Georg Trakls "Verfall" - Eine Interpretation


Term Paper (Advanced seminar), 2006

34 Pages, Grade: 1,3


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil: Interpretation „Verfall
2.1 Formale Analyse
2.2 Inhaltliche Analyse
2.2.1 Erstes Quartett
2.2.2 Zweites Quartett
2.2.3 Erstes Terzett
2.2.4 Zweites Terzett

3. Schlussbetrachtung

4. Bibliographie

5. Anhang

1. Einleitung

Georg Trakl, einer der berühmtesten Dichter der Moderne, schrieb schon in jungen Jahren zahlreiche Gedichte, die die Leser nachhaltig beeindruckten. Eines seiner bekanntesten Gedichte entstand im Jahre 1913 und trägt den Titel „Verfall“.

Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit diesem Gedicht; neben Aufbau, Analyse und Interpretation soll dargestellt werden, wie Trakl eben jenen „Verfall“ empfindet und welche Entwicklung dieser im Laufe des Gedichts nimmt.

Am Anfang der Arbeit steht die Untersuchung der formalen Merkmale: Hier soll deutlich werden, welcher Gedichtform sich Trakl bedient und welche Auswirkungen diese auf sein Werk hat. Bevor jedoch die einzelnen Strophen einer detaillierten Interpretation unterzogen werden, empfiehlt sich eine knappe inhaltliche Zusammenfassung, die einerseits einen leichteren Zugang zum Gedicht schaffen und andererseits in die eigentliche Interpretation einführen soll. Darüber hinaus schließt sich an die Interpretation beider Quartette und Terzette jeweils eine kurze Rückschau auf die wichtigsten Aspekte an. Am Ende der Arbeit werde ich schließlich auf die wichtigsten Eigenschaften, die inhaltlichen und stilistischen Besonderheiten, des Gedichts zu sprechen kommen.

2. Hauptteil: Interpretation „Verfall“

2.1 Formale Analyse

Georg Trakl hat sich in seinem Gedicht „Verfall“ der Gattungsform des Sonetts bedient. Das Sonett hatte seinen Ursprung im 17. Jahrhundert in Sizilien und bedeutet übersetzt „Melodie mit Text“. Demnach ist das Sonett ein „Klanggedicht“[1], das normalerweise aus zwei Quartetten und zwei Terzetten besteht. Diese beiden Quartette und Terzette stehen in Opposition zueinander und sorgen im Gedicht für eine Art Spannung, die in eine Entspannung übergeht. Dabei ist es irrelevant, welche der beiden Teile – Spannung oder Entspannung – zu Beginn des Sonetts anzutreffen ist. Der Übergang der Quartette zu den Terzetten stellt im Sonett nicht nur formale Veränderung dar. Während gegen Ende des zweiten Quartettes für gewöhnlich eine Wiederholung des bereits Gesagten zu finden ist und die Stimmung erhalten bleibt, schlägt sie zu Beginn des ersten Terzetts um und eine Art Wende bahnt sich an.

Bei Trakls Gedicht „Verfall“ sind diese Merkmale des Sonetts ebenfalls anzutreffen: während die ersten beiden Quartette wohl dazu dienen, die Spannung langsam zu steigern, wobei die Stimmung düsterer wird, geschieht zu Beginn der Terzette sofort ein Wechsel zu etwas Neuem; es heißt „Da macht ein Hauch mich...[2]. Demnach ist es nicht nur der Wechsel von Quartetten in Terzette, sondern auch das plötzliche und unerwartete „Da“ (Z. 9), das das Sonett nicht nur formal, sondern auch inhaltlich in zwei Teile gliedert. Auf diesen Aspekt wird jedoch im weiteren Verlauf der Arbeit noch ausführlicher eingegangen.

