William Labov und Joshua Waltzky gelten als die Pioniere der linguistischen Erzähltheorie, da sie mit ihrem 1967 erschienenen Werk „Narrative Analysis: Oral Versions of Personal Experience“ die zuvor nur von der Literaturwissenschaft betriebene systematische Analyse von Erzählungen auch in die empirische Sprachwissenschaft eingeführt haben. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, die Theorie Labovs und Waletzkys vor dem Hintergrund der Erkenntnisse neuerer Erzähltheorien kritisch zu untersuchen. Bei der Analyse, die sich am Aufbau der Arbeit Labovs und Waletzkys orientiert, wird zunächst das hier herrschende Missverhältnis zwischen dem universalen Anspruch und der stark kontextbezogenen Wahl des Untersuchungsgegenstands deutlich gemacht. Als weiteres Problem erscheint die allzu künstliche Art der Datenerhebung, die auf gezielt herbeigeführten Interviewsituationen beruht. Bei der formalen Analyse von Erzählungen sind die kaum begründete und willkürlich erscheinende Wahl von Teilsätzen als narrativer Grundeinheit sowie der bisweilen fragwürdige Gebrauch von ‚Verschiebeproben’ bei der Bestimmung unterschiedlicher Teilsatztypen zu bemängeln. Hinsichtlich der funktionalen Analyse ist kritisch anzumerken, dass die von Labov und Waletzky präsentierte ‚Normalform’ einer mündlichen Erzählung lediglich als normative Idealform einer wohlgeformten Erzählung, nicht aber als realitätsnahes, deskriptives Modell anzusehen ist. Zudem stellt die zu geringe Beachtung des interaktiven Charakters mündlicher Narrationen einen wichtigen Kritikpunkt dar. Trotz aller Kritik ist diese Pionierarbeit, die spätere Weiterentwicklungen durch Autoren wie Sacks oder Kallmeyer/Schütze erst möglich machte, als überaus wertvoller Beitrag zur modernen Linguistik anzusehen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Konzeption der Arbeit von Labov und Waletzky
- Grundgedanken der Arbeit
- Das Datenmaterial
- Die formale Analyse
- Die funktionale Analyse
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit von Labov und Waletzky befasst sich mit der Analyse mündlicher Erzählungen und zielt darauf ab, ein analytisches System für die Untersuchung dieser Erzählform zu entwickeln. Sie wollen zeigen, dass sich alltägliche, mündliche Erzählungen systematisch untersuchen lassen, ohne auf Schema und Typologien zurückgreifen zu müssen, die für literarische Werke entwickelt wurden.
- Abgrenzung von der traditionellen Erzählforschung
- Analyse von „originalen Produktionen“ mündlicher Erzählungen
- Entwicklung eines analytischen Systems für mündliche Versionen persönlicher Erfahrung
- Untersuchung der formalen und funktionalen Struktur von Erzählungen
- Beziehung zwischen formalen Eigenschaften und narrativen Funktionen
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung stellt die Arbeit von Labov und Waletzky vor und argumentiert, dass die von ihnen vorgeschlagene Erzähltheorie einen neuen Zugang zum Begriff der „Erzählung“ eröffnet. Die Arbeit soll die Untersuchung von Labov und Waletzky kritisch vorstellen und zu einer Gesamtbeurteilung gelangen. Die zentrale Frage ist, ob die Theorie dem Charakter mündlicher Versionen persönlicher Erfahrung gerecht wird.
Die Konzeption der Arbeit von Labov und Waletzky
Grundgedanken der Arbeit
Labov und Waletzky grenzen sich von der herkömmlichen Erzählforschung ab, die sich auf komplexe literarische Erzählungen konzentriert. Sie argumentieren, dass die Analyse von alltäglichen, mündlichen Erzählungen die Basis für eine umfassende Erzähltheorie bilden muss. Die Autoren verfolgen das Ziel, durch die Analyse von aufgezeichneten mündlichen Erzählungen ein analytisches System für die Untersuchung mündlicher Versionen persönlicher Erfahrung zu entwickeln.
Das Datenmaterial
Das Datenmaterial der Arbeit besteht aus aufgezeichneten mündlichen Erzählungen ungeschulter Sprecher. Labov und Waletzky streben eine empirische Analyse dieser Erzählungen an, um ein allgemeingültiges System für die Analyse von mündlichen Erzählungen zu entwickeln.
Schlüsselwörter
Die Arbeit von Labov und Waletzky beschäftigt sich mit zentralen Themen der Sprachwissenschaft wie der Analyse von Erzählstrukturen, der Unterscheidung zwischen mündlichen und schriftlichen Erzählungen, der Untersuchung von Alltagskommunikation und der Entwicklung von empirischen Methoden für die Analyse sprachlicher Phänomene.
- Quote paper
- Torsten Halling (Author), 2003, Die Erzähltheorie von William Labov und Joshua Waletzky, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57289