Lesemotivation und differenzierte Leseförderung im zweiten Schuljahr

Eine handlungs- und produktionsorientierte Literaturwerkstatt zum Kinderroman "Hexe Lakritze" von Eveline Hasler


Epreuve d'examen, 2005

50 Pages, Note: 14 Punkte


Extrait


Inhalt

0. Sachstruktur

1. Einleitung

2. Theoretische Erörterungen zum Thema
2.1 Definitorische Annäherungen an Literaturdidaktik
2.2 Handlungs- und produktionsorientierte Methoden im Deutschunterricht
2.2.1 Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren – Eine Übersicht
2.3 Differenzierung
2.4 Merkmale des Werkstattunterrichts
2.4.1 Die Rolle des Lehrers im Werkstattunterricht

3. Planung der Unterrichtseinheit zur Literaturwerkstatt
3.1 Bedingungsanalyse
3.1.1 Situation der Klasse
3.1.2 Lernvoraussetzungen der Schüler
3.1.3 Lernvoraussetzungen ausgewählter Schüler
3.2 Didaktische Vorüberlegungen zur Literaturwerkstatt
3.2.1 Allgemeine Überlegungen zum Thema „Lesen“ in der Grundschule
3.2.2 Begründungen der Literaturauswahl
3.2.3 Begründungen der gewählten Unterrichtsform
3.2.4 Begründungen der gewählten Aufgabenformen
3.3 Methodische Vorüberlegungen zur Durchführung der Literaturwerkstatt
3.4 Ziele der Literaturwerkstatt

4. Darstellung der Unterrichtspraxis
4.1 Gesamtübersicht der Werkstattstunden
4.1.1 Beschreibung der Arbeitsangebote und deren Teilziele
4.2 Reflexion einzelner Arbeitsangebote
4.2.1 Angebot 7: „Wer schreibt mir da?“
4.2.1.1 Didaktisch – methodische Vorüberlegungen zu Angebot 7
4.2.1.2 Reflexion des Angebots 7
4.2.2 Angebot 17: „Der schnellste Besen – Lese-Abschluss-Check“
4.2.2.1 Didaktisch – methodische Vorüberlegungen zu Angebot 17
4.2.2.2 Reflexion des Angebots 17
4.2.3 Angebot 29: „Die alte Frau – Superkräfte“
4.2.3.1 Didaktisch – methodische Vorüberlegungen zu Angebot 29
4.2.3.2 Reflexion des Angebots 29
4.3 Reflexion der Motivation und des Lernfortschrittes ausgewählter Schüler

5. Gesamtreflexion
5.1 Reflexion der Unterrichtsform
5.2 Reflexion der Arbeitsangebote
5.3 Reflexion des Lernziels
5.4 Rolle der Lehrerin
5.5 Rückblick und Aussichten auf späteres Handeln

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang

Anhang 1 –Bilddokumentation

Anhang 2 – Arbeitsergebnisse der Schüler, Hexe Lakritze – Fragebogen

Anhang 3 – Arbeitsmaterial der Angebote

1. Einleitung

Der didaktische Begriff „Leseförderung“ nimmt besonders in Folge der PISA - Studie und, im Falle der Grundschulpädagogik, der IGLU - Studie einen großen Stellenwert im Deutschunterricht ein. Es steht fest, dass die Lesekompetenz vieler deutscher Schüler förderungsbedürftig ist. Offen ist aber noch immer die Frage nach dem WIE beziehungsweise nach methodischen Hinweisen auf eine effektive Leseförderung der Kinder. Leseförderung meint im heutigen Sinne nicht mehr nur die „Unterstützung leseschwacher Kinder“[1], sondern auch das Steigern der Lesemotivation, so dass der Leser angesprochen und darüber hinaus zu Sprachhandlungen aktiviert wird.[2] Nur durch eine positive Vermittlung von Literatur kann man Kindern einen emotionalen Zugang zum Lesen verschaffen, was als Voraussetzung für die Erweiterung der Lesekompetenz gilt. Für Grundschulkinder ist es wichtig, sie durch „action“, die sie oftmals nur in audiovisuellen Medien konsumieren, Leseerfahrungen sammeln zu lassen. „Das tun sie, wenn sie auf die Bewusstseinsebenen von Meta-Kognition und -Gedächtnis gelangen, d.h. Leseverfahren erkunden, erarbeiten und gebrauchen (Elaborationsstrategien, PISA 2002, 132 u. 272 ff.)[3] In „Aktion“ treten Schüler vor allem bei produktiv-handelndem Lesen, da sie mit dem Text in vielfältiger Weise in Berührung kommen. In einem traditionellen Frontalunterricht kommen die handelnden Verfahren kaum zum Tragen. Aus diesem Grund heißt es, den Umgang mit literarischen Texten im Unterricht zu überdenken.