Was das Reimschema des Gedichts betrifft, so handelt es sich ausschließlich um umarmende Reime mit folgendem Reimschema: abba cddc efe fef. Teilweise gibt es bei der Reimung allerdings auch ein paar Unklarheiten. So reimt sich unter anderem das Verb „läuten“ (Z. 1) nicht auf das Substantiv „Weiten“ (Z. 4); es deutet durch die beiden Klänge „äu“ und „ei“ zwar einen Gleichklang an, jedoch handelt es sich dabei um einen sogenannten `unreinen´ Reim. Dasselbe gilt für die Substantive „Garten“ (Z. 5) und „Fahrten“ (Z. 8). Da Letzteres den Konsonanten `h´ aufweist, wird der Teil, der sich auf das Substantiv „Garten“ (Z. 5) eigentlich reimen sollte, gedehnt. Auch bei dem Substantiv „Geschicken“ (Z. 6) und dem Verb „rücken“ (Z. 7) kann nicht von einem reinen Reim die Rede sein, da sich die beiden Vokale in keiner Weise klanglich ähnlich sind. Trotz dieser „Ungereimtheiten“ in Trakls Sonett dürfte es nicht von derartiger Wichtigkeit sein, den einzelnen unreinen Reimen eine zu große Gewichtung zukommen zu lassen, da sie auf den Inhalt des Sonetts keinen weiteren Einfluss nehmen. Statt dessen sei nun mehr auf die vorhandene „reine“ Endreimung hingewiesen, durch welche das Sonett den inhaltlichen Bezug der einzelnen Strophen zueinander verstärkt. Auch auf dieses Phänomen wird im weiteren Fortgang der Interpretation noch näher eingegangen.

Was das Versmaß angeht, so handelt es sich bei Trakls Sonett um einen fünfhebigen Jambus. Fraglich ist allerdings, ob es sich auch bei Zeile 2 um einen Jambus handelt; es könnte auch ein Trochäus sein, je nachdem auf welchen Teil – „Folg“ (Z. 2) oder „ich“ (Z. 2) - man den Akzent setzen möchte. Ich halte es allerdings für logischer, den Akzent auf „ich“ (Z. 2) zu legen, da damit der Bezug zu den „Vögel[n]“ (Z. 2) verstärkt dargestellt wird. Auffallend ist ebenfalls, dass es selbst unter den Hebungen, wie zum Beispiel, „Abend“ (Z. 1), „Glocken“ (Z. 1), „Frieden“ (Z. 1), „Vögel“ (Z. 2), „Flügen“ (Z. 2) usw. Unterschiede gibt. So haben manche Hebungen einen stärkeren Akzent als andere. Durch diese Neben- und Hauptakzente werden einzelne Wörter noch stärker hervorgehoben. So ist es zum Beispiel gleich in Zeile 1 der Fall, dass „Abend“ (Z. 1) und „Frieden“ (Z. 1) stärker hervortreten als „wenn“ (Z. 1) und „Glocken“ (Z. 1); obgleich auch auf den letzten beiden ein Akzent liegt, so handelt es sich dabei doch nur um einen Nebenakzent. Die Hauptakzente liegen auf den beiden anderen Substantiven „Abend“ (Z. 1) und „Frieden“ (Z. 1). Dadurch soll wohl ausgedrückt werden, dass diese beiden Substantive in einer Beziehung zueinander stehen, was wiederum impliziert, dass der „Abend“ (Z. 1) etwas mit „Frieden“ (Z. 1) zu tun hat, demnach also friedlich ist. Was durch diese Hauptakzente ebenfalls deutlich wird, ist, dass bei derartigen Hervorhebungen, wie es in dieser ersten Strophe der Fall ist, immer auch die Gegensätze als eine Art Echo unterschwellig assoziiert werden. So erinnert „Abend“ (Z. 1) automatisch an Morgen und der „Frieden“ (Z. 1) an Krieg.

Der Rhythmus dieses Sonetts soll wohl eher ein langsamer sein, vielleicht dem eines Blues gleichend. Dies liegt einerseits an der Häufigkeit der Vokale ´a´, der Umlaute ´ü´ und ´ö´ und des Diphthongs ´ie´, die allesamt deutlich länger gesprochen werden als beispielsweise der Vokal ´e´ und die Diphthonge ´ei´ und ´au´.

