Jubel- und Heilandsruf in Mt 11,25-30


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Übersetzung und Struktur von Mt 11,25-30

II. Textanalyse

III. Diachrone Untersuchung

IV. Mt 11,25-30 als Scharnier im Matthäusevangelium
IV.1. Mt 11,25-30 & Mt 28,18-20 – Sammlung und Sendung
IV.2. Kontext der Perikope Mt 11,25-30
IV.3. Die Scharnierperikope Mt 11,25-30

V. Jesus jubelt
V.1. Jubel über den Ratschluss Gottes
V.2. Der Vater und der Sohn
V.3. Zwischenfazit

VI. „Her zu mir!“
VI.1. Der Anspruch Jesu als Sohn des Vaters
VI.2. Jubel- & Heilandsruf des Immanuel

Literaturverzeichnis

Quellen und Hilfsmittel

Sekundärliteratur

Einleitung

Jubel- und Heilandsruf in Mt 11,25-30 sind in der neueren evangelischen Theologie oft behandelte Texte.1 Fasziniert hat v.a. Vers 27 mit seiner eindringlichen Schilderung der engen (Erkenntnis-)Beziehung von Vater und Sohn, aber auch der Heilandsruf an die Abgemühten, denen Jesus Ruhe verheißt, ist von nicht geringer Eindringlichkeit. Dieser Aufsatz soll v.a. die theologischen Aussagen über die Person Jesu herausstellen, eingebettet in den Kontext des Evangeliums. Leitende Fragen sind: In welcher Stellung stehen Jubel- und Heilandsruf zueinander und zum Kontext? Welche Bedeutung hat das Rufen Jesu an sich und für die Gerufenen selbst? Wie ist das Verhältnis von Gott und Jesus bestimmt?

Zur Behandlung der Fragen sind verschiedene Schritte notwendig, die aufeinander aufbauen. Die anfängliche Übersetzung und Gliederung (Punkt I) nehmen die Ergebnisse schon vorweg, sind aber für das Verständnis des Aufsatzes vonnöten. Um Klarheit über den Inhalt der Perikope zu erlangen, habe ich den Text zunächst unter formal-rhetorischen Gesichtspunkten untersucht (Punkt II). Die gefundenen Ergebnisse unterstützen merklich die theologische Auslegung unter Berücksichtigung der obigen Fragestellung, welche den größten Raum einnehmen soll (Punkt IV-VI). In einem Zwischenschritt (Punkt III) soll der Text diachron untersucht werden, was die Perikope aufgrund ihrer mehrstufigen Genese an sich schon gebietet. Die Theologien der Perikope können dadurch besser erfasst werden.

I. Übersetzung und Struktur von Mt 11,25-30

I 25 In jener Zeit fing Jesus an und sprach:

„Ich preise dich Vater, Herr des Himmels und der Erde,

weil du dies verborgen vor Weisen und Verständigen

und es Unkundigen offenbart hast.

26 Ja, Vater, weil es so Gefallen fand vor dir.

II 27 Alles ist mir übergeben von meinem Vater,

und keiner kennt den Sohn als nur der Vater,

und keiner kennt den Vater als nur der Sohn

und wem immer es der Sohn offenbaren will.

III 28 Her zu mir alle sich Mühenden und Geplagten,

und ich werde euch Ruhe bringen.

29 Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir,

weil ich sanft bin und von Herzen demütig,

und ihr werdet Ruhe finden für eure Leben.

30 Denn mein Joch ist erträglich und meine Last leicht.“

25a Ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ ἀποκριθεìς ὁ Ἰησοῦς εἶπεν·

b ἐξομολογοῦμαí σοι, πάτερ, κύριε τοῦ οὐρανοῦ καὶ τῆς γῆς,
c ὅτι ἔκρυψας ταῦτα ἀπò σοφῶν καì συνετῶν
d καì ἀπεκάλυψας αὐτà νηπίοις·

26 ναì ὁ πατήρ, ὅτι οὕτως εὐδοκία ἐγένετο ἔμπροσθέν σου.

27a Πάντα μοι παρεδóθη ὑπò τοῦ πατρóς μου,

b καὶ οὐδεὶς ἐπιγνώσκει τòν υἱòν εἰ μὴ ὁ πατήρ,
c οὐδὲ τòν πατέρα τις ἐπιγνώσκει εἰ μὴ ὁ υἱòς
d καì ᾧ ἐὰν βούληται ὁ υἱòς ἀποκαλύψαι.