In der vorliegenden Arbeit möchte ich die Methode der Literaturwerkstatt, die den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht integriert, vorstellen und der Frage nachgehen, ob der Werkstattunterricht eine geeignete Methode ist, die Lesekompetenzen leistungsschwacher sowie leistungsstarker Schüler zu erweitern und deren Lesemotivation zu steigern. In der Unterrichtseinheit zur Ganzschrift „Hexe Lakritze“ von Eveline Hasler wurde die Werkstattarbeit in einer zweiten Klasse durchgeführt. Diese soll hier dargestellt und ausgewertet werden.

Die Klasse 2b der Burgwaldschule in Wetter zeichnet sich durch ein sehr heterogenes Leistungsniveau im Bereich der Lesekompetenz aus. Nicht alle Kinder dieser Klasse leben in einer lesefreundlichen familiären Umgebung, die eine notwendige Grundvoraussetzung bei der Entwicklung zu einem kompetenten Leser darstellt. Aus diesem Grund hat die Schule die wichtige Aufgabe, Kinder zum Lesen zu animieren und auch für den hedonistischen Umgang mit Literatur genügend Raum zu schaffen.

Mein Beobachtungsschwerpunkt in dieser Arbeit liegt also darin, zu untersuchen, wie effektiv die o.g. Methode ist, um die Lesefähigkeit und -motivation zu fördern. Dabei sollen in einem ersten Teil die theoretischen Hintergründe des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts, der Werkstattmethode und der Differenzierung innerhalb einer heterogenen Lerngruppe dargelegt werden. Im zweiten Teil werden die Planung, Durchführung und Ergebnisse der Literaturwerkstatt „Hexe Lakritze“ zusammengefasst.

Anhand der beiliegenden Sachstruktur werden Verknüpfungen zwischen theoretischen Hintergründen von Literaturdidaktik, moderner Kinder- und Jugendliteratur, Öffnung des Unterrichts und der Umsetzung der Literaturwerkstatt zum Kinderroman „Hexe Lakritze“ dargestellt.

2. Theoretische Erörterungen zum Thema

2.1 Definitorische Annäherungen an Literaturdidaktik

Die Literaturdidaktik wird als Wissenschaft von den Zielen, Inhalten und Verfahren des Literaturunterrichts verstanden.

Im Zentrum der Literaturdidaktik steht die Konzeption, Rezeption sowie theoretisch begründete Antizipation des literarischen Lernens. Literarisches Lernen wiederum meint die Fähigkeit zu erwerben, einen literarischen Text zu erkennen, zu analysieren, zu kommentieren, die Wahrnehmung für indirekte Form der Wissensvermittlung über die Welt zu schärfen aber auch den Text als solchen zu genießen.[4]

Im folgenden Punkt soll es um den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht als literaturdidaktisches Konzept gehen, an dessen Konzeption ich mich bei den Aufgabenformen der geplanten Literaturwerkstatt zu dem Kinderroman „Hexe Lakritze“ orientiert habe.[5]

