfunk übernimmt.[9]

In den Erwachsenenhörspielen der Weimarer Republik werden primär Stoffe aus der Epik, der Dramatik und der Lyrik verarbeitet, so daß hier eine Mischform aus Tonkunst und Literatur entsteht. Um 1930 findet in Ansätzen bereits ein Austausch zwischen Schriftstellern (u.a. Alfred Döblin, Erich Kästner und Berthold Brecht) und Hörspielern statt.[10] Eine hervorstechende Ausnahme bildet hier das avantgardistische Hörspiel "Weekend" des Filmemachers Walter Ruttman, welches ausschließlich aus wortlosen O-Tönen besteht.[11]

Derartige Experimentalstücke sind nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 nicht mehr möglich.[12] Bis 1938 kann das (NS-konforme) Radiohörspiel mit einem Programmanteil von ca. 2 % zwar einigen Erfolg verbuchen,[13] danach aber sinkt der Programmanteil unter 1 %, weil die verbliebenen Hörspieler entweder ins Ausland emigrieren, den Medienbereich wechseln, oder zum Militärdienst eingezogen werden.[14]

Das Hörspiel erfährt in der Nachkriegszeit eine Renaissance. Das Radio avanciert zum Hauptmedium der Bevölkerung, da Theater, Kino, Zeitung und Buch kaum oder gar nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine exakte Definition des Hörspiels bleibt jedoch nach wie vor aus. 1947 werden etwa noch die sog. Features, welche eigentlich einen eher dokumentarischen Charakter haben, zu den Hörspielen gezählt.[15] Es werden Tausende an Hörspielen produziert, welche weiterhin auf literarischen Stoffen basieren.[16] Das Monopol für die Hörspielproduktion liegt weiterhin bei den öffentlich-rechtlichen Radiosendern.[17]

In den der 60er Jahren jedoch läuft das neue Massenmedium Fernsehen dem Radio langsam aber sicher den Rang ab. Die Hörspieler müssen etwa die Hälfte ihrer Höher an das Fernsehen abtreten.[18]

Als Alternative zum klassischen, literarisch geprägten Hörspiel entsteht nun das sog. "Neue Hörspiel". Als Vorbilder fungieren u.a. Avantgardisten wie der bereits erwähnte Walter Ruttmann, Berthold Brecht, Walter Benjamin sowie Elemente der neuen Pop-Kunst.[19] Diese alternative Hörspielform macht aus der Not der sinkenden Hörerzahlen eine Tugend; es bleibt "reichlich Platz für Experimente" (Krug).[20]

Gemein ist den "neuen" Hörspielern ihre Abneigung gegen das traditionell literarische Hörspiel,[21] eine positive Bestimmung des "Neuen Hörspiels" ist allerdings weiterhin nicht möglich:

"Das 'neue Hörspiel' ist negativ bestimmt als Sammelwort für alle möglichen Formen des Hörspiels, die nicht mit der traditionellen Dramaturgie und Ästhetik übereinstimmen."[22]

Das "Neue Hörspiel" - als experimentelle Tonkunst der öffentlich-rechtlichen Sender – orientiert sich kaum am Feedback seiner Hörer. Heinz Schwitzke sieht hier sogar die Tendenz einer "publikumsfernen Elitekunst".[23] Diese Diskrepanz zwischen "traditionellem" und "neuem" Hörspiel löst sich schließlich im Konzept einer "offenen Dramaturgie" auf.[24]

Ab 1970 emanzipiert sich das Hörspiel vollständig von seinem bisherigen Trägermedium: Ein neuer Markt für Hörspiele auf Kassette entsteht. Der Absatz im Bereich der Erwachsenenhörspiele fällt allerdings recht gering aus.[25] Ganz anders verhält es sich hier im Bereich der Kinderhörspiele: Die Produktionen von EUROPA, Karussell usw. verkaufen sich bis Mitte der 80er in mehreren Mio. Stückzahlen und erreichen zeitweilig eine Marktanteil von 10 % des gesamten Tonträgerabsatzes.[26]

1985/86 wird in Deutschland der duale Rundfunk eingeführt, d.h., neben den öffentlich-rechtlichen Radiosendern sind nun auch Privatsender zugelassen. Das Medium Radio ist nun prinzipiell offen für eine kommerzielle Nutzung – und somit auch das Radiohörspiel.[27] Dennoch verzichtet das Privatradio auf eine Vermarktung des Hörspiels; innerhalb des Rundfunks bleibt es also eine "öffentlich-rechtliche" Kunst.[28]