28a Δεῦτε πρός με πάντες οἱ κοπιῶντες καὶ πεφορτισμένοι,

b κἀγὼ ἀναπαύσω ὑμᾶς.

29a ἄρατε τòν ζυγόν μου ἐφ᾿ ὑμᾶς καὶ μάθετε ἀπ᾿ ἐμοῦ,

b ὅτι πραΰς εἰμι καὶ ταπεινòς τῇ καρδίᾳ,
c καὶ εὑρήσετε ἀνάπαυσιν ταῖς ψυχαῖς ὑμῶν·

30a ὁ γὰρ ζυγός μου χρηστòς

b καὶ τò φορτίον μου ἐλαφρόν ἐστιν.

II. Textanalyse

Um einen biblischen Text für exegetische und theologische Fragestellungen fruchtbar zu machen, muss er zunächst in seiner Sprachgestalt durchdrungen und verstanden werden. Im Folgenden soll Mt 11,25-30 hierfür sprachlich, d.h. unter semantischen, syntaktischen, rhetorischen und pragmatischen Gesichtspunkten, untersucht werden. Die aufgezeigte Struktur bezieht sich auf diese Erträge und dient zugleich als weiteres Hilfsmittel der Analyse.

Die Perikope lässt sich eindeutig vom Kontext in Mt 11 unterscheiden und als in sich sinnvolle Einheit erkennen. In Mt 11,20-24 spricht Jesus Weherufe über galiläische Städte aus, während er in V. 25 mit einem Lobpreis des Vaters beginnt. Neben dem Adressatenwechsel markiert daneben eine zeitliche Hervorhebung (Ἐν ἐκείνῳ τῷ καιρῷ) den Themenwechsel. Das ἀποκριθεìς [...] εἶπεν ist hier nicht mit „antworten“ zu übertragen, sondern eher als Semitismus im Sinne von „er hub an/fing an und sprach“ (ַיַּעַן וַיֹּאמֶר),2 verdeutlicht somit den Neueinsatz.

Nach der Redeeinheit in den VV. 25-30 wiederholt V. 31 die zeitliche Einleitung aus V. 25 und beginnt mit dem Streitgespräch zwischen Jesus und den Pharisäern über das Ährenraufen am Sabbat ohne Bezug auf das Vorherige.

In sich ist die Perikope als Rede Jesu ohne Zeit- und Ortswechsel gekennzeichnet, doch stechen insbesondere die VV. 28-30 von den anderen Versen ab, da sich auch keine verbindenden Stichwörter zu den VV. 25-27 finden lassen.3 Letztere wiederum teilen die Wörter πατήρ und ἀποκαλύπτω.

Nach den einleitenden Worten (V. 25a) preist Jesus den Vater (VV. 25f.) in einem Gebet (Vokativ πάτερ) für seine verbergendes und offenbarendes Handeln an den Menschen. Den Weisen und Verständigen wird die Offenbarung des Herrn der Welt (κύριε τοῦ οὐρανοῦ καὶ τῆς γῆς) vorenthalten, den νήπιοι hingegen, also den Unmündigen und Unkundigen, die im Gegensatz zu den Klugen per definitionem nicht zu verstehen vermögen, wird die Offenbarung zuteil.

Der Lobpreis der VV. 25f. ist rhetorisch kunstvoll ausgearbeitet. Im parallel angeordneten Rahmen der VV. 25b.26 wird der Vater zweimal bestätigend angerufen (ἐξομολογέω, ναί). Zu einem Herrn (25b) gehören die Entscheidung und der Wille, wodurch auch die hinteren Hälften der Teilverse miteinander korrespondieren. Jesus preist den Herrn der Welt, dessen uneingeschränkter Wille es ist, über die Empfänger der Offenbarung zu entscheiden. Diese Entscheidungstat des Vaters wird im Inneren des Rahmens dargestellt (25c.d).

Die Entscheidung Gottes ist zugleich eine Unterscheidung, die der antithetische Parallelismus besonders hervorhebt. Die Gegensatzpaare (verbergen – offenbaren, Weise/Verständige – Unkundige) stehen sich unmittelbar entgegen.

Insgesamt gesehen wird deutlich, dass Jesus in seinem Preisen den Willen und die Entscheidung des Herrn des Himmels und der Erde kennt, sie zudem gutheißt und mit ihnen übereinstimmt (ναί).