2.2 Handlungs- und produktionsorientierte Methoden im Deutschunterricht

Obwohl der produktive Umgang mit Literatur keine Neuerfindung ist, so ist handlungs- und produktionsorientierter Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur[6][7] zum Kennzeichen der jüngeren Literaturdidaktik geworden. Handelnder Literaturunterricht[8] gehörte vor allem zum Konzept der Reformpädagogik seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts und zum Konzept Freinets. Waldmann konstatiert, dass für den Literaturunterricht Formen produktiver Verfahren schon seit den 50er Jahren vorgeschlagen wurden (Vertreter: Ulshöfer); stärker gefordert werden sie allerdings erst seit den letzten fünfzehn Jahren.[9] Das heutige Konzept des handelnden Literaturunterrichts gilt als Gegenmodell zu einem analytisch-interpretierenden Literaturunterricht. „Indem die Schüler(innen) schreibend, malend, spielend mit den Texten umgehen, wird auf affektiver und imaginativer Ebene ein Bezug zum Gelesenen hergestellt, der die Voraussetzung für fruchtbare kognitive Auseinandersetzung ist.“[10]

Dieser Ansatz ist zum einen aus dem Anliegen entstanden, die Schullektüre mit der privaten Lektüre der Schüler zu verknüpfen und somit die Lust am Lesen zu fördern. Zum anderen eignet sich ein handelndes Lernen im Umgang mit KJL, da diese in den letzten Jahren immer mehr Berücksichtigung im Deutschunterricht gefunden hat.[11]

Theoretisch und praktisch fundiert wurde das Modell eines handelnden Literaturunterrichts in den 80er Jahren. Fingerhut konstatiert, dass er als nicht-wissenschaftlicher Umgang mit Literatur bezeichnet werden kann: die Schüleraktivität passe nicht in den traditionellen Rahmen des Interpretierens, da die Kinder ästhetische Produkte herstellen und Handlungen ausführen. Haas, Menzel und Spinner definieren zwei Grundformen des aktiv produktiven Handelns der Schüler:

1. Produktionsorientierung akzentuiert vor allem schreibende Arbeitsformen, wie z. B. das Herstellen eigener Texte. Die Schüler werden selbst tätig, indem sie u.a. Geschichten ergänzen, umschreiben, fortsetzen etc.
2. Bei der Handlungsorientierung stehen dagegen „szenische, graphisch-bildliche, musikalische, körpersprachliche, vortragende, spielerische und ähnliche Inszenierungen zu literarischen Texten“[12] im Vordergrund.

Handlungs- und Produktionsorientierung lassen sich jedoch nicht klar trennen. In der didaktisch-methodischen Umsetzung treten häufig Überschneidungen und Mischformen der beiden Arbeitsweisen auf.

Besonders auf Grund des eher rezeptiven und passiven Fernsehen- und Medienkonsums der Kinder nehmen handelnde Verfahren im Deutschunterricht immer mehr an Bedeutung zu. Waldmann stellt fest, dass der handelnde Umgang mit Literatur „eine wichtige Alternative von aktivem, produktivem kulturellem Verhalten“[13] darstellt. Spinner nennt folgende Punkte als wichtigste Ziele eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts:

- Freude und Lust am Umgang mit Literatur empfinden
- Sensibilisierung für Literatur, ihre Inhalte, Formen und Leistungen
- eigene emotionale und imaginative Erfahrungen mit Literatur machen
- durch eigene Praxis Einsicht in Funktion literarischer Techniken und Strukturen gewinnen
- Erfahrungen mit der Produziertheit von literarischen Texten machen
- lernen literarische Formen zu verwenden und eigene Erfahrungen mit dem Schreiben von literarischen Texten machen

