Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kurzer biographischer Abriss zu Leben und Werk Harnacks
2.1 Kindheit und Jugend
2.2 Theologischer und beruflicher Werdegang
2.3 Adolf von Harnack als Wissenschaftsorganisator in Preußen
2.4 Politisches Engagement unter Kaiser Wilhelm II
2.5 Theologisches Werk und Vermächtnis
3. Das dreibändige „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ (1886-1890)
4. „Das Wesen des Christentums“ (1900) als epochales Werk
5. Die Harnack-Forschung im 20. Jahrhundert
6. Adolf von Harnacks Bedeutung für die theologische Wissenschaft
6.1 Neues Testament
6.2 Kirchen- und Theologiegeschichte
6.3 Systematische Theologie
7. Claus Dieter-Osthövener: Adolf von Harnack als Systematiker (2002)
8. Resümee: Adolf von Harnack – ein Systematiker?
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Karl Gustav Adolf Harnack, ab 1914 von Harnack (* 7. Mai 1851 in Dorpat; † 10. Juni 1930 in Heidelberg) gilt als einer der bedeutendsten Dogmenhistoriker auf der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert und als einer der einflussreichsten protestantischen Theologen seiner Zeit. Zudem hatte er bedeutenden Einfluss auf das wissenschaftliche und kulturelle Leben in Preußen und fungierte als Wissenschaftsorganisator unter Kaiser Wilhelm II. Er leistete auch außerordentliche Beiträge zur theologischen Wissenschaft. Zu nennen seien hier beispielsweise sein dreibändiges Lehrbuch der Dogmengeschichte (Freiburg 1886-1890; s. Kap. 3) oder auch „Das Wesen des Christentums“ (1. Auflage Leipzig 1900; s. Kap. 4), welches im deutschsprachigen Raum schnell zum wohl populärsten theologischen Werk der Jahrhundertwende avancierte und bis dato in zahlreichen Neuauflagen erschienen ist. Oftmals überließ man innerhalb der protestantischen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts die Erforschung des theologischen Wirkens Adolf von Harnacks der Kirchengeschichte. Zahlreiche bedeutende Kirchenhistoriker wie beispielsweise Kurt Nowak, Wolfram Kinzig oder Kurt-Victor Selge haben sich in der jüngeren Vergangenheit bereits mit dem Werk Harnacks befasst, wohingegen dieses seitens der Systematischen Theologie bisweilen nur zu gewissen Teilen eingehend untersucht wurde (so u. a. von Gunther Wenz, Trutz Rendtorff und in jüngster Zeit von Claus-Dieter Osthövener). Dieser hielt am 7. Mai 2001, dem 150. Geburtstag Adolf von Harnacks, eine Antrittsvorlesung an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg mit dem Titel „Adolf von Harnack als Systematiker“, die er ein Jahr später in redigierter Fassung als Aufsatz in der ZThK publizierte.1 Ausgehend von diesem Aufsatz und auf der Basis seines wohl bedeutendsten systematischen Werkes, „Das Wesen des Christentums“ (1900), möchte ich im Rahmen dieser Hauptseminararbeit im Fach Systematik die Bedeutung von Harnacks Wirken für die Systematische Theologie herausstellen und damit einen Beitrag zur systematisch-theologischen Erforschung des theologischen Werkes Harnacks leisten. In einem abschließenden Resümee möchte ich dann schließlich die kritische Frage klären, ob Adolf von Harnack nicht heutzutage vielmehr auch als Systematiker in den Blick genommen werden müsste als nur in seiner oft wahrgenommenen Funktion als Dogmenhistoriker und Patristiker. Die außerordentlich guten Gedanken von Claus-Dieter Osthövener möchte ich dabei fortführen und in dieser Arbeit systematisch-theologische Erwägungen anstellen, die zu einer interdisziplinären Erforschung des Harnackschen Werkes von Kirchenhistorikern und Systematikern und zu einer Neuauflage der Harnack-Forschung im 21. Jahrhundert anregen wollen.
