Thomas Manns "Der Tod in Venedig" - Die Verführung Aschenbachs durch Dionysos


Dossier / Travail de Séminaire, 2002

21 Pages, Note: 2,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung: Thomas Mann und Gustav von Aschenbach - Autobiographisches in der Erzählung

B. Die Verführung Aschenbachs durch Dionysos
1. Aschenbachs Hang zum Dionysischen
l.l Das bisherige Leben Aschenbachs
l.2 Die ersten Anzeichen des Dionysischen
2. Die Todesboten - Die Ankündigung des Verfalls
2.1 Der Fremde vor der Aussegnungshalle
2.2 Der falsche Jüngling
2.3 Der Gondoliere
2.4 Der Bänkelsänger
2.5 Die Funktion der Todesboten
3. Tadzio - Der Verführer
3.1 Die ersten Begegnungen mit Tadzio 3-2 Der Fluchtversuch
3.3 Versuch der Sublimierung - Die erlesene Prosa
3.4 Tadzios Lächeln
3.5 Tadzio als Hermes und sein Gang ins Verheißungsvoll-Ungeheure
4. Der Verfall Aschenbachs
4.l Die Cholera und der innere Verfall
4.2 Das Motiv der Faust und der offenen Hand
4.3 Die dionysische Schreckensvision und der Untergang im Tode

C- Schluss: Muss die Kunst am Dionysischen untergehen?

D. Literaturverzeichnis

A. Einleitung: Thomas Mann und Gustav von Aschenbach - Autobiographisches in der Erzählung

Bei der folgenden Untersuchung der Verführung des Schriftstellers Aschenbach durch das Dionysische halte ich es für wichtig auch immer die Parallele zu Thomas Manns Leben zu ziehen, denn „es scheint [...], als habe Thomas Mann, nachdem er Aschen­bach getötet, dessen Verirrungen erst auch selbst nachvollziehen müssen.“[1] In der Erzählung geht es somit auch um Thomas Mann selbst und zwar genauer gesagt, um dessen „Kunst [...] und deren Verhältnis zu seinem Leben.“[2] In seiner Autobiographie „On myself“ von 1940 betonte er. dass die Erzählung „die moralisch und formal zugespitzteste und gesammeltste Gestaltung des Décadance- und Künstlerproblems“[3] sei, mit welchem er sich zeit seines Le­bens auseinander zu setzen hatte. Doch nicht nur die zentrale Künstlerproblematik der Novelle ist aus Thomas Manns Leben gegriffen, sondern auch die äußeren Geschehnisse. In seinem „Lebensabriss“ von 1930 erwähnt er, dass „im ,Tod in Venedig' nichts erfunden [sei]: Der Wanderer [...], der greise Geck, der verdächtige Gondolier, Tadzio und die Seinen [...] - alles war gegeben [...] und erwies dabei aufs verwunderlichste seine kompositionelle Deutungsfähigkeit.“[4] Aus diesem Grund sollen einige autobiographische Fakten zur Entsteh­ungsgeschichte der Erzählung der eigentlichen Analyse vorangestellt werden.

Im Mai 1911 reiste Thomas Mann nach der Insel Brioni vor Istrien, wo er vom Tod des Komponisten Gustav Mahler erfuhr, dessen Bekanntschaft er gemacht hatte und der ihn wohl sehr beeindruckt hatte. Er verlieh seinem Helden Aschenbach nicht nur dessen Vor­namen, sondern auch dessen Äußeres. Nach einem relativ kurzen Aufenthalt auf Brioni ging es »«her nach Venedig, wo er im Hotel des Bains am Lido wohnte. Dort verfasste er den Aufsatz -Über die Kunst Richard Wagners“, der wie ,jene anderthalb Seiten erlesener Prosa“ (S. 55)[5] Aschenbachs auf einem hoteleigenen Briefbogen verfasst wurde. Die Inspirationsquelle Aschenbachs, der schöne Jüngling Tadzio, war in Thomas Manns Leben der damals 14-jährige polnische Junge Wladyslaw Baron Moes (Rufname Wladzio), der ihm am Lido bege­gnete. Nach der Rückkehr von Venedig begann Thomas Mann mit der Arbeit am „Tod in

