Seit den 60er Jahren haben in der Ethnologie Auseinandersetzungen über die Darstellbarkeit von Kultur stattgefunden. Im Gegensatz zu vorangegangenen Fachdebatten wurde dabei nicht mehr vorrangig auf spezifische anthropologische Konzeptionen Bezug genommen, sondern v.a. auf die deutende Tätigkeit des Ethnologen bei der Erarbeitung seines Forschungsberichtes, sprich der Ethnographie. Nicht erst seit Etablierung der teilnehmenden Beobachtung im anthropologischen Diskurs durch Bronislaw Malinowski stützte sich ethnographische Autorität in weitgehendem Ausmaß auf publizierte Erlebnisberichte über Feldforschungen. Ein Wissenschaftler, der möglichst umfassende sprachliche und sonstige kulturelle Vorkenntnisse zu besitzen hatte, unternahm ausgedehnte Reisen zu den fremden Kulturen, an deren Leben er dann im Idealfall als gleichwertiges Gesellschaftsmitglied teilhaben sollte. Daran schloß sich eine Aufarbeitung der gewonnenen Einsichten in Form einer Monographie oder eines wissenschaftlichen Artikels mit quasi-realistischem Erzählgestus an. Kultur, so könnte das Credo des entsprechenden Wissenschaftsverständnisses subsumiert werden, läßt sich weitgehend objektiv und in allgemeingültigen Ausdrücken und Kategorien erfassen, wenn der Forscher nur gründlich und unvoreingenommen arbeitet- will sagen: wenn er seine eigenen Vorurteile zu überwinden und statt dessen den vermeintlich unbestechlichen Blick des Wissenschaftlers zu gebrauchen versteht. An einer derartigen Ausübung ethnographischer Autorität wurden zunehmend Zweifel geäußert. Neue Denkansätze, die aus der Philosophie oder auch der Philologie übernommen wurden, fanden erstmals Eingang in den kulturwissenschaftlichen Diskurs. Als besonders fruchtbar erwies sich dabei die Hermeneutik. Einen Markstein stellen die Schriften des US-amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz und dessen Programm einer interpretativen Ethnologie dar. Die Aufgabe dieser Arbeit wird es sein, den philosophiegeschichtlichen Hintergrund, vor dem Geertz seinen Ansatz entwickelte, zu rekonstruieren Dazu sollen herausragende Positionen hermeneutischer Philosophie bis zur 2. Hälfte des 20.Jh.s herangezogen werden. Im Anschluß daran wird sich die Frage stellen, ob Geertz den daraus resultierenden als auch den selbstgestellten Ansprüchen gerecht geworden ist oder nicht. Ferner soll diskutiert werden, ob Geertz mit seinen Beiträgen dem anthropologischen Wissenschaftsdiskurs einen ernstzunehmenden Beitrag für eine weitergehende Debatte geliefert hat.
1 Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Hermeneutik im Wandel der Zeit
2.1. Grundlagen: die klassische Hermeneutik
2.2. Die Hermeneutik nach der Aufklärung: Schleiermacher
2.3. Der Historismus: Dilthey
2.4. Die ontologische Wendung und die Hermeneutik des 20. Jh.s
2.4.1. Das Vorurteil im Verstehensprozeß
2.4.2. Die Bedeutung der Frage
3. Clifford Geertz und die Hermeneutik
3.1. Direkte Anknüpfungspunkte an die Hermeneutik
3.1.1. Der Common Sense - Begriff
3.1.2. Erfahrungsnahe vs. erfahrungsferne Darstellungen
3.1.3. Zeitlichkeit und Horizont
3.2. Geertz` Kulturbegriff
3.2.1. Exkurs: Paul Ricoeur
3.2.2. Kultur als offenes Buch
4. Das Problem der Dialogizität in Philosophie, Philologie und Ethnologie
4.1. Geertz` monologische Auffassung des hermeneutischen Zirkels
4.2. Die Dialektik des hermeneutischen Zirkels
4.3. Die Stellung des Subjektes bei Geertz
4.4. Ausblicke auf einen selbstreflexiven Ansatz in der interpretativen Ethnologie
5. Schlußbetrachtungen
6. Bibliographie
1. Einleitung
Seit den 60er Jahren haben in der Ethnologie Auseinandersetzungen über die Darstellbarkeit von Kultur stattgefunden. Im Gegensatz zu vorangegangenen Fachdebatten wurde dabei nicht mehr vorrangig auf spezifische anthropologische Konzeptionen Bezug genommen, sondern vor allem auf die deutende Tätigkeit des Ethnologen bei der Erarbeitung seines Forschungsberichtes, sprich der Ethnographie.