2. Kurzer biographischer Abriss zu Leben und Werk Harnacks
2.1 Kindheit und Jugend
Karl Gustav Adolf Harnack wurde am 7. Mai 1851 als Sohn des deutsch-baltischen Luther-Forschers Theodosius Harnack (* 3. Januar 1817 in Sankt Petersburg; † 23. September 1889 in Dorpat) und der Marie Harnack, geb. Ewers (* 22. Mai 1928; † 23. November 1857) in Dorpat, Estland geboren.2 Er hatte insgesamt drei Brüder, von denen sein Zwillingsbruder Axel ein renommierter Mathematiker, der jüngere Bruder Erich Pharmakologe und sein jüngster Bruder Otto ein angesehener Literaturwissenschaftler wurde.
Trutz Rendtorff (1999) schreibt in seiner Einleitung zu „Das Wesen des Christentums“, dass Harnacks „Elternhaus von pietistischer Frömmigkeit geprägt“ war.3 Die Theologie seines Vaters soll so z. B. insbesondere „durch seine Arbeiten zum Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche und zur Theologie Luthers“ gekennzeichnet gewesen sein.4
Ein großer Einschnitt in das Leben des jungen Harnacks war der frühe Tod seiner Mutter Marie Harnack 1857, „die durch ihren Vater Karl Gustav Ewers (s. TRE 9, 160,43f; à Dorpat) mit führenden baltischen Familien verbunden war.“5
Über seinen Vater Theodosius schreibt Kantzenbach (1985) weiter:
Seinen Kindern wurde der Witwer Theodosius Harnack ein vorbildlicher Erzieher. Durch aktive Mitarbeit in der livländischen Kirche hatte er sich schon in Dorpat vom herrnhuterischen Pietismus abgewandt und zum bewußt (sic!) kirchlichen Lutheraner entwickelt (à Neuluthertum). Für ihn duldete ernstgenommenes Christentum keine halben Entscheidungen. Eine autonome Wissenschaft kam darum für ihn nicht in Frage. In diesem Sinne spielte die Kirche, nicht als vordergründiges Kirchentum begriffen, in Theodosius Harnacks Denken und wissenschaftlicher Arbeit die zentrale Rolle. Dies bewirkte sich auch für die Erziehungsgrundsätze aus, in denen der Vater mit seiner zweiten Frau völlig übereinstimmte. Er besuchte das örtliche Gymnasium in Dorpat und legte dort 1868 das Abitur ab., womit der Weg zum Theologiestudium geebnet war. Seit 1864 gab es für die Kinder wieder ein wirkliches Elternhaus.6
Adolf Harnack besuchte das örtliche Gymnasium in seiner Heimatstadt Dorpat, wo er schließlich 1868 das Abitur ablegte, womit der Weg für sein anschließendes Studium der Evangelischen Theologie in Dorpat und Leipzig geebnet war.
2.2 Theologischer und beruflicher Werdegang
Ein Jahr nach seinem Abitur nahm Harnack 1869 das Theologiestudium an der Universität Dorpat auf, wo er der Corporation Livonia beitrat. Dieser traten auch seine drei Brüder Axel, Erich und Otto bei. Später wurde er in Berlin Ehrenphilister der christlichen, nichtschlagenden Studentenverbindung Wingolf.7 Nach Friedrich Wilhelm Kantzenbach (1985)
gewann [er dort] in dem Kirchenhistoriker und Justinforscher Moritz von Engelhardt (s. TRE 9, 161,12ff) den entscheidenden Lehrer, der ihm die historisch-kritische Methode nahebrachte und damit sein wissenschaftliches Interesse weckte, daß [sic!] mehr und mehr mit dem kirchlichen Positivismus in Spannungen geraten musste, dem sein eigener Vater huldigte.8
Im Herbst 1872 wechselte er schließlich an die Universität Leipzig, da er als fest überzeugter Lutheraner dort seine theologische Heimat zu finden dachte. Er interessierte sich dabei jedoch nicht für „eine Fülle fertiggemachter Glaubenssätze, sondern jeden einzelnen Satz im Gewebe der Lehren und Dogmen“ eigenständig prüfen und selbstständig reflektieren zu können. Schnell wurde aber ersichtlich, dass die Leipziger Professoren Christoph Ernst Luthardt und Karl F. A. Kahnis seine Erwartungen nicht zu befriedigen vermochten.9