Venedig“, dessen ursprüngliches Thema die Liebe des 74-jährigen Goethe zur 19-jährigen Ulrike von Levetzow in Marienbad sein sollte. Dieses Erlebnis inspirierte Goethe zu seinem leidenschaftlichsten Spätwerk der „Marienbader Elegien". „Die Entwürdigung eines hochge­stiegenen Geistes durch die Leidenschaft für ein reizendes, unschuldiges Stück Leben darzu­stellen“[6], war Thomas Manns eigentliches Ziel, bevor er nach Venedig reiste, wo die Ein­drücke der von der Norm abweichenden Stadt ihn wohl veranlassten seinen Novellenplan thematisch abzuändern.

B. Die Verfuhrung Aschenbachs durch Dionysos

Doch nun zum eigentlichen Thema dieser Untersuchung: die Verführung des im Dienste des Apollinischen stehenden Künstlers Aschenbach zum Dionysischen, die „Enthem­mung eines zu klassischer Meisterschaft aufgestiegenen Künstlers ins Dionysische“[7]. Hierfür halte ich es für sinnvoll, zunächst das zweite Kapitel der Erzählung, in welchem die Bio­graphie des Protagonisten geliefert wird, besonders in Augenschein zu nehmen, um seine apollinische Lebensweise zu belegen. Denn „der zu Würde und Ansehen gelangte Künstler, den das zweite Kapitel beschreibt, ist apollinisch“[8].

1. Aschenbachs Hang zum Dionysischen

1.1 Das bisherige Leben Aschenbachs

Der Eindruck, des Lesers, der nach dem ersten Kapitel hervorgerufen wird, mag wohl sein, dass „es nicht gut [steht] um den Helden, den Künstler und Schriftsteller Gustav Aschen­bach; er ringt um die Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit.“[9] Verwunderlich mag zunächst er-scheinen, was ihn blockiert, ihn so plötzlich von seiner Arbeit fort treibt und wie sich seine spontane Reiselust erklären lässt. Ebenso merkwürdig wirkt die Formulierung, dass die Arbeit an seinem Werk ein ,,kalte[r] und leidenschaftliche [r] Dienst[...]“ (S. 11) zugleich sei. Wie kann seine Produktion von einer Gefühlskalte, die man von Thomas Manns „Tonio Kröger“ her kennt, und Leidenschaft bestimmt sein? Eine Klärung der Fragen, die sich beim Lesen

dieses ersten Kapitels aufdrängen, erhofft man sich vom folgenden Abschnitt, in welchem des Schriftstellers Biographie nachgeliefert wird:

Was erfahrt man über den „Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen; de[n] geduldige[n] Künstler" (S. 13)? Schon allein durch die Aufzäh­lung seiner Werke und die Alternative der Namengebung „Gustav Aschenbach oder von Aschenbach" (S. 7) wird deutlich, dass Aschenbach ein „in die Würde des Adelstands erho-bene[r] klassische[r] Nationalschriftsteller“[10] ist, der „schon als Jüngling von allen Seiten auf die Leistung [...] verpflichtet“ (S. 14) war. Diese außerordentliche Leistung fiel ihm allerdings keineswegs leicht: „Aber sein Lieblingswort war ,Durchhalten'“ (S. 14). So ist auch klar, dass Aschenbach der Meinung ist, dass „beinahe alles Große [...] als ein Trotzdem dastehe, trotz Kummer und Qual.“ (S. 15) Für die Schaffung seiner großen Werke muss er wie die Se- bastian-Gestalt[11] „in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeiß[en] und ruhig dasteh[en], während ih[m] die Schwerter und Speere durch den Leib gehen.“ (S. 16) Warum er ein so hohes Maß an Selbstdisziplin besitzt, wird ersichtlich, wenn man seine Herkunft betrachtet: „Seine Vorfahren waren Offiziere, Richter, Verwaltungsfunktionäre gewesen, Männer, die [...] ihr straffes, anständig karges Leben geführt hatten.“ (S. 13) In dieser Tradition des Dien­stes begeht er auch sein künstlerisches Schaffen mit der für ihn notwendigen Gefühlskälte,

indem er „das Wissen [...] leugne[t], es [ablehnt], erhobenen Hauptes darüber [hinweggeht].“