Nicht erst seit Etablierung der teilnehmenden Beobachtung im anthropologischen Diskurs durch Bronislaw Malinowski stützte sich ethnographische Autorität in weitgehendem Ausmaß auf publizierte Erlebnisberichte über Feldforschungen. Ein Wissenschaftler, der möglichst umfassende sprachliche und sonstige kulturelle Vorkenntnisse zu besitzen hatte, unternahm ausgedehnte Reisen zu den fremden Kulturen, an deren Leben er dann im Idealfall als gleichwertiges Gesellschaftsmitglied teilhaben sollte. Daran schloß sich eine Aufarbeitung der gewonnenen Einsichten in Form einer Monographie oder eines wissenschaftlichen Artikels mit quasi-realistischem Erzählgestus an. Kultur, so könnte das Credo des entsprechenden Wissenschaftsverständnisses subsumiert werden, läßt sich weitgehend objektiv und in allgemeingültigen Ausdrücken und Kategorien erfassen, wenn der Forscher nur gründlich und unvoreingenommen arbeitet- will sagen: wenn er seine eigenen Vorurteile zu überwinden und statt dessen den vermeintlich unbestechlichen Blick des Wissenschaftlers zu gebrauchen versteht.
An einer derartigen Ausübung ethnographischer Autorität wurden zunehmend Zweifel geäußert. Neue Denkansätze, die aus der Philosophie oder auch der Philologie übernommen wurden, fanden erstmals Eingang in den kulturwissenschaftlichen Diskurs. Als besonders fruchtbar erwies sich dabei die Hermeneutik. Einen Markstein stellen die Schriften des US-amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz und dessen Programm einer interpretativen Ethnologie dar.
Die Aufgabe dieser Arbeit wird es sein, den philosophiegeschichtlichen Hintergrund, vor dem Geertz seinen Ansatz entwickelte, zu rekonstruieren Dazu sollen herausragende Positionen hermeneutischer Philosophie bis zur 2. Hälfte des 20.Jh.s herangezogen werden. Im Anschluß daran wird sich die Frage stellen, ob Geertz den daraus resultierenden als auch den selbstgestellten Ansprüchen gerecht geworden ist oder nicht. Ferner soll diskutiert werden, ob Geertz mit seinen Beiträgen dem anthropologischen Wissenschaftsdiskurs einen ernstzunehmenden Beitrag für eine weitergehende Debatte geliefert hat.
2. Die Hermeneutik im Wandel der Zeit
Die theoretischen Implikationen der Hermeneutik lassen sich am treffendsten in einem historischen Abriß darstellen, denn ihre Entwicklung ist eng verflochten mit der mentalitätsgeschichtlichen Entwicklung in der abendländischen Philosophie. Verschiedene Ansätze aus verschiedenen Epochen spielen dabei auch in der aktuellen Debatte eine große Rolle, wie sich zeigen wird. Daher läßt sich nicht einfach der zeitgenössische Stand der Dinge rekapitulieren. Wenn die Hermeneutik nach Gadamer für ihr Arbeitsfeld postuliert, daß das Verstehen durch die jeweilige Geschichtlichkeit des Untersuchungsgegenstandes bedingt ist (darauf wird noch zu kommen sein), dann gilt das auch für die Entwicklung dieses geisteswissenschaftlichen Ansatzes selbst.
Es ist durch den begrenzten Umfang dieser Arbeit bedingt, daß die nun folgende historische Einführung nur so umfassend ist, wie ein Verständnis der Methodik Clifford Geertz` es erfordert und daß sie weitgehend- es sei denn anders gekennzeichnet- an den Horizont von Hans-Georg Gadamer`s Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ gebunden bleibt.