Im V. 27 redet Jesus den Vater nicht mehr direkt in einem Gebet an, sondern spricht über ihn in der dritten Person. Damit richtet sich der Fokus aus der persönlichen Zwiesprache mit dem Vater auf diejenigen, die seiner Rede zuhören. Jesus unterweist nun über sein Verhältnis zum Vater. Der Wechsel vom Lobpreis zur Lehraussage geschieht plötzlich und ohne Konjunktion, allerdings passen die Logien vom Wortfeld her zueinander.

Der Vers ist ähnlich den VV. 25b-26 mit zwei rahmenden Teilversen gebaut, nur findet sich zwischen ihnen ein Satz in chiastischer und paralleler Struktur. Im Rahmen kommt die Macht Jesu zu Geltung, dem alles (πάντα) von seinem Vater übergeben wurde (27a), und der für sich entscheidet (ᾧ ἐὰν βούληται), an wen die Offenbarung über den Vater ergehen soll (27d). In einem besonderen Maße verdeutlichen die Wahl der Wörter und deren Stellung die Vollmacht Jesu. Zu Beginn der Einheit an einer herausgehobenen Stelle erscheint das πάντα bar jeglicher Verbindung zum Vorigen und ohne Einschränkung des Wortes. Somit kann rhetorisch gesehen kein Zweifel bestehen, dass mit diesem Wort ‚alles‘, wirklich ‚alles‘ gemeint ist, was Jesus vom Vater empfangen hat. Gleich nach dem πάντα folgt das μοι und zusammen enthalten die beiden Wörter schon in nuce („alles mir“), was der ganze Satz aussagen will.

Die exklusive Stellung Jesu wird zusätzlich dadurch artikuliert, dass Jesus hier von ‚seinem‘ Vater spricht im Gegensatz zu den VV. 25f.,4 und seine Person in einem besonderen Verhältnis zum Vater steht (εἰ μὴ). Denn niemand kennt Jesus als nur der Vater und niemand kennt den Vater als nur Jesus als sein Sohn.

Nun macht der Mittelteil des Verses diese gegenseitige Erkenntnis von Vater und Sohn durch seine Struktur besonders augenfällig. Die Gegenseitigkeit wird durch einen Chiasmus betont (ἐπιγνώσκει τòν υἱòν ↔ τòν πατέρα τις ἐπιγνώσκει), die Ausschließlichkeit der Erkenntnisbeziehung durch parallele Anordnungen (οὐδεὶς = οὐδὲ ... τις; εἰ μὴ ὁ ...). Das Ineinander von Chiasmus und Parallelismus und das Verwenden der selben Wörter veranschaulichen die untrennbare Nähe und Verwobenheit von Vater uns Sohn in ihrer Erkenntnis-Beziehung (ἐπιγνώσκω steht in der Mitte der jeweiligen Teilverse).

Auffällig ist die Verwendung der Zeitaspekte in diesem Logion. Das Übergeben (παραδίδωμι) und das Offenbaren des Sohnes stehen im Aorist, bezeichnen also ein einmaliges Geschehen vom Vater an den Sohn bzw. vom Sohn an die Menschen. Dagegen ist die Kenntnis und Erkenntnis von Sohn und Vater auf beiden Seiten im Präsens beschrieben und betont damit den durativen Aspekt der Erkenntnis. Sie ist damit nicht so zu verstehen, dass der Vater bzw. der Sohn irgendwann einmal Kenntnis voneinander genommen haben, sondern in einer ständigen Kenntnis zueinander stehen. Dieser beachtliche Unterschied wird in der späteren Interpretation eine wichtige Rolle spielen.

Nach der Unterweisung der Zuhörer spricht Jesus die Hörer nun direkt mit einer Anweisung in den VV. 28-30 an. Jesus fordert die Abgemühten und Geplagten5 auf, zu ihm zu kommen und von ihm zu lernen, auf dass sie Ruhe finden mögen. Dieser in der Tradition sog. Heilandsruf besteht aus zwei imperativischen Sätzen (28a δεῦτε; 29ab ἄρατε, μάθετε) auf die jeweils eine Verheißung im Futur folgt (28b ἀναπαύσω; 29b εὑρήσετε). Die beiden Sätze sind damit bedingte Zusagen. D.h. es müssen zuerst bestimmte Bedingungen erfüllt sein, die in den Imperativen genannt wird, damit dann eine Zusage erfühlt werden kann. Die Zusage ist hier die gleiche, nämlich Ruhe/Ausruhen/Erquickung (ἀναπαύσω = εὑρήσετε ἀνάπαυσιν).