Mit handelndem Literaturunterricht ist jedoch keineswegs ein wahlloses Agieren gemeint, wie es in zahlreichen Lernwerkstätten oder -karteien, die im Handel zu erwerben sind, angeregt wird. Gemeint sind laut Gerhard Haas ein verstehender Umgang und ein Reagieren auf literarische Texte durch Ergänzen, Verändern, Widersprechen, Spielen, Verfremden.[14] Neben Haas entwickelten Didaktiker wie Kaspar H. Spinner, Wolfgang Menzel, Günter Waldmann oder Harro Müller-Michaels jeweils ihr eigenes Verständnis von dieser Art der Literaturdidaktik. Haas begreift den handelnden Literaturunterricht als Gegenmodell zum traditionellen Literaturunterricht. Während für ihn Hauptziel des handelnden Literaturunterrichts ein intensiver Kontakt mit dem Text durch Handeln und Agieren ist, wobei Einsicht und Erkenntnis zunächst sekundär sind, favorisiert Menzel operative Methoden, die einen experimentierenden Umgang mit Textelementen anbieten.[15] Menzel betont, dass operative Verfahren den üblichen Literaturunterricht keineswegs ersetzen, sondern ergänzen sollten.[16] Spinner hingegen bevorzugt produktive Verfahren, die nach seiner Vorstellung einen wichtigen Beitrag zur Wahrnehmungssensibilisierung, Identitätsentwicklung und Perspektivenübernahme leisten. Die Erkenntnisziele sind hierbei, anders als bei der Vorstellung Menzels, nicht vorab festgelegt.[17] Waldmann und Müller-Michaels berufen sich größtenteils auf die Theorien der Rezeptionsästhetik: Literarische Texte werden demnach erst durch die Rezeption des Lesers konkret.

Neben den Chancen, die ein handelnder Literaturunterricht bieten kann, werden allerdings auch Grenzen dieser Verfahren in der neueren Literaturforschung geäußert. Hans Kügler mahnt an, dass literarische Texte durch handelnde Verfahren manipuliert werden und so vom Original abgelenkt wird. Dabei gehe einerseits der Respekt vor dem dichterischen Werk verloren, andererseits würden Schülertexte im Vergleich zum Originaltext entwertet. Kügler sieht auch den Nachteil, dass handelnde Verfahren nur begrenzt sind und lediglich auf kurze Texte, nicht aber auf längere oder ältere Werke, angewandt werden können. Außerdem biete die Unterrichtsstunde einen zu knappen Zeitrahmen für ausführliche Arbeit mit dem Text. Er kritisiert zudem das wahllose, vom Text losgelöste Handeln, d.h., dass die Methoden des handelnden Unterrichts zum Selbstzweck ausarten können. Handeln am Text setze ein tieferes Textverständnis voraus und erzeuge dieses nicht.[18] Kügler geht in seinem Aufsatz von einem Schüler aus, der in der Lage ist, einen Text zu verstehen. Leseschwache und leseunwillige Schüler, die Probleme bei der Textanalyse haben, klammert er in seiner Kritik allerdings aus. Gerade für diese Kinder, so Haas, ist der handlungs- und produktionsorientierte Ansatz ein wertvolles Konzept, um ein Fundament für kritisches analytisches Lernen zu schaffen, Lesemotivation zu fördern und Vorerfahrungen im Umgang mit literarischen Texten zu gewährleisten.[19]

Einwände und Grenzen dieser Didaktik sollten nicht außer Acht gelassen werden, vor allem wenn es darum geht, das konkrete Lernziel nicht aus den Augen zu verlieren. Vor einer Beliebigkeit des Unterrichtsverlaufs sollte dringend vorgebeugt werden. Es bedarf daher einer genauen Prüfung der Materialien und der Klärung, ob das Lernangebot zu einem Textverständnis führt. Handelnder Literaturunterricht sollte außerdem ein Teilgebiet und eine Möglichkeit des Unterrichts sein und nicht durch Selbstverständlichkeit den Reiz verlieren. Eine zentrale Frage dieser Arbeit soll sein, ob durch die handelnde und produktive Auseinandersetzung mit dem Text das Textverständnis gefördert wird und dabei unterschiedliche Lerntypen angesprochen werden. Zudem soll untersucht werden, ob die Leselust der Kinder gefördert wird und eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Originaltext geschaffen werden kann.