2.1. Grundlagen: die klassische Hermeneutik
Die Hermeneutik als Auslegungslehre vermag auf eine lange Geschichte zurückzublicken- darauf deutet schon der dem altgriechischen entlehnte Begriff hin: hermeneuein = deuten, interpretieren. Schon in der antiken Rhetorik galt die Auffassung, daß in einem Verstehensprozeß immer das Bedeutungsganze einer zu verstehenden Aussage aus einzelnen Bestandteilen und umgekehrt ein Einzelnes im Rückschluß aus dem Ganzen zu verstehen sei. Dieses grundlegende Modell ist später als hermeneutischer Zirkel bekannt geworden. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß ein Bedeutungsganzes- also ein Text, eine Rede oder auch ein Sachverhalt- nicht einfach die Summe der einzelnen, aneinandergereihten Sätze oder Sinnabschnitte ist, aus denen ein Ganzes besteht, sondern daß es darüber hinaus noch eine tiefere, weitergehende Bedeutung als Einheit hat. Die Intention des kompletten Textes geht über den Bedeutungsgehalt einzelner Sätze hinaus.[1]
In der klassischen Hermeneutik, die zu Beginn des 16. Jh.s mit der Renaissance aufkam und bis ca. 1800 andauerte, meinte der hermeneutische Zirkel einfach nur das Verhältnis des Textganzen zu einzelnen Bedeutungsteilen. Diese Einschränkung auf den Text ist dadurch bedingt, daß in der klassischen Hermeneutik vorrangig Bibelexegese sowie die Lektüre und Auslegung sonstiger theologischer Schriften betrieben wurde. Das akademische Umfeld war nach wie vor stark von der Scholastik, der vorherrschenden mittelalterlichen Denktradition, geprägt. Erhabene und tiefgründige Wahrheiten wurden vorrangig sakralen, will sagen im Sinne der christlichen Metaphysik zu deutenden Texten zugesprochen. Es ging der klassischen Hermeneutik darum, den Ausdruck des Göttlichen zu erkennen. Einzig klassische antike Schriften wurden neben den theologischen geduldet, weil ihnen nach humanistischem Ideal eine hervorgehobene Bedeutung zukam. Damit war eine Einschränkung auf solche Texte vorgezeichnet, denen ein besonderer Wahrheitsgehalt, ein transzendierender Charakter beigemessen wurde.[2]
Bis zu diesem Zeitpunkt war die Hermeneutik vorrangig eine Kunstlehre, d.h. eine bestimmte Methodik, die ganz klar vorgegebene Hilfestellungen zum Verständnis kanonisierter Textquellen bieten sollte.
2.2. Die Hermeneutik nach der Aufklärung: Schleiermacher
Mit dem Anbruch der Aufklärung sollte sich das ändern. Die Hermeneutik war fortan nicht mehr allein auf Diskurse der Theologie und des Altertums beschränkt, sondern fand bei der Betrachtung jeglicher Geistesprodukte Anwendung. Als treibende Kraft ist der romantische Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher zu nennen. Schleiermacher hat den hermeneutischen Zirkel zu Beginn des 19. Jh.s in entscheidender Weise präzisiert und ausgeweitet. Er hat ihn einerseits auf das Verhältnis des einzelnen Wortes zum Satz bezogen, andererseits aber auch auf das Verhältnis des Satzes zum Textganzen sowie auf das Verhältnis des Textganzen zu einer bestimmten Gruppe von Texten, die in ähnlicher Manier und ähnlicher Tradition entstanden sind, also etwa zu einem bestimmten Genre, einer wissenschaftlichen Doktrin oder Stilistik. Außerdem bezieht sich der hermeneutische Zirkel nach Schleiermacher auf das Verhältnis zwischen einem Teil des Bewußtseins- und Handlungslebens einer Person und der Ganzheit ihres Lebens, des sozialen Milieus oder der sie einbettenden historischen Epoche.[3] Damit wurde von Schleiermacher der Grundstein für eine hermeneutische Untersuchung geschichtlicher Abläufe und von Geschichtsschreibung im Besonderen gelegt. Ein Aspekt wurde in die Hermeneutik-Debatte getragen, der insbesondere auf den Ansatz von Clifford Geertz große Auswirkungen haben sollte, wie noch zu zeigen sein wird: das „Produkt“ der Hermeneutik, also das Verständnis, wird selber wie ein Kunstwerk zur Vollendung gebracht. So, wie ein Kunstwerk durch eine kreative Eingebung, durch einen „genialen Einfall“ oder „Geistesblitz“ entsteht, so kann ein Kunstwerk Schleiermacher zufolge auch nur dann verstanden werden, wenn dieser Geistesblitz in seiner Essenz nachempfunden wird- das aber läßt sich nicht mit einer bloßen Methodenlehre vollbringen. Schleiermacher geht soweit zu sagen, daß
die Individualität des Verfassers unmittelbar aufzufassen ist, „indem man sich selbst gleichsam in den anderen verwandelt.“[4]
Bestimmte Verständnisschwierigkeiten könnten nur durch ein unmittelbares kongeniales Gefühl- oder auch Einfühlungsvermögen- überwunden werden. Nun wird deutlich, daß Schleiermachers Auffassung geistesgeschichtlich in der Romantik anzusiedeln ist, denn die philosophische Begründung des Geniebegriffs, wie sie hier Anwendung findet, wurzelt in der deutschen Geistesgeschichte am Ende des 18. Jh.s.[5] Die Hermeneutik dieser Zeit war durch eine idealistische Subjektauffassung geprägt.