Vielmehr schloss er sich in dieser Zeit mit seinem Freund Julius Kaftan und dem Alttestamentler Wolf Graf Baudissin zusammen und erstellte mit ihnen einen ersten Gründungsentwurf für die Theologische Literaturzeitung, deren erste Ausgabe im Jahr 1876 erscheinen sollte. Emil Schürer, der später einmal zum Mitgründer und langjährigen Hauptherausgeber avancieren sollte, war daran jedoch noch nicht beteiligt, da er von ihnen in keiner Weise als ein dem Positivismus anhängender Lutheraner angesehen wurde.10 Julius Kaftan, der wiederum von Kant und Ritschl beeinflusst war, wird Harnack in dieser Zeit „vor allem neue systematische Anstöße vermittelt haben“.11 Bereits ein Jahr nach seinem Wechsel nach Leipzig wurde Harnack 1873 mit einer Arbeit über die Probleme der Geschichte der Gnosis und ihrer Quellen promoviert, worüber er sich wiederum ein Jahr später habilitierte.12 Dort wurde er auch, im Alter von gerade einmal 23 Jahren, zum Privatdozenten ernannt; bereits zwei Jahre später zum a. o. Professor für Kirchengeschichte. In dieser Zeit fiel auch ein Ruf nach Breslau, den er nach Agnes von Zahn-Harnack aus „konfessioneller Bedenklichkeit“ ablehnte.13
Schnell machte er sich große Beliebtheit in Leipzig und es bildete sich ein „ein treuer Kreis von Freunden und Schülern um Harnack, darunter Martin Rade, Friedrich Loofs, Wilhelm Bornemann. Die Empfänglichkeit für Ritschl bedeutet jedoch keine Abhängigkeit, führt aber zur endgültigen Lösung von der traditionellen lutherischen Theologie.“14 Mit 28 Jahren nahm er 1879 schließlich einen Ruf nach Gießen an, wo er Ordinarius für Kirchengeschichte wurde. Die Universität Gießen erschien ihm dabei als konfessionell heikel, da sie für ihn als Dorpater nicht lutherisch genug war. In Gießen war er maßgeblich am Neuaufbau der Fakultät beteiligt und publizierte dort 1886 den ersten Band seines Lehrbuchs der Dogmengeschichte.15 Im gleichen Jahr wurde er nach Marburg in den preußischen Staatsdienst berufen, wo er jedoch nur zwei Jahre lang bleiben sollte. Nach dem Freiwerden des Lehrstuhls für Kirchengeschichte in Berlin erkundigte sich das preußische Kultusministerium bei den Marburger Professoren, wer für die Neubesetzung dessen infrage kommen würde. Letztlich wurde Harnack „von einer Mehrheit von vier Professoren an erster Stelle genannt; einer (Otto Pfleiderer) wollte ihn erst an dritter Stelle haben“.16 Das Ministerium erkundigte sich daraufhin beim Ev. Oberkirchenrat, „ob gegen Lehre und Bekenntnis Harnacks Bedenken bestünden.“
Kantzenbach (1985) schreibt hierzu:
So begann Harnacks Wirken in Berlin sogleich mit Unruhen und Spannungen. An mehreren Punkten nahmen Männer im Oberkirchenrat an Harnacks dogmengeschichtlichem Programm, das für den Primat der Geschichte plädierte, Anstoß.17
Letztlich wurde Harnack aber 1888 durch die Unterstützung von Kaiser Wilhelm II. an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen, wo er noch bis zu seiner Emeritierung 1924 wirken sollte. 1890 wurde er auf Gesuchen Kaiser Wilhelms II. Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, in deren Auftrag er 1900 noch eine dreibändige Geschichte von deren Entstehung bis heute schreiben sollte.18 Seit 1897 war er zudem in korrespondierender Funktion Mitglied in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Von 1905-1921 fungierte er als Generaldirektor der Königlichen Bibliothek, die ab 1918 in Preußische Staatsbibliothek umbenannt wurde. Am 23. Januar 1911 wurde er vom Senat der neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft) zu deren Präsidenten gewählt.