Drei Begründungen werden im Logion für die Erfüllung der Forderungen genannt. Man soll von Jesus lernen, dass 6 er sanftmütig und demütig ist (29b), sein Joch aufnehmen, weil es sanft und leicht ist (30). Letztere Begründung ist in einem synonymen Parallelismus angeordnet und verstärkt somit die Aussage über die Leichtigkeit des Jochs.

Die verschiedenartigen Logien lassen sich rhetorisch besehen nur schwer in einer Gesamtschau vereinen. Sie sind zwar zusammen vom Kontext abzugrenzen und als Rede Jesu gekennzeichnet, doch mangelt es an einer einheitlichen Wirkabsicht und einem verbindenen Strang, die sich durch die Rede ziehen. In diesem Sinne kann die Perikope nicht einmal als Rede benannt werden, vielmehr als Sammlung von Worten Jesu. Die folgende diachrone Untersuchung soll nun die Genese der Perikope herausarbeiten.

III. Diachrone Untersuchung

Unsere Perikope ist von Matthäus teilweise aus der Logienquelle Q übernommen worden (vgl. Lk 10,21f.)7. In der lukanischen Überlieferung findet sich allerdings keine Parallelüberlieferung zu den mt VV. 28-30. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann deshalb angenommen werden, dass diese Verse nicht aus Q stammen. Jedenfalls müsste eine gegenteilige Behauptung die Begründung erbringen, warum Lukas die Verse nicht gesammelt und tradiert habe. Nichtsdestotrotz wird besonders seit Eduard Nordens formgeschichtlicher Schrift „Agnostos Theos“ die These der Einheitlichkeit der Perikope Mt 11,25-30 vertreten. Die Perikope habe auf der Stufe der Q-Überlieferung ihre literarische und v.a. formale Vorlage in Sir 51,1-36.8 Norden beruft sich hierbei auf einen „Typus religiöser Rede“9 und behauptet die Einheit der drei Teile der Q-Rede und die formale Abhängigkeit der Perikope von Jesus Sirach.10

Die These Nordens kann nun nicht dadurch widerlegt werden, dass die inhaltliche Übereinstimmung der Texte bestritten wird,11 spricht doch Norden ausdrücklich von einer formalen Entsprechung – einem „Typus“ – als verbindendem Merkmal, auch wenn er über die Herkunft und Art dieses Typus nur eine vage Aussage treffen kann.12 Spätestens seit den Qumran-Funden muss zumindest die These Nordens zurückgewiesen werden, da die Integrität von Sir 51 unsicher ist. 11 Q Psa 21,11ff. überliefert Sir 51,1-12 nicht, ein Typus religiöser Rede kann damit nicht mehr behauptet werden.13

Die obige Textanalyse macht deutlich, warum die die drei Teile der Perikope (25f.; 27; 28-30) voneinander zu unterscheiden sind,14 was hier mit anderen Argumenten weitergeführt werden soll.

Das erste (Mt 11,25f./Lk 10,21) und zweite Logion (Mt 11,27/Lk 10,22) unserer Perikope entstammen der Logienquelle.

Mt 11,25a ist mt Redaktion (vgl. Mt 12,1; 14,1), doch hat auch die lukanische Überlieferung eine Einleitung, die sich aber deutlich von Mt unterscheidet. Während der mt Jesus zu sprechen anhebt (ἀποκριθείς), spricht Jesus bei Lk im Geist, was aber laut Strack/Billerbeck in der rabbinischen Tradition dasselbe ist.15 Lukas verwendet seine Formulierung recht häufig im Gegensatz zu den anderen Synoptikern16 Auch die Einleitung Ἐν αὐτῇ τῇ ὥρᾳ ist lukanisch.17 Wenn nun auch Q eine Einleitung hat, so dürfte sie eher der mt Überlieferung entsprechen.