(S. 17) Diese „elegante Selbstbeherrschung“ im „strengen Dienst der Form“ hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass sein Werk „sich ins Mustergültig-Feststehende, Geschliffen-Herkömmliche, [...] Formelle, selbst Formelhafte [wandelte]“ (S. 16,19). Und hier liegt auch das Problem, mit dem sich Thomas Mann selbst konfrontiert sah: „die Verführung durch den Erfolg“[12], der den Schriftsteller unter einen hohen Erwartungsdruck seitens der Öffentlichkeit setzt und somit sein freies künstlerisches Schaffen blockiert, da er sich mehr und mehr an überlieferte Formen klammern wird, um seine erlangte Würde zu erhalten. Dieser Konflikt -impliziert [...]. dass der Preis der ästhetischen Moralität Erstarrung in der Tradition ist.“[13] Es geht um den Gegensatz zwischen bürgerlichem Leben und künstlerischer Existenz. Zu Aschenbachs Bürgerdasein erfahrt man, dass er in München „in bürgerlichem Ehrenstande“ lebte, welcher ..nach kurzer Glücksfrist durch den Tod getrennt“ (S. 19) wurde. Also ist er

nach bürgerlichen Konventionen zwar durchaus angepasst, allerdings ist er äußerst einsam und isoliert, da seine Frau früh verstarb und seine Tochter bereits eine eigene Familie besitzt. Er hat keinerlei emotionale Bindungen und damit keinen Raum für die Auslebung von Emp- findungen. Sein Werk ist sein ausschließlicher Lebensinhalt; die Kunst, die er nur unter einem hohen Maß an Selbstdisziplin, Durchhaltevermögen und Ausschaltung der Leidenschaft er­schaffen kann, dominiert sein Dasein. Diese Art von Kunstverständnis und die disziplinierte

Lebensweise Aschenbachs, die hier beschrieben wurde, kann man unter dem Begriff des Apoll­inischen zusammenfassen. Zu Apoll, dem Gott des schönen Scheins, „der Erkenntnis und des Maßes“[14] gehört, seitdem Nietzsche in seinem Werk „Die Geburt der Tragödie“ das Apollinische dem Dionysischen in einem Spannungsverhältnis gegenübergestellt hatte, die Betonung der Form, das Maßhalten, die Ästhetik und die Nüchternheit. Für Aschenbach bedeutet der apollinische Kunstbegriff „eine forcierte einseitige Unterwerfung der Natur unter die Kunst[15]

1.2 Die ersten Anzeichen des Dionysischen

Doch „die Natur [wartet] auf ihre Stunde der Rache“[16]. Denn Aschenbach ist nicht nur vom Apollinischen durchdrungen, er besitzt auch die Veranlagung zum Diony­sischen, was Rausch, Unform, Verzückung, Auflösung des Ich und Schwärmerei beinhaltet. Im Gegensatz zu seinen Vorfahren väterlicherseits fließt in Aschenbach auch „rascheres, sinnlicheres Blut [...] durch die Mutter des Dichters, Tochter eines böhmischen Kapell­meisters“ (S. 13) Mit der Betonung der musikalischen Wurzeln der Mutter wird angespielt auf die Musik als dionysisches Element; die Hervorhebung ihrer „Merkmale fremder Rasse“ (ebd.) dient ebenfalls der Bezugnahme auf Dionysos als den fremden Gott. Aschenbach ist also nicht nur dem Apollinischen verpflichtet, in ihm finden sich auch ,,dunklere[...], feurigere[...] Impulse[...]“ (ebd.), die ihm bereits durch die Mutter mitgegeben worden sind. Einen Ausbruch dieser Veranlagung erlebte er in seiner „leidenschaftlich unbedingte [n] Ju­gend“ (S. 17). als er „mit der Erkenntnis Raubbau getrieben“ (ebd.) hatte. Erst im Laufe der Zeit gelang es ihm. gegen den Reiz dieser abzustumpfen und „das Wissen zu leugnen, es abzulehnen.“( ebd.) Allerdings bedeutet dies lediglich eine Unterdrückung und keine Löschung des dionysischen Impulses in Aschenbach.