2.3 Adolf von Harnack als Wissenschaftsorganisator in Preußen
Mit der Wahl zum Präsidenten der gerade einmal 10 Tage zuvor gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften am 23. Januar 1911, an deren Gründung er maßgeblich beteiligt war, nahm Harnack fortan großen Einfluss auf das wissenschaftliche und kulturelle Leben in Preußen. Er sollte noch bis 1930 deren Präsident sein und hatte zeitgleich einen Sitz im Senat. Er stand dabei stets in der Gunst von Kaiser Wilhelm II., was man bereits 1905 an seiner Ernennung zum nebenamtlichen Generaldirektor der Königlichen Bibliothek erkennen konnte. Doch bereits in seiner Leipziger Zeit konnte er viele Kontakte zu bedeutenden Wissenschaftlern, wie Julius Kaftan, Emil Schürer, Wolf Graf von Baudissin oder Oscar von Gebhardt aufbauen und gründete 1874 an der Universität Leipzig eine Kirchenhistorische Gesellschaft. Dieser standen bedeutende Theologen wie Martin Rade, Caspar René Gregory, Wilhelm Bornemann, Friedrich Loofs oder William Wrede nahe. Mit Emil Schürer zusammen gründete er 1876 die Theologische Literaturzeitung und mit Oscar von Gebhardt 1882 die wissenschaftliche Reihe „Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur“; im Jahr 1886/87 dann die Zeitschrift „Christliche Welt“.
Als er 1890 in die Preußische Akademie der Wissenschaften eintrat, begann er gleich ein Jahr später zusammen mit Theodor Mommsen mit der Editierung einer kritischen Ausgabe der „Griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte“ ein wissenschaftliches Großprojekt. Harnack fungierte als Leiter einer Kirchenväterkommission, die interdisziplinär aus klassischen Philologen, Althistorikern und Patristikern bestand. In dieser Zeit verfasste Harnack seine „Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius“19 und stand in engem Kontakt zu Theodor Mommsen, mit dem er zeitlebens ein freundschaftliches Verhältnis pflegte.20 Um 1900 engagierte er sich zudem für die Frauenbewegung in Deutschland und unterstützte zusammen mit Wilhelm Dilthey, Minna Cauer und Hans Delbrück die 1893 von Helene Lange gegründete „Vereinigung zur Veranstaltung von Gymnasialkursen für Frauen“ und 1908 zusammen mit Kaiserin Auguste Viktoria und den Frauenrechtlerinnen Helene Lange und Gertrud Bäumer die Reform des Mädchenbildungswesens.21
2.4 Politisches Engagement unter Kaiser Wilhelm II.
Harnacks wissenschaftspolitisches Engagement galt jedoch nicht nur der Gleichberechtigung von Frauen im Deutschen Kaiserreich. Er pflegte ein enges und freundschaftliches Verhältnis zu Kaiser Wilhelm II. und lud ihn 1914 in seiner Funktion als Generaldirektor als Festredner zur Einweihung der Königlichen Bibliothek ein. Auch bei der Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für experimentelle Therapie am 28. Oktober 1913 war Harnack auf Einladung von Kaiser Wilhelm II. zugegen. Er avancierte schnell zu einem politischen Berater des Kaisers und pflegte enge Kontakte zum Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Politisch setzte er sich dabei stets gemeinsam mit den Reformern der Staatsbürokratie für Sozialreformen ein und wandte sich strikt gegen den Kulturkampf und eine Verschärfung der Konflikte zwischen den einzelnen Klassen. Er war dabei vom bürgerlich-liberalen Milieu geprägt und wollte auf lange Sicht eine parlamentarisch-konstitutionelle Monarchie. Der Gesellschaft als solcher traute er die Fähigkeit zu weitgehenden Reformen zu. Seine religiöse Auffassung war dabei von starken Sozialidealen durchdrungen, die sich für ihn im Reich Gottes erfüllten. Als Christ müsse man sich am Gemeinwesen beteiligen und an diesem seinen Dienst erweisen. Den Imperialismus, wie er von Kaiser Wilhelm II. vertreten wurde, lehnte er entschieden ab und plädierte stattdessen für das Gespräch mit England. Dieses Bild wird jedoch dadurch getrübt, dass er zu den Mitunterzeichnern des so genannten Manifest der 93 gehörte, wo eine Mitschuld Deutschlands am Kriegsbeginn geleugnet wird. Auch gehörte er zu den Verfassern des nationalen Aufrufs „An das deutsche Volk!“ von Wilhelm II. vom 06. August 1914.22 Er schloss sich damit dem Reigen an, der sich des Beistand Gottes („Gott mit uns!“) gewiss war und die Bereitschaft zum totalen Kampf forderte.23 Nach der Kriegsniederlage und der Novemberrevolution 1918/19 sah er jedoch die Demokratie und den Sozialismus anbrechen.
