Jan-Dirk Müllers "Spielregeln für den Untergang"

Eine Neuorientierung in der Nibelungenliedforschung


Dossier / Travail, 2006

17 Pages, Note: 1,5


Extrait


Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

B. Jan-Dirk Müllers „Spielregeln für den Untergang“ – Eine Neuorientierung in der Nibelungenliedforschung

1. Müllers Kritik an der Position Joachim Heinzles

2. Grundlagen für Müllers Konzept
2.1 Klärung des Literaturbegriffs
2.2 Prägung des Nibelungenliedes durch seine Vokalität

3. Müllers Konzept
3.1 „Widersprüche“ als Ausgangspunkt der Analyse
3.2 Müllers Vorgehen
3.3 Beispiele
3.3.1 gruoz
3.3.2 Kapitel III
3.3.3 Kapitel IV
3.4 Müllers „Chaos-Theorie“

C. Schluss

Literaturverzeichnis

A. Einleitung

Seit im Jahr 1998 der Münchner Professor Jan-Dirk Müller seine Monographie „Spielregeln für den Untergang“ veröffentlichte, gilt sie in der Nibelungenliedforschung als „Meilenstein“[1]. Man spricht von diesem Werk als „Zäsur“[2] oder gar als „Neuorientierung“[3].

Doch woher rührt diese hohe Wertschätzung? Was ist an dem Buch so besonders, worin unterscheidet es sich von anderer Forschungsliteratur zum Nibelungenlied? Welche neuen Aspekte brachte Müller in die Diskussion ein, dass man sagen kann, er habe sie insgesamt „auf eine neue Basis gestellt“[4] ? In welcher Hinsicht erreicht seine Arbeit „ein neues Niveau, an dem die künftige Nibelungenlied- Forschung ihr Maß wird nehmen müssen“[5] ? Warum geht man davon aus, dass sich „jede weitere Deutung des Nibelungenliedes an dieser intensiven Analyse messen und bewähren müssen“[6] wird?

Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Ausgehend von Müllers Opposition zur Behauptung Joachim Heinzles, dass eine Deutung des Nibelungenliedes unmöglich sei, soll sein neu entwickeltes Interpretationskonzept dargestellt werden, welches eine historische Lektüre in einer streng kulturanthropologischen Lesart fordert.

Der erste Teil der Arbeit widmet sich der Kritik Müllers an Heinzles Theorie. Anschließend werden die Überlegungen erläutert, die Müllers Konzept zugrunde liegen. Im dritten Teil wird die Herangehensweise an das Epos geschildert und an einigen Beispielen anschaulich gemacht.

Im Laufe der Betrachtung sollen die jeweiligen Ansichten mehrerer Rezensenten Gehör finden, damit deutlich wird, wie Müllers Werk von der Nibelungenliedforschung aufgenommen wurde.

1. Müllers Kritik an der Position Joachim Heinzles

Joachim Heinzle verneint die Möglichkeit der Interpretation des Nibelungenlieds völlig. Seiner Meinung nach ist das Epos voll von „beträchtlichen Ungereimtheiten“[7] und vermittelt insgesamt den Eindruck einer „Trümmerstruktur“[8]. Dieses defizitäre Erzählgefüge habe die Forschung jahrzehntelang dazu herausgefordert, nach einem umgreifenden Sinnkonzept zu suchen, das alle Ungereimtheiten aufhebt. Im Laufe der seit den fünfziger Jahren stattfindenden „Deutungsorgie“ seien grundverschiedene, sich gegenseitig ausschließende Interpretationen hervorgebracht worden.[9] Diese folgten Heinzles Meinung nach immer zwei Grundmustern: entweder leugneten sie die Brüche oder sahen gerade in ihnen den Sinninhalt verkörpert.[10]

Dabei habe man aber die Frage vernachlässigt, die man eigentlich vor allem Interpretieren beantworten müsse, ob nämlich die epische Struktur des Nibelungenliedes überhaupt eine gewöhnliche Auslegung erlaube.[11] Heinzle bemerkt, dass die Leerstellen nicht auf die Absicht des Autors zurückzuführen sein, sondern auf Mängel der Struktur bzw. „Löcher“ im Text.[12] Sie ergäben sich gegen den Willen des Dichters „als Verwerfungen im epischen Gefüge“.[13]