2.2.1 Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren – Eine Übersicht

Die Möglichkeiten des handelnden Literaturunterrichts sind zahllos. Bartnitzky verweist auf drei Haupttypen (s. Tabelle unten). Viele dieser Verfahren können in verschiedenen Medien umgesetzt werden; sie können textlich, auditiv, visuell und inszenierend mit einer Mischung der Medien sein.[20] Im Unterricht werden meist mehrere Verfahren miteinander kombiniert.

Nachfolgend soll eine Übersicht über handlungs- und produktionsorientierte Verfahren[21] dargestellt werden, die grundlegend für die Literaturwerkstatt der vorliegenden Unterrichtseinheit ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.3 Differenzierung

Die Annahme, dass alle Schüler in gleicher Zeit auf gleichem Wege zu gleichen Zielen geführt werden können, ist utopisch. Davon geht allerdings der Frontalunterricht aus, der heutzutage zu 75% in den Schulen praktiziert wird.[22] Ein solcher Unterricht schließt für schulisches Lernen bedeutsame interindividuelle Unterschiede[23] aus.

Wenn Schule aber einen Schüler entsprechend seiner Individualität fördern will, die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ernst nimmt, unterschiedliche Lernausgangslagen berücksichtigt und Freude am Lernen und Arbeiten erreichen möchte, dann muss sie stärker als bisher differenzieren und individualisieren.

„Unter Differenzierung versteht man sowohl ein Unterrichtsprinzip als auch die entsprechenden Maßnahmen der Unterrichtsgestaltung zur Verwirklichung dieses Prinzips…Als eine pädagogische und organisatorische Maßnahme dient Differenzierung der gruppenmäßigen oder individuellen Anpassung entweder von Schwierigkeitsgraden der Anforderungen an den Entwicklungsstand und die Leistungsfähigkeit der Schüler (Differenzierung nach Fähigkeiten) oder von Lernzielen und Angeboten an die Neigungen und Lernbedürfnisse (Differenzierung nach Interessen)“ (Schröder 1992, S. 64).[24]

In der Literatur wird zwischen „äußerer“ und „innerer“ Differenzierung unterschieden. Bei der äußeren Differenzierung handelt es sich um organisatorische Maßnahmen zur Bildung möglichst homogener Gruppen. Diese Gliederung betrifft Schulen, z. B. Schularten, Klassen, Kurs-, Neigungs- und Fördergruppen.[25]

Da die Maßnahmen der inneren Differenzierung in der von mir gewählten Unterrichtsform eine zentrale Rolle spielen, sollen diese im Folgenden näher erläutert werden. Bei der inneren Differenzierung werden die Schüler einer Klasse auf Grund unterschiedlicher Lernausgangslagen in Lehr- und Lernprozessen in Gruppen mit verschieden gestalteten Lernangeboten aufgeteilt.[26] Hierbei steht das Ziel im Vordergrund, den größten Teil der Schüler zur Bewältigung der verbindlichen Lehrziele zu führen. Lernwege, Materialien, Lernzeit und Hilfen werden dabei variiert und der Leistungsfähigkeit des Kindes angepasst.

Ansprüche an die innere Differenzierung in der Grundschule sind, dass individuelle Fähigkeiten und Interessen der Schüler gefördert, Lerndefizite behoben und Lernmotivation erhöht wird. Der Unterricht soll zur Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit führen und auch soziale Kooperation ermöglichen. Dabei darf sich jedoch keine Benachteiligung der leistungsstärkeren Kinder ergeben, die durch „Zusatzaufgaben zu einer Erweiterung und Vertiefung des Fundaments geführt werden können.“[27]

Aus diesem Grund ist die genaue Kenntnis des individuellen Lern- und Fähigkeitsstandes des Kindes sowie die präzise Aufgabenstellung eine zentrale Aufgabe des Lehrers. Aber auch die Schüler selbst müssen für den Erfolg differenzierter Maßnahmen wie z. B. Aufteilung der Klasse in Gruppen, Partner- oder Einzellernen mit unterschiedlichen Aufgaben, selbsttätige und selbstständige Arbeit und die dafür notwendigen Arbeitstechniken beherrschen sowie mit den Lernmaterialien umgehen können und Integrationsbereitschaft aufweisen.