Im Gegensatz zur Mehrheit im deutschen Protestantismus war er nicht antirepublikanisch eingestellt und engagierte sich in der Weimarer Republik als konservativer Republikaner für eine soziale Demokratie. Harnack wirkte auch als politischer Schriftsteller und forderte 1922 in seiner Schrift „Augustin“ eine Erneuerung der Kultur unter den Einflüssen der Moderne.24
2.5 Theologisches Werk und Vermächtnis
Harnacks bedeutendste Arbeiten fallen in das Feld der Dogmengeschichte und der Konfessionskunde. Als Protestant war er vor allem davon überzeugt, dass es zu Luthers Zeiten einer Reformation der Heilslehre sowie einer Revolution gegen die hierarchischen Strukturen und der Kultusordnung in der römisch-katholischen Kirche bedurft hat. Jesus habe insbesondere nicht auf die Einhaltung von Kult- und Reinigungsvorschriften geachtet, sondern seinen Blick auf den einzelnen Menschen gewandt.
Allein sein irdisches Wirken, ethisch-moralisches Handeln und die Praxis von Nächstenliebe würden darüber entscheiden, ob er in das Reich Gottes komme oder nicht. Das römisch-katholische und das orthodoxe Christentum orientieren sich für Harnack noch zu stark am Kultus. Erst der Protestantismus konnte für ihn die ursprüngliche Botschaft Jesu wiederherstellen.
Seine wichtigste theologische Publikation ist ohne Zweifel das dreibändige Lehrbuch der Dogmengeschichte, welches in der 1. Auflage von 1886-1890 erschien. Er verfasste es in seiner Marburger Zeit und regte nach dessen Publikation schnell den Widerspruch von Konservativen sowie dem Ev. Oberkirchenrat an, die seine Berufung nach Berlin zu verhindern beabsichtigten. 1888, dem Dreikaiserjahr, konnte er aber letztlich doch durch die Unterstützung von Bismarck und Kaiser Wilhelm II. an die Universität Berlin wechseln. Eine Prüferlaubnis für theologische Examina wurde ihm jedoch zeitlebens verwehrt. Aufgrund seines kirchenpolitischen Engagements sah er sich auch oft in theologische Auseinandersetzungen wie die des Apostolikumsstreits oder des Bibel-Babel-Streits verwickelt. Meist nahm er dabei eine ruhige und vermittelnde Position ein und konnte so zu einer Lösung der Konflikte beitragen.
1900 sorgte er für großes Aufsehen im deutschsprachigen Protestantismus, als er im Wintersemester 1899/1900 ganze sechszehn Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“25 hielt, die von mehr als 600 Studenten aller Fakultäten besucht wurden. Damit konnte er seinem Wunsch, ein richtiger „Studentenprofessor“ zu sein, Rechnung tragen.26
Doch nicht überall trafen diese auf positives Echo: Konservative Theologen, wie u. a. Theodor Zahn oder Eduard Rupprecht, hielten mit ihrer großräumigen Kritik nicht zurück.27 Doch schon im Vorfeld der Vorlesungen, 1895, erreichte Harnack Kritik vom Greifswalder Theologieprofessor Martin von Nathusius, dass ihm Harnacks Auffassung zu diesseitig orientiert sei.28 Auch auf jüdischer Seite erfolgte 1905 durch „Das Wesen des Judentums“ des Rabbiners Leo Baeck eine kritische Auseinandersetzung mit den Auffassungen Harnacks, wobei dessen Name jedoch im ganzen Werk keine Erwähnung findet.29 Bis heute gilt sein systematisch-theologisches Hauptwerk „Das Wesen des Christentums“ (1900) „als Grundschrift liberaler kulturprotestantischer Theologie“.30 Doch nicht nur auf dem Gebiet der Dogmengeschichte, sondern auch auf dem Gebiet der Patristik und der Alten Kirche sowie auch des Neuen Testaments veröffentliche Harnack bedeutende Studien.