Das lukanische ἀπέκρυψας ist eine Angleichung an ἀπεκάλυψας (V. 21). Damit ist der Q-Bestand des ersten Logions recht gut zu fassen. Beim zweiten Logion sind die Unterschiede zwischen Mt und Lk eher stilistischer Art und nicht sinnverändernd. Das τίς ἐστιν (Lk 22bc) ist lukanisch.18 Und auch das Nichtwiederholen des „erkennen“ (22bc) im Gegensatz zu Mt (27bc) deutet eher auf eine stilistische Verbesserung der im Semitischen typischen Wiederholung von Satzteilen. Die mt Überlieferung ist demnach für beide Logien mit großer Wahrscheinlichkeit näher an der Logienquelle als die lukanische.

Das erste Logion ist ein Preis- und Dankgebet Jesu an seinen Vater, dem es wohlgefällig ist, dies den Unkundigen zu offenbaren, den Weisen aber nicht. Mit einiger Wahrscheinlichkeit stammt das Logion von Jesus selbst.19 Neben dem semitischen Sprachgebrauch sind die Vateranrede, die Kritik an den Höhergestellten (Weise) und das Hinwenden Jesu zu den Benachteiligten (νήπιοι) typisch. Letztere haben im gesamten NT nur an dieser Stelle eine positive Bedeutung.20 Konsequenterweise würde das ταῦτα („dies“) dann die Botschaft von der Herrschaft Gottes meinen, die sich schon jetzt offenbart. Jesus preist Gott in diesem Wort dafür, dass die Gebildeten Israels, seine Lehrer, die Schriftgelehrten und Pharisäer, vielleicht auch die Qumran-Weisen – jedenfalls ein Stand, der dem Volk enthoben und durch seine Bildung ausgezeichnet ist – das ταῦτα nicht erfahren haben. Die Anspielung auf Dan 2,19-23 ist hier unverkennbar.21 Hier preist Daniel Gott für die Gabe von Weisheit und Verstand an eben jene, die im Logion nicht der Weisheit Gottes teilhaftig werden. Nun steht die Aussage Jesu nicht im Gegensatz zu Daniel,22 da er ja nicht bestreitet, dass die Weisen von Gott ihre Weisheit (bis zu einer gewissen Grenze) empfangen haben. Er macht vielmehr eine Aussage über die Wahl Gottes, der sich an die Einfachen und Einfältigen wendet. Jesus geht also über Daniel hinaus und widerspricht dem in der Weisheit gängigen Gegensatz von Toren und Weisen. Er schließt die νήπιοι nicht von Gottes Offenbarung aus.

Auffällig ist die verschiedenartige Anrede des Vaters in den Versen 25 und 26. V. 25 benutzt den Vokativ (πάτερ), V. 26 einen vokativisch gebrauchten Nominativ23 mit Artikel (ὁ πατήρ), welcher der Formulierung des zweiten Logions (V. 27) gleicht. Dieser Unterschied und die in der Textanalyse herausgearbeitete rhetorische Struktur (welche auf eine schriftliche Bearbeitung hinweisen), lassen folglich auf eine Nachbearbeitung des Jesuswortes und eine Erweiterung um V. 26 schließen, und zwar im Zusammenhang mit der Komposition der beiden Logien auf der Q-Ebene oder einer früheren Verschriftlichungsstufe.

Denn das zweite Logion (V. 27) ist mit einiger Wahrscheinlichkeit als spätere Gemeindebildung anzusehen, die als „Kommentarwort“24 zu dem ersten Logion entstanden ist. Es findet ein Adressatenwechsel vom Vater zu den Hörenden (Erzählebene) bzw. Lesenden (Literarebene/Gemeinde) statt und auch das absolut gebrauchte „der Sohn“ ist untypisch für Jesus.25 Zudem ist der johanneische Anklang unübersehbar.26

Das Logion ist nun insofern Kommentar, da das Jesuswort zwei Fragen aufwirft. Zunächst das unbestimmt offene ταῦτα, das wir auf der Stufe des Ausspruches Jesu mit der Reich-Gottes-Botschaft gefüllt haben, welches das zweite Logion nun mit dem Vater-Sohn-Verhältnis bestimmt. Das Logion ist damit zusammen mit dem angehängten V. 26 eine Auslegung des einmütigen Verhältnisses, das in V. 25 in exemplo als Kommunikation zwischen Sohn und Vater geschildert wird. V. 26 macht dies in wörtlicher Anrede anschaulich (der Sohn kennt den Willen des Vaters), und V. 27 erklärt das Verhältnis der gegenseitigen Kenntnis in den oben dargestellten rhetorischen Figuren.