Betrachtet man die Syntax, so stellt man fest, dass die Satzanzahl zunimmt: während die erste Strophe lediglich aus einem Satz besteht, enthält die zweite Strophe bereits zwei Sätze. Die dritte Strophe weist zwar ebenfalls zwei Hauptsätze auf, jedoch enthält sie noch einen weiteren Satzteil, der mit in die letzte Strophe übernommen wird, welche wiederum aus nur einem Satzgefüge besteht. Betrachtet man das eben Geschriebene für sich, so fällt auf, dass auch die Syntax im Gedicht ein einheitliches Bild liefert: die erste Strophe ist hypotaktisch, die zweite und dritte sind parataktisch und die letzte Strophe besteht erneut aus einem hypotaktischen Gefüge. Es scheint, als würde die erste und letzte Strophe durch dieses hypotaktische Gefüge eine Art Klammer um das Gedicht bilden, es sogar abrunden. Auffällig ist aber auf jeden Fall die Tatsache, dass die einheitliche Hypotaxe zu Beginn des Gedichts in eine einheitliche Nebenordnung übergeht. Diese Art des Sprechens verfällt daraufhin in eine Parataxe; es handelt sich demnach auch um eine Auflösungserscheinung, bzw. um eine Art Verfall, in der Syntax des Gedichtes, welche gegen Ende jedoch überwunden wird, da dort erneut eine Hypotaxe zu finden ist. Diese Überwindung der Auflösung ist abhängig von dem Bindungswort „Indes“ (Z. 12). Daher handelt es sich offensichtlich lediglich um Auflösungstendenzen in der Syntax des Gedichts.

Des Weiteren fällt in drei Zeilen der sogenannte Zeilenstil auf, das heißt, der Satz ist am Versende ebenfalls zu Ende. Bei diesen drei Zeilen handelt es sich um die Zeilen 8 bis 10; auch sie sind zentrale Stellen im Gedicht, was durch die nun folgende inhaltliche Analyse deutlich werden soll.

2.2 Inhaltliche Analyse

Vergleicht man die formalen Eigenschaften des Gedichts mit seinem Titel, wird sofort deutlich, dass es ganz offensichtlich einen Kontrast zwischen Form und Inhalt gibt: Die Form des Gedichts ist harmonisch, sehr durchdacht und in sich stimmig und steht daher im Gegensatz zum Thema des Gedichts„Verfall“. Was den Titel selbst betrifft, so fällt sofort auf, dass ein solcher existent ist. Dies ist nicht immer der Fall, zieht man andere Gedichte, zum Beispiel aus der mittelhochdeutschen Lyrik oder auch einige von Celan heran. Der Titel eines Gedichts benennt gewöhnlich etwas Anfängliches und steht normalerweise in einem engen Verhältnis zu dem, was im Gedicht selbst beschrieben wird. In Trakls Gedicht scheint es daher um den Verfall von etwas zu gehen. Eine Klärung des Substantivs „Verfall“ wäre an dieser Stelle hilfreich. Nach dem Wörterbuch der deutschen Sprache meint Verfall „das allmähliche Zugrundegehen, Zusammen-, Zerfallen“ (Wörterbuch der deutschen Sprache[3] ) von etwas, das entweder baufällig geworden ist, an „körperliche[r], geistige[r] Kraft und Frische“ (ebd.) verloren hat, der „Verlust an Macht [und] Stärke“ (ebd.), einen „Zeitabschnitt der Auflösung“ (ebd.) oder schließlich „das Ungültig- [oder] Wertloswerden“ (ebd.) von etwas. Darüber hinaus beschreibt Verfall einen Prozess von etwas Bestehendem, das in sich oder in etwas anderes verfällt. Es handelt sich also um einen Übergang von einer Einheit zu einer Vielheit. Wenn sich etwas auflöst, dann löst sich auch dessen Zusammenhang, Struktur oder innere Konsistenz auf und übrig bleiben viele Einzelteile. Darüber hinaus ist das Substantiv „Verfall“ eher passiver Art (vgl. Preisendanz: 1966, 238); es handelt sich nicht um eine äußere Gewalt, die die Dinge voneinander trennt und aufbricht, also aktiver Art ist, sondern eher um eine Art Materialmüdigkeit, die von selbst eintritt. Es hat ebenfalls eine ambivalente Erscheinung: denkt man an den Ausdruck `jemandem verfallen sein´, wird deutlich, dass „Verfall“ nicht nur ein Auflösen von etwas darstellen kann, sondern auch menschliche Züge innehat; so kann nur ein Mensch etwas anderem `verfallen´ sein, sei es dem Alkohol, einem Gedanken oder einem anderen Menschen.