Unterrichtliche Einsatzmöglichkeiten differenzierter Maßnahmen erfolgen besonders im Rahmen offener Unterrichtssituationen. Es ist allerdings Vorsicht geboten, wenn offene Organisationsformen mit Differenzierung gleichgesetzt werden. Innere Differenzierung ist aufgaben- und lehrgangsspezifisch und vom Lehrer auf individuelle Lernstände eines Schülers oder einer Schülergruppe hin geplant. Wenn diese Aspekte in obligatorischen Aufgaben einer offenen Unterrichtsform integriert werden, überschneiden sich offener Unterricht und innere Differenzierung.[28]

Geht man von der Leitfrage der vorliegenden Arbeit aus, nämlich wie man die Lernchancen aller Schüler im Literaturunterricht erhöhen kann, so ist eine innere Differenzierung und damit die Berücksichtigung der Individualität, der Interessen und Fähigkeiten jedes einzelnen Schülers unverzichtbar. Da die Einsatzmöglichkeiten differenzierter Maßnahmen im Rahmen offener Unterrichtssituationen äußerst günstig sind, ist es sinnvoll, innere Differenzierung mit der Organisationsform der Werkstattarbeit zu verknüpfen. Im Folgenden soll zum näheren Verständnis auf das Prinzip und die Ziele des Werkstattunterrichts eingegangen werden. Außerdem soll herausgestellt werden, welche Möglichkeiten Werkstattarbeit für die Berücksichtigung individueller Lernchancen bietet.

2.4 Merkmale des Werkstattunterrichts

In den 70er Jahren wurde der Werkstattunterricht als reformpädagogisch geprägtes Konzept eines geöffneten Unterrichts[29] von Käthi Zürcher/ Franz Schär und Jürgen Reichen in der Schweiz konzipiert. Die heute vorzufindende Form wurde aber vor allem durch Reichen weiterentwickelt und bekannt gemacht.[30] Reichen versteht unter Werkstattunterricht eine sog. „Lernumwelt“:

„Den Schülern steht zu einem bestimmten Thema ein vielfältiges Arrangement von Lernsituationen und Lernmaterialien für Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit zur Verfügung. Dabei lassen sich die Lernangebote in der Regel im Selbststudium nutzen und ermöglichen den Schülern freie Wahl der Aufgabenfolge, Zusammenarbeit mit Kameraden, Selbstkontrolle u.v.m. (…) Es werden verschiedene Arbeitsplätze mit wenigen obligatorischen und vielen freiwilligen Lernangeboten eingerichtet.“[31]

Der Lehrer soll Lernprozesse anregen, indem er Aufgaben, Anschauungsmaterial und Hilfsmittel bereitstellt und Schüler allenfalls berät. Etwas stärker als Reichen sieht Andreas Weber eine Einschränkung der Offenheit in Bezug auf die Arbeitsaufträge: „Aufträge und Materialien sind vom Lehrer vorbereitet und strukturiert worden, die Schüler haben also keinen oder nur einen geringen Einfluss auf die Auftragserteilung.“[32]

Der Begriff „Werkstatt“ ist aus den Parallelen zur Arbeitsgestaltung in Handwerksbetrieben entstanden. In den sog. „Lernstätten“ wurde der Lernstoff an Ort und Stelle mit beruflich-handwerklichen Arbeiten verbunden. In der Schule wurde diese Idee aufgegriffen. Wie in einer betrieblichen Werkstatt sollen alle Schüler vorwiegend selbstständig an verschiedenen Aufträgen arbeiten, die Arbeit mit bereitgestelltem oder noch zu besorgendem Material erledigen und dies mit oder ohne Hilfe kompetenter Ansprechpartner.[33]

Nach Reichen tritt der Lehrer während der Arbeit in den Hintergrund. Er wird zum Berater, Moderator und Beobachter. Frontale Unterrichtssequenzen entfallen fast gänzlich. Außer der Eröffnung im Morgenkreis oder in Abschlussphasen im Plenum, in denen Fragen geklärt oder Ergebnisse der Schüler präsentiert werden können, arbeiten die Kinder selbstständig und eigenverantwortlich.