Der Dichter des Nibelungenliedes sei kein „Originalgenie“ gewesen, sondern habe sich nach „einem vorgegebenen Stoff“ richten müssen.[14] Dabei habe es sich nicht um geschlossene schriftliche Vorlagen gehandelt, sondern um eine Erzähltradition, die zu großen Teilen oder sogar ausschließlich mündlich war und „die wir uns gewiß nicht vielgestaltig und widersprüchlich genug vorstellen können“.[15]

Vergeblich habe er versucht, „den widerständigen Stoff in einen buchgemäßen, handlungslogisch stimmigen Motivationszusammenhang zu bringen“.[16] Aus der Zusammenstellung divergierender Stoffelemente und der mehrschichtigen Motivierung sei ersichtlich, dass die Verschriftlichung mündlicher Traditionen misslungen sei.[17]

Daraus folgert Heinzle, dass man das Nibelungenlied überhaupt nicht interpretieren könne, weil dies zwangsläufig zur „Sinnunterstellung“ führe. Jede Interpretation versuche, die mangelhafte Motivationsstruktur interpretierend auszugleichen, indem sie den Text abrunde bzw. Mängel weglasse. Interpretationen decken also den historisch authentischen Sinn nicht auf, sondern korrigieren ihn und seien damit als Um- oder Nachdichtungen zu bezeichnen.[18] Deshalb ist jeder Interpretationsversuch in Heinzles Augen unzulässig.[19]

Jan-Dirk Müller teilt Heinzles Befund zwar weitgehend, deutet ihn aber vollkommen anders.[20] Auch er empfindet die Erwartung der Nachvollziehbarkeit der Handlung als Fehler der bisherigen Forschung[21] und hält die Kritik an Interpretationskonzepten, die das Werk abrunden wollen, für berechtigt. Heinzles Folgerung, Interpretationen deshalb grundsätzlich abzulehnen, stimmt er aber nicht zu.[22]

Laut Haustein musste „Spielregeln für den Untergang“ „zu großen Teilen zur Auseinandersetzung mit Joachim Heinzles Position werden“, da Müller die Kategorien Widerspruch und Fehler als unangemessen ablehnt.[23] Als Grundfrage seines Buches hält er Heinzles Position entgegen, ob das ihr zugrunde liegende Erzählmodell nicht unangemessen sei[24], da sowohl die Behauptung des misslungenen Versuchs als auch das Weglassen von Mängeln von einer neuzeitlichen Auffassung von Autor und Werk zeugten.[25]

Wenn sich Heinzle Interpretationen nur in der Form vorstellen könne, dass sie den Text notwendig mit „Interpolationen“ (Müllers Begriff für „Sinnunterstellungen“)[26] glätten, setze er einen „Normalfall“ von Erzählen voraus, der auf das Nibelungenlied nicht anwendbar sei.[27] Heinzles Resignation hält Müller daher für verfrüht. Seiner Meinung nach müssen neuzeitliche ästhetische Konzepte an mittelalterlichen „offenen“ Texten scheitern, weil diese nach „offener“ Lektüre verlangen.[28]

2. Grundlagen für Müllers Konzept

2.1 Klärung des Literaturbegriffs

Der erste Schritt, bevor man sich an die Interpretation des Nibelungenliedes mache, muss nach Müller die Suspendierung des neuzeitlichen Literaturbegriffs sein.[29] Erwarte man Integration und Ganzheit, lege man moderne Maßstäbe von Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit an ein mittelalterliches Werk, das diesen gar nicht gehorchen könne- und wolle.[30] Anstatt falsch zu aktualisieren[31] habe man das Fremde zunächst grundsätzlich zu akzeptieren.[32]

Deshalb hält Müller eine Erweiterung des Literaturbegriffs für die mittelalterliche Laienkultur für notwendig. Kultur ist demzufolge eine Konstellation von Texten, die nicht nur im geschriebenen oder gesprochenen Wort, sondern auch in Ritualen, Gebärden und Festen verkörpert seien.[33] Demnach lassen sich Kulturen wie Texte lesen, „umgekehrt jedoch lassen sich Texte auch als Segmente von Kulturen, nämlich als Modelle möglicher Welten lesen“.[34]

Literarische Entwürfe sagten etwas über äußerlich geltende kulturelle Selbstverständlichkeiten aus[35], seien aber auch als eigene Ordnung symbolischen Handelns zu verstehen. Müller führt aus, dass sein Gegenstand also nicht die mittelalterliche Kultur um 1200 sei, sondern eine Symbolwelt, der literarische Entwurf einer solchen Kultur.[36]

Als Rahmen für seine Arbeit nennt er eine „Kulturanthropologie, die nicht mit der überzeitlichen Konstanz einer Menschennatur rechnet, sondern mit unterschiedlichen Prägungen durch historische Kulturmuster.“[37] Auf diese Weise beabsichtigt er die Würdigung der „historischen Andersartigkeit“[38] des Textes.