Weiter behauptet Schleiermacher, daß der Autor eines Textes notgedrungen nicht alles von dem verstehen kann, was er schrieb. Darum hätte der Künstler bzw. der Autor keinen Interpretationsvorrang vor demjenigen, der sein Werk verstehen will, also dem Betrachter oder Leser. Die Interpretation durch einen Außenstehenden soll all das ins ausdrückliche Bewußtsein heben, was bei der Erschaffung des Kunstwerkes bzw. des Textes nur unbewußt zur Geltung kam.
2.3. Der Historismus: Dilthey
Als Antwort auf die romantische Hermeneutik hat sich später der Historismus entwickelt. Ein bekannter Vertreter ist Wilhelm Dilthey. Dilthey unterscheidet zwischen Erklären und Verstehen. Erklären bezieht sich demzufolge auf naturwissenschaftliche Betrachtungen der beschreib- und erkennbaren Gegebenheiten der Welt, Verstehen meint, die Erscheinungen der Welt von innen zu erfassen, sie also in ihren Bedeutungen zu verstehen. Damit hat Dilthey die Geisteswissenschaften auf eine wissenschaftliche Ebene heben und sie von den „harten“, vermeintlich objektiven Wissenschaften abgrenzen wollen. Diese Dichotomie ist symptomatisch für Diltheys Denken. Denn nach vollzogener Trennung in Natur- und Geisteswissenschaften bleiben Widersprüchlichkeiten bestehen, wenn man, wie das hier geschehen soll, Diltheys geisteswissenschaftliches Erkenntnismodell näher betrachtet. Gadamer spricht von einem „Zwiespalt“ aus Idealismus und Erfahrungsdenken[6], durch den Diltheys Hermeneutik geprägt sei.
Für Dilthey ist die Grundlage des Verstehens nicht mehr allein das kongeniale Hineinversetzen in den anderen, sondern eine prinzipielle „Gleichartigkeit zwischen Subjekt und Objekt“.[7] Das bedeutet: jeder, der ein historisches Ereignis untersucht, ist selber als geschichtliches Wesen aufzufassen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte unterliegt ebenso wie alle daran teilhabenden Individuen zuförderst den Gesetzmäßigkeiten der Zeitlichkeit.
„Gleichartigkeit“ meint nicht, daß das begreifende Subjekt nun noch enger an das von Schleiermacher postulierte Ideal des genauen Nachempfindens gebunden wäre. Vielmehr erwächst daraus eine neuartige Freiheit des Geistes. Dilthey führt Begriffe wie „Gefühl“ und „Stimmung“ ein, um die menschliche Wirklichkeitserfahrung zu charakterisieren. Die Stimmung scheint als „ein der objektiven Welt gegenüberstehendes subjektives Prinzip [...] allein in dieser Subjektivität ihre Stelle zu haben, ohne über die objektive Welt etwas aussagen zu können“, so Otto Friedrich Bollnow.[8] Verstanden wird der „Ausdruck“, das heißt eine jeweilige Erscheinung der Wirklichkeit, nicht aber der hintergründige kausale Zusammenhang. Wenn dennoch behauptet wird, daß ein derartiges Erkenntnismodell zu wahren Aussagen führen kann, dann ist dies offensichtlich keine den Naturwissenschaften vergleichbare, stringent- logische Wahrheit, sondern eine lebensphilosophisch geprägte, mit der etwa die Wahrnehmung und das Verhalten der Menschen oder auch die tieferen Bedeutungsebenen von Äußerungen und Texten erfaßt werden können.