Eine Werkstatt soll den Schülern ermöglichen, ihre Aufgaben selbst zu wählen und ihren persönlichen Lerninteressen nachzugehen. Auch über Zeitpunkt, Tempo und Rhythmus der Arbeit sowie Sozialform bestimmen sie weitgehend selbst.[34]

Inhaltlich geht Reichen davon aus, dass Werkstattunterricht an ein Thema gebunden oder aber auch ungebunden sein kann. Er unterscheidet reinen Werkstattunterricht, Werkstätten, die mit anderen Unterrichtsformen vermischt sein können und begleitende Werkstattarbeit, die als freiwilliges Ergänzungsangebot im „normalen“ Unterricht genutzt werden kann. Einen Sonderfall sieht er in der „programmierten“ Lernwerkstatt. „Sie besteht aus einem Überangebot an strukturell zusammenhängenden Lern- und Handlungsmöglichkeiten zu einem bestimmten Lernbereich, die in einer bestimmten Abfolge zu bearbeiten sind.“[35] Auch die Zeitdauer einer Werkstattarbeit kann variieren. Sie kann von täglich einer Stunde bis hin zu einer durchgehenden Arbeit von ein bis zwei Wochen reichen. Dabei können, müssen aber keine obligatorischen Aufträge angeboten werden.

[...]


[1] Vgl. Sahr, Michael: Leseförderung durch Kinderliteratur: Märchen, Bilder- und Kinderbücher im Unterricht der Grundschule. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2003, S. 1

[2] Vgl. Bergk, Marion: Kreative und kommunikative Wege zur Lesekompetenz. In: Grundschulunterricht 1/2003, S. 3

[3] ebd.

[4] Vgl. Bogdal, Klaus-Michael; Korte, Hermann (hrsg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. Dtv 2002

[5] In der Sachstruktur werden weitere Tendenzen der geschichtlichen Entwicklung der Literaturdidaktik dargelegt.

[6] Definition: „Handlungsorientierter Unterricht ist ein ganzheitlicher und schüleraktiver Unterricht, in dem die zwischen dem Lehrer und den Schülern vereinbarten Handlungsprodukte die Organisation des Unterrichtsprozesses leiten, so dass Kopf- und Handarbeit der Schüler in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden können.“ Meyer, Hilbert: Unterrichtsmethoden Bd. 1. Scriptor, Frankfurt am Main, 1987, S. 214. Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht kann als ein Unterricht verstanden werden, indem Schüler ästhetisch - kreativ tätig werden. Fingerhut konstatiert, dass er als ein nicht-wissenschaftlicher Umgang mit Literatur bezeichnet werden kann.

[7] Kinder- und Jugendliteratur wird im Folgenden mit KJL abgekürzt

[8] Da der Doppelbegriff „handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht“ unnötig umständlich ist, möchte ich ihn durch den einfacheren Sammelbegriff „handelnder Literaturunterricht“ ersetzen. Vgl. Bartnitzky , Horst: Sprachunterricht heute. Cornelsen Scriptor 2000, S. 186

[9] Vgl. Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit Literatur. In: Lange, Günter (hrsg.) u.a.: Taschenbuch des Deutschunterrichts Bd. 2. Schneider Verlag Hohengehren 2003, S. 488

[10] Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur. In: Lange, Günter u.a. (hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Schneider Verlag Hohengehren 2000, S. 978

[11] Vgl. ebd.

[12] Paefgen, Elisabeth: Einführung in die Literaturdidaktik. Metzler 1999, S. 127

[13] Waldmann, Günter 2003, S. 497

[14] Vgl. Haas, Gerhard: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht, Theorie und Praxis eines anderen Literaturunterrichts für Primar- und Sekundarstufe. Kallmeyer 2001, S. 44

[15] Vgl. Haas, Gerhard; Menzel, Wolfgang; Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch, Sonderheft 2000, S. 15

[16] Vgl. Bartnitzky, Horst: Sprachunterricht heute. Cornelsen Scriptor 2000, S. 184

[17] Vgl. ebd.