Zugleich ist das zweite Logion ein Kommentar zu der Frage nach der Offenbarung. Redet V. 25 noch von einer allgemeinen Offenbarung des Vaters, so werden in V. 27 Aussagen über die Person Jesu und seine Macht, zu offenbaren, getroffen. Ihm ist nicht nur alles vom Vater übergeben, er kann wegen der exklusiven Erkenntnis-Beziehung zu seinem Vater auch entscheiden, an wen die Offenbarung gehen soll. Das Logion erklärt also, wie die Offenbarung mit Jesus zusammenhängt und wie sie zu den Unkundigen kommt. Diese werden dementsprechend mit denjenigen identifiziert, denen sich Jesus offenbart hat, also den Jüngern bzw. der Gemeinde. Das zweite Logion ist damit eine christologische und ekklesiologische Konzentration und Verengung des ersten Logions.27

Ob die Logienquelle diese Einheit (VV. 25-27) übernommen hat, oder sie in ihr auf Basis des überlieferten Jesuswortes in V. 25 selbst gebildet hat, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Wie schon gezeigt, kann man davon ausgehen, dass Mt diese Logien getreuer übernahm als Lukas. Er fügt ihnen aber ein weiteres Logion hinzu und erweitert dadurch die Interpretationsräume.

Da Mt 11,28-30 keine Parallele bei Lk hat, ist davon auszugehen, dass die Verse nicht in der Logienquelle überliefert sind, sondern von Mt an die Q-Überlieferung Mt 11,25-27/Lk 10,21f. angehängt wurde.28 Das Logion ist mit einiger Wahrscheinlichkeit von Mt aus seiner Tradition genommen und bearbeitet worden.29 Aufgrund der mt Überarbeitung30 lässt sich die vorherige Stufe nur schwer ermitteln. Die These über die Abhängigkeit der gesamten Perikope von Sir 51 ergibt sich nicht zuletzt durch den weisheitlichen Charakter31 dieses Logions. Für sich gesehen ist das Logion ein προτρεπτικός in nuce, ein werbender Ausspruch für die Lehre Christi und den Lehrer an sich.

Durch die Zusammenstellung der drei Logien findet in der Gesamtsicht eine Ethisierung der Perikope statt. Die von Gott empfangene Offenbarung Jesu (VV. 25-27) wird als Joch i.S. von Lehre identifiziert, welches die Schüler auf sich nehmen müssen, indem sie von Jesus lernen. Das ταῦτα (V. 25c) entspricht folglich diesem Joch und dem bisherigen Reden und Tun Jesus im Matthäusevangelium. Näheres dazu im vierten Teil.

Die Genese von Mt 25-30 verlief nach den obigen Wahrscheinlichkeitsthesen und Argumenten auf folgende Weise. Das Jesuslogion in V. 25b-d wurde in der Verschriftlichung vor oder auf der Q-Ebene überarbeitet und um die VV. 26f. erweitert. Die mt Überarbeitung fügte die Einleitung V. 25a hinzu und das Weisheitslogion der VV. 28-30 aus seinem Sondergut. Anhand des unbestimmten ταῦτα (V. 25c) lassen sich die veränderten Aussagen der einzelnen Schichten noch einmal verkürzt widergeben. Das Jesuslogion füllt das Wort ταῦτα mit der Offenbarung der Botschaft vom Reiche Gottes, die den Weisen vorenthalten ist, aber von den Unkundigen und Einfachen aufgenommen wird. Die zweite kunstvoll verschriftlichte (vgl. die Textanalyse) Stufe ist als Gemeindebildung anzusehen und konzentriert das ταῦτα auf Aussagen über Christus und die Gemeinde. D.h. sie ist am Verhältnis von Vater und Sohn interessiert und auf den Sohn selbst als Offenbarendem. Mt bezieht nun das ταῦτα auf die Lehre Jesu, durch die es Ruhe für die Seelen gibt. Im Gesamtkontext des Evangeliums nimmt die gesamte Perikope eine Scharnierstelle ein, das ταῦτα meint somit auch die bisherigen Erzählungen von Jesus und seine Weisungen (Mt 1-11). Genauere Erläuterungen zum Verständnis der Perikope auf synchroner Ebene sind im folgenden Teil dargestellt.