Das Epos erscheine dann „barbarisch unverständlich“ und als löchriges psychologisches Gewebe, wenn man es überzeitlich lese.[39] Figuren und Konflikte ließen sich aber nur in historischer Korrektheit erschließen, was allerdings nur annäherungsweise gelingen könne, weil das vollständige Aufgeben des eigenen historischen Standpunktes nie möglich sei.[40] Müller will die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Geschehens suspendieren, auf lückenlose Verknüpfung verzichten und nicht mehr nach „narrativer Kohärenzbildung“[41] oder „psychologischer Stimmigkeit“[42] fragen.

[...]


[1] Schulze, Ursula: Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. In: Zeitschrift für deutsche Mythologie, Bd. 120 (2001), S.135.

[2] Nolte, Ann-Kathrin: „Spiegelungen der Kriemhildfigur in der Rezeption des Nibelungenliedes“ (=Bamberger Studien zum Mittelalter Bd.4). Bamberg 2004. S.26.

[3] Schulze: Jan-Dirk Müller. S.130.

[4] Curschmann, Michael: Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Bd. 123 (2001), Heft 2, S.318.

[5] Haug, Walter: Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang: Die Welt des Nibelungenliedes. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. 50 (2000), Heft 4, S.505.

[6] Curschmann: Jan-Dirk Müller.S.315.

[7] Heinzle, Joachim: Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Hg. von Fritz Peter Knapp. Heidelberg 1987.S.259.

[8] Ebd.: S.273.

[9] Heinzle: Das Nibelungenlied. Eine Einführung. Berlin 1994. S.89.

[10] Ebd.: S.98.

[11] Heinzle: Gnade für Hagen. S.259.

[12] Ebd.: S.267.

[13] Ebd.: S.272

[14] Ebd.: S.268.

[15] Ebd.

[16] Ebd.: S.272.

[17] Schulze: Nibelungenlied. S.261.

[18] Heinzle: Nibelungenlied. S.96.

[19] Schulze: Nibelungenlied. S.261.

[20] Haustein, Jens: Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. In: Arbitrium, Bd.18 (2000), Heft 2, S.158.

[21] Müller: Spielregeln. S.9.

[22] Ebd.: S.15.

[23] Haustein: Jan-Dirk Müller. S.156.

[24] Müller: Spielregeln. S.18

[25] Haug: Jan-Dirk Müller. S.501.

[26] Müller: Spielregeln. S.14.

[27] Ebd.: S.16.

[28] Nolte: Spiegelungen. S.28

[29] Müller: Spielregeln. S.13.

[30] Haustein: Jan-Dirk Müller. S.155.

[31] Müller: Spielregeln. S.11.

[32] Curschmann: Jan-Dirk Müller. S.307.

[33] Müller: Spielregeln. S.41.

[34] Nolte: Spiegelungen. S.29.

[35] Müller: Spielregeln. S.44.

[36] Ebd.: S.41.

[37] Ebd.: S.47.

[38] Curschmann: Jan-Dirk Müller. S.306-307.

[39] Müller: Spielregeln. S.10.

[40] Ebd.: S.11-12.

[41] Müller: Spielregeln. S.13.

[42] Ebd.: S.1.

Fin de l'extrait de 17 pages

Résumé des informations

Titre
Jan-Dirk Müllers "Spielregeln für den Untergang"
Sous-titre
Eine Neuorientierung in der Nibelungenliedforschung
Université
University of Bamberg
Note
1,5
Auteur
Année
2006
Pages
17
N° de catalogue
V56579
ISBN (ebook)
9783638512268
ISBN (Livre)
9783638792301
Taille d'un fichier
509 KB
Langue
allemand
Mots clés
Jan-Dirk, Müllers, Spielregeln, Untergang, Neuorientierung, Nibelungenliedforschung, Nibelungen
Citation du texte
Felix Brenner (Auteur), 2006, Jan-Dirk Müllers "Spielregeln für den Untergang", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56579

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