[18] Vgl. Kügler, Hans: Erkundung der Praxis. Literaturdidaktische Trends der 80er Jahre – zwischen Handlungsorientierung und Empirie (Teil 1 und 2). In: Praxis Deutsch, Heft 91, 1988

[19] Vgl. Haas, Gerhard; Spinner, Kaspar H.; Menzel, Wolfgang 2000, S. 15

[20] Vgl. Bartnitzky 2000, S. 186

[21] Tabelle der Verfahren übernommen von Bartnitzky 2000, S. 190

[22] Vgl. Meyer-Willner, Gerhard: Differenzierung und Individualisierung. In: Einsiedler, Wolfgang (hrsg.) u.a.: Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik. Klinkhardt 2001, S. 367

[23] Interindividuelle Unterschiede sind z. B.: „unterschiedliches genetisches Potenzial; unterschiedliche Lebensumwelten und damit unterschiedliche Vorerfahrungen; unterschiedliches soziales Milieu mit Auswirkungen auf Spracherwerb, Erziehungspraktiken usw.; unterschiedliche häusliche Arbeitsbedingungen; unterschiedliche Leistungsmotivation, Anstrengungsbereitschaft und Belastbarkeit; unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse; unterschiedliche Fähigkeiten, Fertigkeiten, Defizite; unterschiedliche Lerntempi; unterschiedlich ausgebildete Gedächtnis- und Konzentrationsfähigkeit; unterschiedliche Lerntypen.“ Vgl. ebd.

[24] Maras, Rainer u.a.: Handbuch für die Unterrichtsgestaltung in der Grundschule. Auer Verlag 2003, S. 88

[25] Vgl. ebd.

[26] Vgl. Köck 1995, zitiert in: Maras 2003, S .88

[27] Meyer-Willner 2001, S. 372

[28] Vgl. ebd., S. 373

[29] Merkmale offener Unterrichtsformen siehe Sachstruktur

[30] Vgl. Peschel, Falko: Offener Unterricht. Idee, Realität, Perspektive und ein praxisorientiertes Konzept in der Diskussion. In: Bennack, Jürgen (hrsg.): Basiswissen Grundschule Bd. 9. Schneider Verlag Hohengehren 2002, S. 29

[31] Reichen, Jürgen: Sachunterricht und Sachbegegnung. Sabe 1997, S. 61f

[32] Weber, Andreas: Werkstatt – Unterricht. Verlag an der Ruhr 1998, S. 9

[33] Vgl. Peschel 2002, S. 29 f

[34] Vgl. Reichen 1997, S. 62

[35] ebd., S. 64

Fin de l'extrait de 50 pages

Résumé des informations

Titre
Lesemotivation und differenzierte Leseförderung im zweiten Schuljahr
Sous-titre
Eine handlungs- und produktionsorientierte Literaturwerkstatt zum Kinderroman "Hexe Lakritze" von Eveline Hasler
Cours
Pädagogische Prüfungsabeit zur zweiten Staatsprüfung für das Lehramt an Grundschulen in Hessen
Note
14 Punkte
Auteur
Année
2005
Pages
50
N° de catalogue
V56942
ISBN (ebook)
9783638514989
ISBN (Livre)
9783656773290
Taille d'un fichier
579 KB
Langue
allemand
Mots clés
Lesemotivation, Leseförderung, Schuljahr, Literaturwerkstatt, Kinderroman, Hexe, Lakritze, Eveline, Hasler, Pädagogische, Prüfungsabeit, Staatsprüfung, Lehramt, Grundschulen, Hessen
Citation du texte
Katrin Busch (Auteur), 2005, Lesemotivation und differenzierte Leseförderung im zweiten Schuljahr, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/56942

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