Auf dem Gebiet der Patristik und der Alten Kirche seien alleine seine zahlreichen Publikationen in der Reihe „Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur“ zu nennen, die er ab 1883 zusammen mit Oscar von Gebhardt veröffentlichte. Auch seine „Geschichte der altchristlichen Litteratur bis Eusebius“ (1893-1904) sowie seine Marcion-Studie von 1921 gelten als bedeutende kirchengeschichtliche Werke des 20. Jahrhunderts.31
[...]
1 Siehe Osthövener, Claus-Dieter: Adolf von Harnack als Systematiker, in: ZThK 99 (2002), 296-331.
2 Einen grundlegenden Überblick zu Adolf von Harnacks Leben bietet die Biographie seiner Tochter Agnes von Zahn-Harnack: Adolf von Harnack, Berlin-Tempelhof: Hans Bott 1936; 2. verbesserte Auflage Berlin 1951.
3 Vgl. Harnack, Adolf von: Das Wesen des Christentums, hrsg. u. komm. v. T. Rendtorff, Gütersloh 1999, 13.
4 Vgl. ebd., Fußnote 19. Rendtorff zählt hier einige der bedeutendsten Werke von Theodosius Harnack auf. So z. B. T. Harnack, Die Grundbekenntnisse der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Die drei ökumenischen Symbole und die Augsburgische Confession, Dorpat 1845; Ders.: Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine Versöhnungs- und Erlösungslehre, Bd. 1: Luthers theologische Grundanschauungen; Bd. 2: Luthers Lehre von dem Erlöser und der Erlösung, Erlangen 1862 und 1886.
5 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Art. Harnack, Adolf von (1851-1930), in: TRE 14 (1985), 451.
6 Ebd.
7 Siehe die Webpräsenz des Berliner Wingolfs, abrufbar unter: https://www.wikiwand.com/de/Berliner_Wingolf (abgerufen am 10.04.2020) und Jantsch, Johanna (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade: Theologie auf dem öffentlichen Markt, Postkarte Nr. 265 Adolf Harnacks an Martin Rade vom 07.03.1900, Berlin/New York 1996, 448. Siehe den rot unterstrichenen Vermerk „Ehrung seitens des Wingolfs“.
8 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Art. Harnack, Adolf von (1851-1930), in: TRE 14 (1985), 451.
9 Vgl. ebd.
10 Vgl. ebd.
11 Ebd.
12 Zur Quellenkritik der Geschichte des Gnosticismus, Leipzig 1873; De Appellis Gnosi monarchica, ebd. 1874.
13 Vgl. Zahn-Harnack, Agnes von: Adolf von Harnack, Berlin-Tempelhof 1936, Berlin 21951, 89.
14 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Art. Harnack, Adolf von (1851-1930), in: TRE 14 (1985), 451.
15 Harnack, Adolf von: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 1. Band, Freiburg 1886, 21888.
16 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Art. Harnack, Adolf von (1851-1930), in: TRE 14 (1985), 452.
17 Ebd.
18 Siehe Harnack, Adolf von: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, im Auftrage der Akademie bearbeitet, Berlin 1900, vier Teilbände: Bd. 1, Teil 1: Von der Gründung bis zum Tode Friedrichs des Großen; Bd. 1, Teil 2: Vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gegenwart; Bd. 2: Urkunden und Actenstücke [sic!] zur Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 3: Gesamtregister über die in den Schriften der Akademie von 1700-1899 erschienenen wissenschaftlichen Abhandlungen und Festreden, bearbeitet von Otto Köhnke.