Fraglich bleibt jedoch nach wie vor, was vom „Verfall“ betroffen ist. Handelt es sich gar um den „Verfall“ des Gedichts selbst? Durch die Interpretation der nun folgenden beiden Quartette und Terzette soll dies deutlich werden.

2.2.1 Erstes Quartett

Gleich zu Beginn des ersten Quartetts fällt die Hervorhebung des Substantivs „Abend“ (Z. 1) durch seine exponierte Stellung auf. Mit diesem Substantiv wird gleich die Zeit beschrieben, in der die Handlung bzw. das Geschehen des Sonetts stattfindet. „Abend“ (Z. 1) meint in erster Linie das kommende Ende des Tages. Es handelt sich also um eine ganz bestimmte Tageszeit im Gedicht, nämlich einer, die genau zwischen Mittag und Nacht liegt. So gesehen ist es eine Übergangszeit, in der die Dämmerung langsam eintritt und das Licht „entschwinde[t]“ (Z. 4). An dieser Stelle lässt sich durch Heranziehen des Verbs „entschwinden“ (Z. 4) bereits eine formale Gleichstellung der beiden Wörter erkennen. Metaphorisch betrachtet, lässt es den Lebensabend, Herbst oder Winter anklingen. Generell ist „Abend“ (Z. 1) etwas, das gleichzeitig auch mit Niedergang zu tun hat; der Tag geht nieder und der „Abend“ (Z. 1) bricht herein und kündigt die Nacht an.

Auffallend ist ebenfalls der Gebrauch der Präposition „am“ (Z. 1). Durch deren Einsatz wird der „Abend“ zu einem ganz bestimmten „Abend“; demnach handelt es sich bei dem, was in den zukünftigen Zeilen des Gedichts geschehen wird, nicht um etwas, das oft oder regelmäßig abends stattfindet, sondern um etwas, das nur an diesem „Abend“ zu passieren scheint. Dieser Eindruck wird durch die Konjunktion „wenn“ (Z. 1) geradezu verstärkt und sogar weitergeführt. So wird die Zeit, in der etwas passieren soll – wie eben beschrieben – noch klarer bestimmt und es wird deutlich, dass das, was geschehen wird, nicht nur „Am Abend“ (Z. 1) geschieht, sondern auch nur dann, „wenn“ (Z. 1) etwas anderes ebenfalls anzutreffen ist. Dieses `andere´ wird im Fortgang der Zeile genannt, nämlich „wenn die Glocken Frieden läuten“ (Z. 1). Offensichtlich handelt es sich um eine temporale Beziehung, die zwischen dem „Abend“ (Z. 1) und dem Läuten der „Glocken“ (Z. 1) besteht.

Das Läuten der „Glocken“ (Z. 1) stellt gleichzeitig aber auch einen religiösen Bezug her, erinnert das abendliche Läuten doch an das sogenannte Angelus-[4] oder Ave Maria-Läuten im Katholizismus. Dieses Läuten hatte seinen Ursprung im Jahre 1326, als Johannes XXII. Beschloss, dass das Ave Maria drei Mal am Tag gebetet werden sollte. Damit jeder Bürger sich daran halten und es nicht vergessen würde, sollte dies durch das Läuten der Glocken ins Gedächtnis gerufen werden. Demnach ruft das Abendläuten dazu auf, das „Ave Maria“ zu beten. Bei diesem christlichen Motiv handelt es sich jedoch nur um eine mögliche Bedeutung, auch wenn dieses im weiteren Verlauf des Gedichts immer wieder aufgenommen wird.

Das Substantiv „Glocken“ (Z. 1) steht im Plural; es handelt sich also nicht nur um eine Glocke, sondern um mehrere. Über das Substantiv selbst heißt es im Wörterbuch der deutschen Sprache: es ist ein „Gegenstand aus Metall in der Form eines umgekehrten Bechers mit einem Klöppel zum Läuten“ (WddS). Die Glocke hängt für gewöhnlich in einem „Turm“ (ebd.), womöglich ein Kirchturm, sie „schlägt an, schlägt 12 Uhr, schwingt, klingt, tönt, hallt“ (ebd.). Darüber hinaus wird sie von jemandem „geläutet“ (ebd.). Das Wörterbuch gibt einen weiteren Aspekt: „die Glocke läutet Sturm“ (ebd.). Dies kann einerseits bedeuten, dass sie so sehr läutet, dass man den Eindruck erhält, dass sie nicht mehr damit aufhören wird, andererseits kann sie aber auch dafür stehen, dass sie etwas ankündigt - einen Sturm oder Ähnliches.