Das "Duale System" vertieft jene Kluft zwischen den Hörspielern der öffentlich-rechtlichen Sender und seinen Hörern, welche bereits während der Debatte zum "Neuen Hörspiel" Gesprächsgegenstand war. Christoph Buggert attestiert dem Radiohörspiel 1985 eine Krise, indem er es als "eine Gattung ohne Echo" bezeichnet.[29] Dieser Zustand ändert sich erst mit einer gezielten Reform des Radiohörspiels zu Beginn der 90er Jahre.[30] Parallel dazu gehen die Absätze der Hörspielkassetten wieder drastisch zurück – die Kinder der 90er machen lieber Gebrauch von Fernseher, PC und Spielkonsole als von Hörspielkassetten oder -CDs.[31]

Soweit zur historischen Entwicklung des Hörspiels bis Ende der 80er. Das Phänomen Hörspiel – gleich, wie es konkret definiert werden mag – ist gegenwärtig nicht länger auf den Rundfunk (als seinem ursprünglichen Trägermedium) angewiesen. Es kann prinzipiell auch auf andere Medien wie Schallplatte, Tonband, Kassette, CD, MP3 usw. übertragen werden. Nicht die Art des Trägermediums, sondern die Verwendung eines Mediums selbst ist konstitutiv für das Hörspiel: Ein medial nicht übertragenes "Hörspiel", etwa als Liveaufführung, wäre laut Karst von anderen Aktionskünsten nicht mehr unterscheidbar.[32]

Karl Karsts These, das Hörspiel sei die "einzige zugleich rundfunkeigene und rundfunkgerechte Kunstform",[33] ist also nicht länger haltbar. Das Hörspiel ist spätestens seit der Einführung der Kassette, in Ansätzen aber bereits seit der Nutzung der Schallplatte als Massenmedium eine Tonkunst, welche nicht nur in Hinsicht auf ihre dramaturgische Gestaltung, sondern auch auf ihre mediale Verbreitung völlig offen ist.

1.2. Das Hörspiel und sein Verhältnis zu neuen Medien

Die Einführung neuer Medien ruft stets ambivalente Reaktionen hervor. Karl Karst nennt die Erfindung des Buchdrucks als Musterbeispiel:

"Kaum war die neue Technik bekannt, geriet sie zum Gegenstand erbitterter Kritik. Die Erfindung sei ein Machwerk des Teufels, hieß es. Sie verderbe den Umgang mit der gesprochenen Sprache, die sie zu vernichten trachte, und sie schade dem Menschen."[34]

Sämtliche Neuerungen im Medienbereich – Zeitung, Zeitschrift, Fotografie, Film, Rundfunk, Fernsehen und Computer – sind anfangs Gegenstand heftiger Kritik gewesen.[35] Diese Kritik hat die Neuerungen zwar nicht verhindern, wohl aber produktiv beeinflussen können: Die Vitalität neuer Medien ging traditionell aus der Notwendigkeit hervor, eine Existenzberechtigung zu finden, welche über das Prinzip reiner Nützlichkeit hinausgeht.[36] Die technologischen Grundlagen eines neuen Mediums traten daher früher oder später zugunsten seines ästhetischen und ethischen Potentials in den Hintergrund.[37]

Dieses Phänomen ist nun an eine Grenze gestoßen. Gegenwärtig haben technischer Nutzen und wirtschaftliche Rentabilität höchste Priorität bei der Einführung neuer Medien. Karst wertet dies als opportunistische Resignation vor dem Status Quo.[38]

Das Medium "Rundfunk" ist davon nicht ausgenommen. Der besagte Nebeneffekt (vgl. Kapitel 1.1.): Das (kommerzielle) Hörspiel ist als Kunstform autonom geworden; es ist nicht länger auf das Medium "Radio" als Trägerplattform angewiesen.[39] Umgekehrt kann das Radio aber keineswegs auf die Kunstform "Hörspiel" verzichten:

"DAS HÖRSPIEL IST DER MOTOR FÜR DIE ÄSTHETISCHE ENTWICKLUNG DES RUNDFUNKS"[40]

Dieser "Motor" ist äußerst kostspielig, weil er experimentell arbeitet – die Spezialisten des Hörspiels haben sich einer Kunst verschrieben, und Kunst ist nicht auf Profitmaximierung ausgerichtet. Letzeres aber macht das Hörspiel (Karst zufolge) gerade für den Rundfunk unersetzlich.[41] Das Hörspiel eröffnet dem Medium Rundfunk aufgrund seiner experimentellen Natur auf allen Ebenen neue Optionen: Die Werbespots profitieren von der Dramaturgie des Minihörspiels, Jingles werden durch die akustischen Spielereien der Toningenieure inspiriert, Trailer können um neue Schnittechniken bereichert werden usw.[42]