Soweit gestaltet sich Erkenntnis als solipsistischer Akt. Gefühle und Stimmungen brauchen nach Diltheys Modell keinen Abgleich mit dem, was außerhalb des eigenen Realitätsausschnittes liegt, also mit dem Fremden, Anderen. Wie aber kommt man von hier aus zu verbindlichen Deutungen verschiedener Lebenswelten, der Grundlage normativer Aussagen? Wie können komplexe Zusammenhänge oder geschichtliche Ereignisse als solche erfaßt werden, wenn sie für den einzelnen doch etwas ganz anderes bedeutet haben mögen als durch das Bewertungsraster einer Interessen- und/oder Diskursgemeinschaft besehen?
An dieser Stelle zeigt nun die von Dilthey postulierte Geschichtlichkeit des Menschen seine Wirkung: sie äußert sich auch in der spezifischen Eigenart des Menschen, eine spezifische Form von Wahrheit, die nicht die absolute der Naturwissenschaften ist, zu erfassen. In der Erfahrung des Geschichtlichen kommt die menschliche Auffassungsweise, das „Gefühl“ oder die „Stimmung“ als „Erlebnis“ zum Zuge. Im „Erlebnis“ äußert sich sowohl die Bindung an die geschichtliche Welt als auch die Wurzelung im Idealistischen, im Ausgehen von der Verstandesleistung des Menschen. Dilthey argumentiert dahingehend, daß die Geschichte wesentlich durch Empathie zu verstehen sei. Die Erfahrung ist nicht weiter „unterschieden in einen Akt, etwa das Innewerden, und einen Inhalt, das, dessen man inne wird.“[9] Damit artikuliert sich ein Brückenschlag zwischen idealistischen Subjektvorstellungen und historisierenden, der empirisch beschreibbaren Welt verpflichteten Deutungen.
Dieser schwer faßbare Übergang vom persönlichen Erfahrungshorizont zu allgemein gültigen Aussagen stellt einen kontrovers diskutierten Aspekt in Diltheys Philosophie dar. Zusammenhänge, die ihre Bedeutung nicht aus dem Erlebnishorizont einer Einzelperson beziehen, lassen sich nur unzureichend durch den strikten Rückverweis auf eben diesen subjektiven Erfahrungshorizont deuten. Der Stellenwert logisch stringenter Ursachen- und Wirkungsmechanismen bleibt durch die Fokussierung auf den „Ausdruck“ im Verborgenen. Gadamer hält dem entgegen, daß die großen geschichtlichen Wirklichkeiten wie etwa die Prägung durch gesellschaftliche Konventionen oder das Denken in intersubjektiv gültigen Abstraktionsschemata immer schon vorgängig für jedes Erlebnis bestimmend seien. Um zu verstehen, was intersubjektiv gelten kann, das erkennt auch Dilthey, braucht der Mensch permanent feststehende Ausdrücke und Bewertungskategorien als einen Maßstab, der Orientierung stiften kann. Diesen Maßstab soll nun ein „höheres Bewußtsein“ des menschlichen Geistes liefern. Dilthey führt seine Verstehenslehre unmerklich hinüber zur Metaphysik[10], die er andererseits aber auch abgelehnt hat.
Hier offenbart sich eine indifferente, versöhnliche Zwischenstellung zwischen einer Haltung, die den Menschen als metaphysikfrei in phänomenologische Zusammenhänge eingebunden versteht und einer nach wie vor der romantischen Hermeneutik Schleiermachers verbundenen idealistischen Vorstellung des menschlichen Geistes, welcher der Welt vorurteilsfrei gegenübersteht. Man könnte sagen: die reine Vernunft der Aufklärung wird zur historischen Vernunft umgemünzt. Die „Erlebnisse“ aber, das ist von nachfolgenden Denkern immer wieder moniert worden, stellen ein dünnes Bindeglied zwischen einander widerstrebenden erkenntnisphilosophischen Ansätzen dar.
2.4. Die ontologische Wendung und die Hermeneutik des 20. Jh.s
Den Ausgangspunkt der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers bildet die Einsicht, daß die zeitgenössischen Wissenschaften mit ihren vermeintlichen Erkenntnissen den eigentlichen Erfahrungsschatz der Menschen, also die phänomenologisch greifbare Lebenswelt, verfehlen würden. Das ist ein Gedanke, den Gadamer im Wesentlichen von seinem maßgeblichen Lehrer übernommen hat: Martin Heidegger hat das subjektphilosophische Fundament dafür in seinem 1927 publizierten Hauptwerk Sein und Zeit erarbeitet.