19 Harnack, Adolf: Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius, Berlin 1893-1904: Bd. 1, 1. Teil 1893; Bd. 1, 2. Teil Chronologie 1897, 2. Band 1904.
20 Zum Verhältnis zwischen A. Harnack und T. Mommsen siehe auch Rebenich, Stefan: Die Altertumswissenschaften und die Kirchenväterkommission an der Akademie: Theodor Mommsen und Adolf Harnack, in: J. Kocka (Hrsg.): Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999 oder auch Rebenich, Stefan: Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1997.
21 Vgl. Schaser, Angelika: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln 2010, 72 und Nottmeier, Christian: Adolf von Harnack und die deutsche Politik, Tübingen 2004, 270.
22 Bruch, Rüdiger vom: Die Berliner Universität im Ersten Weltkrieg – „Erster geistiger Waffenplatz Deutschlands“, in: Der Tagesspiegel online vom 05.06.2014, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/wissen/die-berliner-universitaet-im-ersten-weltkrieg-erster-geistiger-waffenplatz-deutschlands/9986394.html (abgerufen am 10.04.2020).
23 Siehe Kaiser Wilhelm II.: „An das deutsche Volk!“, Aufruf vom 06. August 1914, abrufbar unter: https://de.wikisource.org/wiki/An_das_deutsche_Volk! (abgerufen am 10.04.2020).
24 Vgl. Nottmeier, Christian: Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890-1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen 2004, 487.
25 Bis heute in zahlreichen Auflagen erschienen. 1. Auflage, Leipzig 1900, 3. u. 5. Auflage 1902. Zuletzt 2012 von Claus-Dieter Osthövener (Hrsg.): Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Tübingen 32012.
26 So schrieb Harnack am 14. März 1890 in einem Brief an den Hallenser Kirchenhistoriker Friedrich Loofs: „Auch ich will nichts anderes sein als ein ,Studentenprofessor´ und bin nicht so großmüthig, Ihnen dieses beste Theil unsres Berufs zu überlassen. Das Übrige ist Mühe und Arbeit; dieses ist Mühe und Segen.“ Vgl. Harnack, Adolf von: Das Wesen des Christentums: sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf von Harnack, hrsg. v. Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 2005, 269 (s. Fußnote 2).
27 Vgl. so z. B. Swarat, Uwe: Alte Kirche und Neues Testament. Theodor Zahn als Patristiker, Wuppertal 1991 oder Rupprecht, Eduard: Das Christentum von D. Ad. Harnack nach dessen sechszehn Vorlesungen. Eine Untersuchung und ein Erfahrungszeugnis an die Kirche der Gegenwart aller Konfessionen, Gütersloh 1901.
28 Vgl. Nathusius, Martin von: Der evangelisch-sociale Kongreß. Eine Absage. In: Allgemeine Konservative Monatsschrift für das christliche Deutschland, 52. Jahrgang, Januar-Juni, 1895, 562.
29 Siehe Baeck, Leo: Das Wesen des Judentums, in: Schriften der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, Nathansen & Lamm: Berlin 1905, 6. Auflage 1960.
30 Achenbach, Rüdiger u. Kroeger, Matthias: Adolf von Harnack und die Kritik der kirchlichen Dogmen. In: Deutschlandfunk, Gesprächsreihe zu Stationen des liberalen Protestantismus, Teil 3, Interview vom 23.01.2013, abrufbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/adolf-von-harnack-und-die-kritik-der-kirchlichen-dogmen.886.de.html?dram:article_id=235058 (abgerufen am 12.04.2020).
31 Vgl. Harnack, Adolf: Geschichte der altchristlichen Litteratur bis Eusebius, Bd. 1, 1. Teil Leipzig 1893; Bd. 1, 2. Teil Chronologie ebd. 1897; Bd. 2, ebd. 1904 oder Harnack, Adolf von: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1921. In: Texte und Untersuchungen 3. Reihe, 15. u. 45 Bd., 2. Auflage 1924.