Bereits im ersten Kapitel wird deutlich, dass das Dionysische im Künstler nur auf seinen Ausbruch wartet. Denn als er den Wanderer vor der Aussegnungshalle sieht verspürt.

er „eine Art schweifender Unruhe, ein [...] Verlangen in die Ferne“ (S. 9), welches sich nicht

anders erklären lässt als mit der gezügelten Empfindung, die mittels eines äußeren Reizes

Macht über Aschenbach ergreift und ihn von seiner Arbeit, seinem strengen Dienst fortreißen

[...]


[1] Vaget, Hans R.: Thomas Manns Erzählungen. In: Koopmann, H. (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart .S. 590.

[2] Heller, Erich: Autobiographie und Literatur. Über Thomas Manns Tod in Venedig. In: Essays on European literature St Louis 1972, S. 83.

[3] Zitiert nach Bahr. Erhard: Thomas Mann. Der Tod in Venedig. Reclams Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1991. S. 132. S, 119.

[4] Ebd. S. 119.

[5] Verwendete Ausgabe der Erzählung: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. In: Ders.: Der Tod in Venedig und Erzählungen. Frankfurt am Main 2000.

[6] Zitiert nach: Bahr (l991), S. 116.

[7] Wysling. Hans: Mythus und Psychologie bei Thomas Mann. In: Ders.: Dokumente und Untersuchungen. Beiträge zur Thomas-Mann-Forschung. Thomas Mann Studien III. München 1974, S. 171.

[8] Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Epoche - Werk - Wirkung. München 1985, S. 125.

[9] Kohut, Heinz: Thomas Manns Tod in Venedig. Zerfall einer künstlerischen Sublimierung. In: Mitscherlich,

Alexander (Hg.): Literatur der Psychoanalyse. Psycho-Pathographien I. Frankfurt am Main 1972, S. 144.

[10] Böschenstein, Bernhard: Exzentrische Polarität. Zum Tod in Venedig. In: Hansen, Volkmar (Hg.): Reclams Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 1993, S. 89f.

[11] „Der heilige Sebastian wird, in der florentinischen Renaissance, als ein schöner, von geradezu dekorativen Marterwerkzeugen durchbohrter Jüngling dargestellt.“ (Schmitz, Walter: Der Tod in Venedig. Eine Erzählung aus Thomas Manns Münchner Jahren. In: Blätter für den Deutsch-Lehrer 1985, S. 5.)

[12] Vaget (1990), S. 585.

[13] Lehnert, Herbert: Historischer Horizont und Fiktionalität in Thomas Manns Der Tod in Venedig. In: Gockel, H., Seumann. M. und Wimmer, R. (Hg.): Wagner - Nietzsche - Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich. Frankfurt am Main 1993, S. 262.

[14] Bahr (1991), S. 65.

[15] Böschenstein (1993), S. 94.

[16] Ebd.

Fin de l'extrait de 21 pages

Résumé des informations

Titre
Thomas Manns "Der Tod in Venedig" - Die Verführung Aschenbachs durch Dionysos
Université
Friedrich-Alexander University Erlangen-Nuremberg  (Institut für Germanistik)
Cours
Hauptseminar: Thomas Manns Erzählungen
Note
2,0
Auteur
Année
2002
Pages
21
N° de catalogue
V57261
ISBN (ebook)
9783638517638
ISBN (Livre)
9783656781509
Taille d'un fichier
515 KB
Langue
allemand
Mots clés
Thomas, Manns, Venedig, Verführung, Aschenbachs, Dionysos, Hauptseminar, Thomas, Manns, Erzählungen
Citation du texte
Markus Lukas (Auteur), 2002, Thomas Manns "Der Tod in Venedig" - Die Verführung Aschenbachs durch Dionysos, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57261

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