Gadamer wirft diverse analytische Erkenntnismodelle, wie sie auch in den Geisteswissenschaften diskutiert worden sind, über Bord und greift dahingegen philosophische Traditionen der Antike auf.[11] Er übernimmt Vorstellungen der griechischen Logos - Philosophie, bei der davon ausgegangen wurde, daß durch logisch korrektes, folgerichtiges Disputieren wahre und gehaltvolle Aussagen und Schlüsse über alles Seiende gewonnen werden könnten.[12]
Freilich ist Gadamer nicht einfach um Jahrtausende in der Philosophiegeschichte zurückgegangen. Geblieben ist aber die zentrale Bedeutung der Begriffsbildung für das Verstehen. Er geht davon aus, „daß die Sprache eine Mitte ist, in der sich Ich und Welt zusammenschließen oder besser: in ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit darstellen.“ Die Aneignung von Sinneseindrücken meint demnach, sich einen Begriff von etwas zu machen. Anders ausgedrückt: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“[13] Wenn derartig die Sprache als der Lokus des Verstehens aufgefaßt wird, dann folgt daraus ein Universalitätsanspruch für die Hermeneutik. Der hermeneutische Zirkel kann, mit all seinen erkenntnistheoretischen, aber auch praktischen Implikationen, auf verschiedenste Aspekte des Umganges mit Bedeutsamem umgemünzt werden. Die Folgen reichen viel weiter, als es die angesprochene Ausweitung des hermeneutischen Zirkels auf andere denn sakrale Texte um 1800 glauben machen läßt; sie betreffen nicht allein das in den bekannten Diskursen Geäußerte, sondern den Kern intelligibler Zusammenhänge und somit auch des Menschen schlechthin:
In Wahrheit ist die hermeneutische Erfahrung ganz und gar in das allgemeine Wesen der menschlichen Praxis verwoben, in die das Verstehen von Geschriebenem zwar wesentlich, aber doch nur sekundärerweise eingeschlossen ist. Sie reicht so weit, wie die Gesprächsbereitschaft vernünftiger Wesen überhaupt reicht.[14]
Gadamer versteht die Seins- und Verstehensweise des Daseins im Anschluß an die ontologische Wendung Heideggers als geschichtlich strukturiert. Ohne an dieser Stelle auf Einzelheiten der komplexen Subjektphilosophie Heideggers eingehen zu wollen: für die weitergehenden hermeneutischen Fragestellungen ist daran wichtig, daß hier der endgültige Abschied von dem Vernunftbegriff der Aufklärung, will sagen der Vorstellung eines ingeniösen Funken oder eines letztgültigen, nicht hinterfragbaren Wahrheitssinnes, vollzogen wird. Vielmehr ist Aneignung von Welt durch die Zeitlichkeit des Individuums, und das bedeutet auch: durch dessen zeitlich eingegrenzten Wissens- und Urteilshintergrund, durch sein eigenes Erleben, determiniert. Gadamer spricht gar von einer „Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip“[15].
Von dem Standpunkt aus betrachtet ist der zeitliche bzw. der kulturelle oder auch historische Abstand zwischen dem Interpreten und dem Text für den Verstehensprozeß nichts dem Verständnisprozeß Abträgliches mehr, was den Blick eines vermeintlich reinen Vernunftwesens auf den Untersuchungsgegenstand verstellen würde und was durch die Interpretation überwunden werden müßte. Gadamer faßt dies vielmehr als ein produktives Element auf. In der Differenz zwischen dem Interpreten und dem Text erblickt er den eigentlich tragenden Grund der Interpretationsleistung.
In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt.[16]
2.4.1. Das Vorurteil im Verstehensprozeß
Von herausragender Bedeutung für das Verständnis ist die Rolle der Vorurteile. Gadamer enthebt den Begriff „Vorurteil“ seiner negativen Konnotation und kommt zu einer wertneutralen Bestimmung. Wenn das Wort „Vorurteil“ im gemeinen Sprachgebrauch den einseitigen Anstrich einer apriorischen Abwertung hat, dann liegt das laut Gadamer an den mentalitätsgeschichtlichen Implikationen der Aufklärung, die Vorurteile als etwas aufgefaßt hat, was den Blick des menschlichen Verstandes auf die zu ergründende reine, absolute Wahrheit verstellt.