Hörspiele sind "Antikörper" (Karst) im System des Rundfunks. Ihre Heterogenität erweist sich als auslösendes Agens für neue Entwicklungen, wenn das Gesamtsystem "Rundfunk" durch innere Nivellierung oder äußere Fremdeinflüsse bedroht wird. Hörspiele müssen (und sollen) daher nicht dem Zeitgeist entsprechen. Sie dominieren das System "Rundfunk" ohnehin nur dann, wenn dieses nicht mehr aus eigener Kraft weiterbestehen kann. Auf diese Weise bleibt der Rundfunk "immun" gegen kurzlebige Trends.[43]

Abgesehen von seiner wichtigen Funktion als "Antikörper" ist das Hörspiel allerdings kein essentieller Bestandteil des Rundfunks. Programmteile wie die "Nachrichten" oder die "Hitparade" erreichen größere Hörerzahlen. Hinzu kommt, daß die Rundfunkhörspiele trotz ihrer vergleichsweise hohen Produktionskosten i.d.R. nur einmalig ausgestrahlt werden. Das Potential an möglichen Hörern dieser Hörspiele ist also deutlich begrenzt.[44] Die mangelnde Verfügbarkeit der Rundfunkhörspiele erweist sich somit als massives Problem:

"'Unzugänglichkeit' ist der grundlegende Mangel des auditiven Produktes 'Hörspiel'. Er könnte behoben werden durch eine Öffnung der Rundfunkarchive (eventuell: Änderung des Copyrights), durch Einrichtung von Phonotheken."[45]

Während das Massenmedium Rundfunk für eine breite und vielschichtige Öffentlichkeit arbeitet, existiert parallel dazu eine ebenfalls heterogene Subkultur von Hörspielmachern und –Fans. Deren Bedürfnisse und Interessen können theoretisch bei Produktionen zwar direkter, praktisch aber weniger umfassend berücksichtigt werden, weil es hier an finanziellen Ressourcen fehlt.[46] Würde sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk dem rundfunkexternen Hörspiel öffnen, so könnte Karst zufolge ein fruchtbarer Dialog entstehen, welcher dem Hörspiel insgesamt zu neuen Formen der Artikulation verhilft.[47]

Für Kinder etwa ist gegenwärtig nicht der Rundfunk, sondern der Tonträger (Kassette, CD usw.) das wichtigste Medium. Junge Eltern, welche in den 70ern bzw. 80ern mit diesen Tonträgern aufwuchsen, geben ihre Lieblingshörspiele auf Tonträgern an die eigenen Kinder weiter.[48] Entscheidend ist hier primär das Kriterium der freien Verfügbarkeit:

"Tonkassetten sind das erste Medium über das Kinder frei sowie in der Regel ungestört verfügen können. Kinderhörspiele eröffnen relative Freiräume, in die sie sich zurückziehen und träumen können. Tonträger werden bereits von Kleinkindern vorrangig zur Unterhaltung gehört, sie vertreiben schlechte Stimmungen, Traurigkeit oder verstärken gute Laune, Wohlbefinden."[49]

Die Tonkassette hebt als Kindermedium die von Karst beschriebene "Unzugänglichkeit" des Hörspiels auf. Im Bereich des Kinderhörspiels entwickelt sich also ein neues Verhältnis zwischen Tonkunst und Tonträgern, welches kontroverse Reaktionen hervorruft (vgl. Kapitel 1.4.).

1.3. Das Hörspiel als Kinderformat im deutschen Rundfunk

Der deutsche Kinderrundfunk kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Zu Beginn des Jahres 1924 strahlt die "Berliner Funk-Stunde A.G." erstmalig ihr Magazin "Ullstein-Stunde" aus, zu welchem auch eine "Kinderecke" gehört. Noch im selben Jahr geht aus dieser "Kinderecke" eine eigenständige Programmsparte hervor. Einzelne Programme wie "Der Funkheinzelmann" oder "Die Funkprinzessin erzählt" werden schnell so populär, daß die Geschichten 1925 sogar in Buchform erscheinen ("Funkheinzelmann der Wanderbursch").[50]

Die ersten Hörspielserien für ältere Kinder basieren auf Vorlagen aus der zeitgenössischen Kinderliteratur wie "Doktor Dolittle" oder "Der Schatz im Silbersee". Für Kinder im Vorschulalter werden vornehmlich Märchenstoffe verwendet; Botschaften sollen möglichst "pädagogisch wertvoll" transportiert werden. Sämtliche Kinderhörspiele werden bis 1929 live im Radio aufgeführt.[51] Ab 1929 werden aber Kinderhörspiele auf Schallplatte nicht nur erstmalig im Rundfunk ausgestrahlt, sondern auch zum freien Verkauf angeboten.[52]