Was die „Glocken“ (Z. 1) im Gedicht selbst angehen, so sei zu fragen, was diese denn „läuten“ (Z. 1) und ob sie denn überhaupt etwas „läuten“ (Z. 1). Erneut kann man einen Bezug zum Christentum herstellen, denn dann würden die „Glocken“ (Z. 1) in der Tat „Frieden läuten“ (Z. 1). Sie könnten aber auch andere Funktionen haben: denkt man an den Krieg, so hatten die Glocken doch eine eher warnende Funktion und dienten als Alarm für eine Bedrohung. Aufgrund dieser Möglichkeit – „Glocken“ (Z. 1) als Signal des Kriegs – wird erneut der „Frieden“ (Z. 1) exponiert. Das Wörterbuch der deutschen Sprache versteht unter Frieden einen „völlig ungestörte[n]m harmonische[n] Zustand [...], eine Eintracht [...und...] heitere Ruhe“ (WddS). Des Weiteren spricht es einen religiösen Aspekt an und erwähnt den Segenspruch „Friede sei mit euch!“ (ebd.) und den Grabspruch „in Frieden sterben“ (ebd.) bzw. „in den ewigen Frieden eingehen“ (ebd.). „Frieden“ (Z. 1) könnte demnach als eine Art Synonym zu Tod interpretiert werden; auch spricht man sehr häufig vom ewigen Frieden, den man nur im Tod finden kann. Sehr wahrscheinlich ist aber der Aspekt, dass es sich bei diesem Läuten um eine Art Ruhe handelt, eine Art Übergang vom Unruhigen zum Stillen. Dies erinnert an Hölderlins Hymne „Der Rhein“, in welcher er folgendes beschreibt: „Und ausgeglichen / Ist eine Weile das Schicksal. / [...] Bevor das freundliche Licht / Hinuntergeht und die Nacht kommt“.[5] Demnach könnte das Läuten eine temporär gewährte Friedenszeit darstellen, eine vorübergehende Zeit („am Abend“, Z. 1), in der ein harmonischer Zustand („Glocken Frieden läuten“, Z. 1) wahrnehmbar ist – und zwar nur dieser wahrnehmbar ist und nichts anderes sonst.

Was den Zustand des Krieges, bzw. der Friedlosigkeit angeht, sei noch anzumerken, dass das Substantiv „Abend“ (Z. 1) auch starke klangliche Parallelen zum Substantiv „Frieden“ (Z. 1) aufweist. Aufgrund dieser Parallelen erhalten beide ein nachklingendes Echo des Gegenteils, so dass ebenfalls die Worte `Morgen´ und `Krieg´ in die Erinnerungen des Lesers gerufen werden, setzt dieser sich näher mit den beiden Substantiven auseinander.