„Vorurteil“ meint Gadamer zufolge aber zunächst einmal nur das jeweilige Vorverständnis, welches jeder Mensch über die zu untersuchende Sache hat. „Vorurteil“ ist nicht gleichzusetzen mit „Vorwissen“, denn es geht nicht um evtl. bereits erlangtes objektiv belegbares Wissen; sondern um einen angesammelten Erfahrungsschatz, der sich Gadamer zufolge dem Menschen immer erst durch Urteile über einen Gegenstand erschließt bzw. zwangsläufig an Urteile gebunden ist. Jedes Aneignen von Erfahrungen oder überhaupt Informationen jeglicher Art, sei es durch einen gelesenen Text, ein Gespräch oder irgend ein sonstiges Erlebnis, beinhaltet, daß der Erfahrende mit dieser neuen Erfahrung eine Transformation durchläuft: einerseits verändert sich durch den Verstehensprozeß der Verstehende- er wird nämlich um Erfahrungen, um Urteile reicher- andererseits verändert sich dabei aber auch die Bedeutung des Erfahrenen, also des interpretierten Textes, der Kultur oder dergleichen. Bedeutung nämlich ist niemals nur die Bedeutung von etwas, sondern stets auch die Bedeutung für etwas oder jemanden.
Durch die Interpretation wird etwas dem kulturellen Hintergrund des jeweils Verstehenden zugänglich gemacht- durch eine besondere Betonung bestimmter Zeichen und Schwerpunkte, durch eine individuelle Gewichtung der bedeutenden Elemente. Die daraus resultierenden, je eigenen Deutungen gehen, aus der historischen Perspektive betrachtet, nicht einfach als nachrangig unter, sondern ihre Aussagen machen die letztlich wahrgenommene Bedeutung von Zeichensystemen genauso aus wie der ursprüngliche Diskurs, der interpretiert wurde- vorausgesetzt, die Deutung stößt auf Offenheit bei ihren Rezipienten. An wohl keinem anderen Sachverhalt wird das Wesen der von Heidegger vollzogenen ontologischen Wende so eindrücklich offenbar wie hier: maßgeblich für die Relevanz eines Seienden ist nicht eine zugrundeliegende, wesenhafte Qualität; das Wesen des Seienden ist vielmehr selber durch seine eigene Zeitlichkeit, will sagen das wiederum als zeitlich und kontextabhängig aufzufassende Vorverständnis, mit dem ihm begegnet wird, bedingt.
Der Interpret ist aufgrund seines Daseins als Subjekt von sich aus nicht in der Lage, den positiven oder negativen Einfluß seines Vorwissens, sprich seiner Vorurteile in irgend einer Weise adäquat zu bewerten. Jeder kann immer nur das verstehen, wofür er schon ein Vorverständnis entwickelt hat. Gadamer sagt dazu:
[...]
[1] Ricoeur, S. 548-549.
[2] Nach: Artikel zu Hermeneutik und Scholastik in Hügli, Anton & Poul Lübcke (Hg.): Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg, 1998. oder auch Craig, Edward (Hg.): Routledge Enceclopedia of Philosophy. London & New York, 1998.
[3] Siehe dazu Gadamer: Wahrheit und Methode, insbes. S. 188 ff.: Schleiermachers Entwurf einer universalen Hermeneutik.
[4] Nach Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 193.
[5] Siehe dazu beispielsweise die einschlägigen Artikel in: Craig, Edward (Hg.): Routledge Enceclopedia of Philosophy. London und New York, 1998. oder auch Hügli, Anton und Poul Lübcke (Hg.): Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg, 1998.
[6] Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 222.
[7] Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 226.
[8] Bollnow, S. 67.
[9] Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 227.
[10] Bollnow, S. 74.
[11] Bormann, S. 84.
[12] Besonders eindrücklich positioniert Gadamer sich in dem Essay „Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik“ zu den Wurzeln seiner Verstehenslehre. Hier benennt er die sokratische Gesprächsführung als Initialzündung einer Auffassung von Redekunst, „die effektvoll Einleuchtendes vorzubringen hat“ (S. 60). Auf dieser Basis eröffnet sich ihm dann in fruchtbarer Perspektive eine denkbare Einheit von Logik und Rhetorik sowie eine „Brücke“ zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem (S. 61 ff.).
[13] Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 478.
[14] Gadamer: Replik, S. 314.
[15] Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 270.
[16] Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 302.
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