Während der NS-Zeit wird der Rundfunk vornehmlich als Propagandainstrument genutzt. Radios werden als "Volksempfänger" massenhaft und billig produziert, so daß die meisten deutschen Haushalte über dieses Medium verfügen können. Für Kleinkinder finden auch hier Märchenstoffe in der Hörspielproduktion Verwendung, allerdings im Sinne des "völkischen" Denkens. Auch die Rundfunkkasper dieser Zeit propagieren NS-konformes Gedankengut.[53]

Nach dem Ende des II. Weltkrieges sind Rundfunkempfänger – im Gegensatz zu den anderen Medien – noch überall in Deutschland vorhanden. Das Radio ist zum Zentralmedium für Kunst, Bildung und Unterhaltung geworden. In den 50er Jahren beeinflußt der Kinderrundfunk sogar maßgeblich den Tagesablauf seiner Hörer (über 50 % der Kinder unter 14 Jahren). Ab 1955/56 werden Programme und Redaktionen des Kinderrundfunks drastisch erweitert, so daß in der BRD bis 1960 ca. 350 neue Kinderhörspiele pro Jahr entstehen. Das Konzept "Funkheinzelmann" bzw. "Funkprinzessin" wird aus der Zeit der Weimarer Republik übernommen und leicht modifiziert, so daß nun diverse "Onkels", "Tanten" und der "Sandmann" moralisierende "Gute-Nacht"-Geschichten bzw. –Lieder vortragen. Für die Hörspiele werden einmal mehr Märchen und Kinderliteratur als Stoffe herangezogen.[54]

Während der 60er Jahre verliert das Radio zugunsten des Fernsehens an Einfluß. Die Hörspielredakteure lassen sich davon jedoch i.d.R. nicht beeindrucken. Zu Beginn der 70er Jahre werden dann vermehrt Einflüsse neuer Erziehungskonzepte in die Hörspielproduktion aufgenommen. Zeitgleich wird das Kinderhörspiel auch für bekannte Kinderbuchautoren zu einem attraktiven Medium.[55]

In den 80er Jahren entsteht durch die Einführung des dualen Rundfunks ein starker Konkurrenzdruck zwischen kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Radiosendern. Auch die ARD-Anstalten reduzieren im Zuge dessen ihr anspruchsvolles Programm. Während für den Kinderrundfunk nur noch ungünstige Sendeplätze in den dritten und vierten Programmen übrigbleiben, entspricht das Niveau der populärsten Erwachsenenprogrammen nun paradoxerweise "den kognitiven Fähigkeiten von Kindern". (Heidtmann) Dieser Trend der Programmreduzierung setzt sich - entgegen Karsts These vom Hörspiel als "Motor" des Rundfunks - bis in die 90er Jahre fort; zumindest gilt dies für den Bereich der Kinderhörspiele.[56]

Der NDR etwa produziert währenddessen unter der Leitung von Rose Marie Schwerin nur ca. 15 Kinderhörspiele zu jeweils 30 Minuten. Zusätzlich kommen noch ca. 6 bis 8 separate Koproduktionen mit anderen ARD-Anstalten (etwa dem damaligen Südwestfunk Baden-Baden) zustande.[57] Angesichts der Veröffentlichungsflut kommerzieller Kinderhörspiele auf Tonträgern ist der Bereich öffentlich-rechtlicher Produktionen im Zeitrahmen der 80er Jahre also vergleichsweise übersichtlich.

[...]


[1] Vgl. Karst, Karl, Die Chancen öffentlich-rechtlicher Kunst (CK), Köln 1981, S.84

[2] Ebd., S.83

[3] Ebd., S.86

[4] Ebd., S.90

[5] Ebd., S.87

[6] Ebd., S.94

[7] Vgl. Krug, Hans-Jürgen, Kleine Geschichte des Hörspiels, Konstanz 2003, S.32

[8] Ebd., S.37

[9] Heidtmann, Horst, Literatur für "kleine Kopfhörer". Kindertonträger: Produktionsbedingungen und Marktentwicklung, in: Raecke, Renate (Hg.), Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland (LK), München 1999, S.254-261 Dieser Artikel ist unter http://www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/heidtmann_kindertontraeger/heidtmann_kindertontraeger.pdf auch als 9-seitiges PDF-Dokument verfügbar, aus welchem ich im Folgenden zitieren werde (hier: S.2).