Die folgende Zeile 2 führt die eben besprochene Zeile fort; da diese beiden Zeilen lediglich durch ein Komma voneinander getrennt sind, lässt dies bereits erahnen, dass die beiden Zeilen inhaltlich miteinander verbunden sind. Das müssen sie auch, denn Zeile 1 könnte alleine nicht stehen bleiben, schließlich muss noch beschrieben werden, was „Am Abend“ (Z. 1) denn nun tatsächlich passiert; der Relativsatz „wenn die Glocken Frieden läuten“ (Z. 1) kann dieses Bedürfnis nicht erfüllen und auch nicht als solcher alleine stehen, handelt es sich dabei doch lediglich um eine temporale Beziehung zwischen „Abend“ (Z. 1) und dem Läuten der „Glocken“ (Z. 1). Gleich das erste Wort, das Verb „Folg“ (Z. 2), gibt Aufschluss auf das, was „Am Abend“ (Z. 1) geschieht. Das lyrische Ich folgt mit seinem Blick den „Vögel[n]“ (Z. 2) und ihren „wundervollen Flügen“ (Z. 2). Dennoch ist das lyrische Ich durch die Abfolge „Folg ich“ (Z. 2) nicht direkt genannt, das heißt, es ist zwar offensichtlich, dass es sich bei dem lyrischen Ich auch um den Sprecher des Gedichts handelt, jedoch geht nicht klar hervor, um wen es sich dabei tatsächlich handelt. Eines sei jedoch auszuschließen: es ist sehr unwahrscheinlich, dass es sich um eine größere Gruppe handelt. Vielmehr ist durch das Pronomen „ich“ (Z. 2) eine Pluralität von mehreren Personen ausgeschlossen. Allerdings darf das lyrische Ich an dieser Stelle auf keinen Fall mit dem Autor verwechselt werden, der das Gedicht geschrieben hat, denn es besteht ein starker Unterschied zwischen ihm und dem sogenannten `sprechenden Ich´. Der Sprecher des Gedichts ist derjenige, der das, wovon das Gedicht handelt, gegenwärtig beschreibt; dieser Sprecher steht im Gegensatz zum „ich“ (Z. 2) im Gedicht, welches das Gesprochene erlebt hat und im Gedicht von sich selbst, seinen Gefühlen und Handlungen spricht. Das heißt, das „ich“ (Z. 2) ist dasjenige, welches im Gedicht „Am Abend“ (Z. 1) den „Flügen“ (Z. 2) der „Vögel“ (Z. 2) hinterherblickt.

Einen Grund dafür, warum das „ich“ (Z. 2) den „Flügen“ (Z. 2) folgt, gibt es nicht an. Es bleibt höchstens zu vermuten, dass das lyrische Ich einer Art Freiheit folgt, einer Idylle, die bereits in der Zeile zuvor angedeutet wurde. Es scheint, als wolle es gerne woanders sein, möglicherweise weil die läutenden „Glocken“ (Z. 1) tatsächlich nur etwas Vorübergehendes an sich haben und nicht von Dauer sind.

Was die „Vögel“ (Z. 2) und ihre „Flüge“ (Z. 2) angeht, so gibt es mehrere Deutungsmöglichkeiten: einerseits deuten die Flüge auf Lebewesen in der Luft hin, auf die „Vögel“ (Z. 2). Diese befinden sich zwischen Himmel und Erde. Andererseits könnten sie aber auch erneut ein Hinweis auf die religiöse Konnotation sein, denkt man an Engel, die ebenfalls Flügel haben. Darüber hinaus haben die „Vögel“ (Z. 2) auch etwas Mystisches an sich. So ist Lachmann zum Beispiel der Meinung, dass „Trakls Vögel dem Geheimnis“ (Lachmann: 1954, 68) zufliegen und „als Einzelgeschöpf [...] Boten aus dem geheimen Bereich“ (ebd.) sind.

[...]


[1] http://www.kszofingen.educanet2.ch/d03c/.ws_gen/?6

[2] Trakl: 1987, 59 - Z. 9 (im Folgenden werde ich im Anschluss an Zitate lediglich die jeweiligen Zeilen des Gedichts in Klammern angeben; ich berufe mich dabei ausschließlich auf diese Version (nähere Informationen dazu befinden sich in der Bibliographie unter Punkt 4. Eine Kopie des Gedichts mit Zeilenangaben, die für diese Arbeit benutzt wurden, befindet sich unter Punkt 5 im Anhang).

[3] Aufgrund der Länge des Titels `Wörterbuch der deutschen Sprache´ wird im Folgenden nur noch `WddS´ die Rede sein.

[4] vgl. Matthias Braun: Kirchenläuten

[5] http://gutenberg.spiegel.de/hoelderl/gedichte/rhein1.htm

Excerpt out of 34 pages

Details

Title
Georg Trakls "Verfall" - Eine Interpretation
College
University of Heidelberg
Grade
1,3
Author
Year
2006
Pages
34
Catalog Number
V57936
ISBN (eBook)
9783638617994
ISBN (Book)
9783638665629
File size
595 KB
Language
German
Notes
Eingehende Analyse und Interpretation!
Keywords
Georg, Trakls, Verfall, Eine, Interpretation, Analyse
Quote paper
Manuela Kistner (Author), 2006, Georg Trakls "Verfall" - Eine Interpretation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/57936

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