IV. Mt 11,25-30 als Scharnier im Matthäusevangelium

Die Perikope Mt 11,25-30 nimmt für Mt ein gewichtige Rolle in der Gesamtkomposition seines Evangeliums ein. Damit sind die Inhalte der Perikope auch für die Theologie des Mt an emporgehobener Stellung. Dies lässt sich neben dem Gliederungsaspekt, der im Folgenden erläutert werden soll, v.a. an der für Matthäus und das Verständnis des Evangeliums wichtigen letzten Verse (Mt 28,18-20) erkennen. Beide Perikopen sind sehr eng mit Stichworten aneinander gebunden und interpretieren sich gegenseitig.32 Sie sind von Mt redaktionell bearbeitet (Mt 11,25-30), was oben gezeigt wurde, bzw. von ihm gebildet worden (Mt 28,18-20).

IV.1. Mt 11,25-30 & Mt 28,18-20 – Sammlung und Sendung

Πάντα (n. Pl.), alle Dinge, alles ist Jesus vom Vater übergeben (Mt 11,27). Wollte die Q-Überlieferung damit noch die gegenseitige vollständige Kenntnis von Vater und Sohn ausdrücken (s.o.) und Jesus als Offenbarungsträger und -traditor legitimieren, so ist für Mt deutlich geworden, dass mit diesem πάντα noch mehr als nur die geistige Sohnschaft des Sohnes gemeint ist, weil hier der gesamte Kontext des bisherigen Evangelium mitgelesen werden muss. Auch in Mt 28,18 ist das πάντα entgrenzt: „Mir ist übergeben alle Macht im Himmel und auf Erden.“ Das ist die Begründung für den dort folgenden Missionsbefehl, der zu dem Heilandsruf in Mt 11,25-30 eine große Ähnlichkeit aufweist.

Der Heilandsruf erbittet das Kommen „ aller “, die Erquickung und Ruhe suchen, und sie auch beim „Heiland“ finden sollen (Mt 11,28). Wovon die Beschwerten geplagt werden, ist hier nicht mit Eindeutigkeit zu sagen. Meint Mt nur die vom Joch der Pharisäer und ihren Gesetzesauflagen Beschwerten?33 Dies würde zu dem weisheitlichen Kontext dieses Logion passen (s.o.). Jesus wäre ein Toragelehrter, der eine (andere) mildere, Lehre verträte als die Pharisäer und dessen Lehr(joch) dementsprechend leichter ausfiele. Dieser Aspekt ist sicherlich mitzudenken (vgl. Mt 23,2-4.13), doch ist hier noch mehr gemeint als das Joch der Lehre. Denn im Bisherigen (Mt 4,12 ff.) ist der mt Jesus nicht nur als Lehrer aufgetreten, sondern auch als Therapeut geistiger und körperlicher Krankheiten (Mt 4,23-25 u.a.), nicht nur das Himmelreich verkündend, sondern auch in Vollmacht tätig (Mt 11,1-6). Die Geplagten, die Jesus einlädt, mühen sich mit dem Leben; von den Erschwernissen des Lebens verspricht Jesus Ruhe.34 Jesus fordert auf zur Nachfolge. „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir!“ (Mt 11,29).

[...]


1 Vgl. Betz: Logion; Luck: Weisheit und Christologie.

2 Vgl. z.B. 1. Sam 14,28 im MT und der LXX. Zum Semitismus vgl. Davies: Matthew II, 275.

3 Vgl. Luz: Matthäus II, 198.

4 Im gesamten Evangelium nur 11 mal, vor Mt 11,27 nur zwei mal in Mt 10,32.33. Dagegen stehen ungezählte Stellen mit „euer Vater“, wodurch auf der Ebene des Evangeliums Mt 11,27 heraussteht.

5 Wer diese sind und von wem oder was sie geplagt sind, soll erst später erläutert werden.

6 Manche Exegeten übersetzen mit „weil“, andere mit „dass“. Beides ist richtig, weil ὅτι dieses weite Bedeutungsspektrum hat. Die Ruhe von den Plagen finden die Abgemühten , weil Jesus sanftmütig ist, also sanftmütig lehrt und ein sanftes Joch auferlegt. Zugleich lehrt Jesus, dass er sanftmütig etc., also Vorbild für die Beladenen ist. Beides geht ineinander über. Näheres unter Punkt VI.

7 Zur Diskussion über die Genese von Mt 11,25-30 vgl. bei Betz: Logion, 10-20 die Darstellung aller Positionen von Strauß, Norden, Weiß bis in die 60er Jahre und den Funden der Qumran-Forschung.