[10] Krug, S.35

[11] Ebd., S.37-38

[12] Ebd., S.41

[13] Ebd., S.39

[14] Ebd., S.44

[15] Ebd., S.47

[16] Ebd., S.50

[17] Ebd., S.56

[18] Ebd., S65

[19] Ebd., S.69

[20] Ebd., S.70

[21] Ebd., S.71

[22] Karst (CK), S.83

[23] Krug, S.76

[24] Ebd., S.78

[25] Ebd., S.81

[26] Heidtmann (LK), S.2

[27] Krug, S.91

[28] Ebd., S.92

[29] Ebd., S.93

[30] Ebd., S.95

[31] Heidtmann (LK), S.2

[32] Karst (CK), S.94 Die von EUROPA veranlaßte "Masters of Chess"-Tour der Sprecher von "Die drei ???" zeigt aber, daß hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist (vgl. Kapitel 2.3.).

[33] Ebd., S.82

[34] Karst, Karl, Antikörper im System (AS), Unveröffentlichtes Manuskript 1993, S.2

[35] Ich werde dies im Folgenden insbesondere am Musterbeispiel der Tonkassette explizit machen.

[36] Karst (AS), S.3

[37] Ebd., S.4

[38] Ebd., S.5

[39] Ebd., S.6

[40] Ebd., S.6

[41] Ebd., S.7

[42] Ebd., S.8

[43] Ebd., S.9-10

[44] Karst (CK), S.79

[45] Ebd., S.80

[46] Ebd., S.96

[47] Ebd., S.97

[48] Vgl. Schill, Wolfgang, Radio für Kinder – eine medienpädagogische Aufgabe, S.12, in: Schill, Wolfgang (Hg.) / Linke. Jürgen (Hg.) / Wiedemann, Dieter (Hg.), Kinder und Radio, München 2004, S.11-27:

"Seit längerem ist bekannt, dass Hör- und Musikkassetten oder –CDs die ersten wahren Kindermedien sind [...]. Es sind für gewöhnlich die Medien, über die Kinder als erste selbst verfügen können. [Viele jüngere Kinder besitzen] einen eigenen Kassettenrekorder, manchmal auch CD-Player, Walk- oder Discman, um die Hör- oder Musikstücke zu nutzen, die ihnen selbst gehören, auch wenn sie ihnen natürlich von Erwachsenen besorgt wurden. Scharen von heute jungen Eltern sind als Kinder auf diese Weise mit 'Benjamin Blümchen'- und 'Bibi Blocksberg'- Kassetten bestückt worden und geben nun ihrerseits die alten 'Funny-Erfahrungen' nahezu ungebrochen an die eigenen Kinder weiter. 'Benjamin' und 'Bibi', zwei unverdächtige Marken, auf die man sich auch heute noch verlassen kann."

[49] Heidtmann (LK), S.1

[50] Vgl. Heidtmann, Horst, Hörfunk für Vorschulkinder, in: Feil, Christine (Hg.) / Lehning, Ulf (Hg.) / Beisenherz, H.G. (Hg.), Handbuch Medienerziehung im Kindergarten, Teil 1 (HV), Opladen 1994, S.323-329 Dieser Artikel ist unter http://www.ifak-kindermedien.de/pdf/hoerfunk.PDF auch als 7-seitiges PDF-Dokument verfügbar, aus welchem ich im Folgenden zitieren werde (hier: S.2).

[51] Ebd., S.2

[52] Vgl. Heidtmann (LK), S.2

[53] Vgl. Heidtmann (HV), S.2

[54] Ebd., S.2-3

[55] Ebd., S.3

[56] Ebd., S.4

[57] Vgl. Interview mit Jörgpeter Ahlers im Anhang, S.20

Fin de l'extrait de 47 pages

Résumé des informations

Titre
Zur Position des kommerziellen Kinderhörspiels im Deutschland der 80er Jahre
Université
University of Hamburg  (Institut für Germanistik II)
Cours
Geschichte, Theorie und Praxis des Hörspiels
Note
2
Auteur
Année
2005
Pages
47
N° de catalogue
V56564
ISBN (ebook)
9783638512152
ISBN (Livre)
9783638825092
Taille d'un fichier
599 KB
Langue
allemand
Mots clés
Hörspiel, Kinderhörspiel, Kassette, Die drei ???, Popkultur, 80er Jahre, NDR, Jörgpeter Ahlers, Karl Karst, Hörspielkassette, Radio
Citation du texte
Ulrich Goetz (Auteur), 2005, Zur Position des kommerziellen Kinderhörspiels im Deutschland der 80er Jahre, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56564

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