8 Vgl. Norden: Agnostos Theos, 227-308. Gewisse Anklänge an Mt lassen sich nicht übersehen (v.a. Sir 51,1.17.31ff.), doch fehlen wörtliche Übereinstimmungen.

9 Norden: Agnostos Theos, 302.

10 Eine mögliche Gliederung des Typus: Lobpreis Gottes (Sir 51,1-12 ↔ Mt 11,25f.), Offenbarungswort (Sir 51,18-30 ↔ Mt 11,27) und Einladungswort (Sir 51,31-36 ↔ Mt 11,28-30). Vgl. hierzu auch die Weiterführung der These Nordens bei Luck: Weisheit und Christologie, 37-42; Christ: Jesus Sophia, 83-90; Frankemölle: Matthäus I, 121-126.209.

11 Vgl. u.a. Gnilka: Matthäus I, 433.

12 Norden: Agnostos Theos, 303: „[...] so muß ich mich mit dem allgemeinen Resultate 'mystisch-theosophische Literatur des Orients' begnügen.“

13 Vgl. Gnikla: Matthäus, 433; Stanton: Gospel, 367f.

14 Vgl. u.a. als klassischem Vertreter der Formgeschichte Schweizer: Matthäus, 174. Daran anschließend Luz: Matthäus II, 199; Gnilka: Matthäus I, 433 u.a.

15 Vgl. Strack/Billerbeck 1,606: ἀποκριθείς meine u.a. „im Geiste sprechen“. Vgl. Fußnote 2.

16 Lk 13x; Apg 42-43x; Mt 5x; Mk 4x; vgl. Davies: Matthew II, 273.

17 Lk 4x; Mt & Mk 0x; vgl. ebd.

18 Vgl. Davies: Matthew II, 279: Lk 13,25/Mt 25,11; Lk 22,60/Mk 14,71.

19 Vgl. Gnilka: Matthäus I, 441; Davies: Matthew II, 278.

20 Die νήπιοι erscheinen nur an dieser Stelle im NT positiv. Vgl. Grundmann: ΝΗΠΙΟΙ.

21 Dies kann auch als Argument für eine Gemeindebildung des Logions angebracht werden. Indes darf man Jesus die Kenntnis des Danielbuches zurechnen. Vgl. den Menschensohntitel.

22 So Luz: Matthäus II, 206.

23 Siehe Bornemann: Grammatik, § 161.

24 Luz: Matthäus II, 200; vgl. a.a.O., 206; Davies: Matthew II, 282; u.a.

25 Vgl. Davies: Matthew II, 282. Nichtsdestotrotz halten die beiden Autoren Davies und Allison ein Jesuswort für möglich, nicht zuletzt wegen des Anklangs des absoluten „der Sohn“ an die Menschensohnworte. Eine Entscheidung mögen sie jedoch nicht treffen: „We, regrettably, have not been able to make up our minds on this important issue (a.a.O., 283).“ Eine Erkenntnis, die wohl auch auf manch andere exegetische „Ergebnisse“ ihre Anwendung finden mag.

26 Z.B. Joh 3,35; 5,26; 13,3.

27 Vgl. Luz: Matthäus II, 207.

28 Vgl. Gnilka: Matthäus I, 433; Luz: Matthäus II, 200; u.a.

29 Vgl. ebd. Für eine Tradition sprechen die fünf ἅπαξ λεγόμενα: φορτίζω, ζυγός, ταπεινός, χρηστός, ἐλαφρός.

30 Vgl. Gnilka: Matthäus I, 433. Das Logion erinnert mit den für Mt wichtigen Stichworten der Demut (18,4; 23,12) und Sanftmut (5,5; 21,5) an die Gesamtheit des Buches.

31 Vgl. Luz: Matthäus II, 200.

32 Vgl. Schweizer: Matthäus, 177.

33 Vgl. Schweizer: Matthäus, 177.

34 Vgl. Gnilka, Mathäus I, 439, Fußnote 45 identifiziert das Joch mit Tora, Geboten, Leben, Regierung, Obrigkeit und dem Himmelreich allgemein.

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Details

Titel
Jubel- und Heilandsruf in Mt 11,25-30
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Ev. Theologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
30
Katalognummer
V588491
ISBN (eBook)
9783346197955
ISBN (Buch)
9783346197962
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Matthäus, Neues Testament, Heilandsruf, Heiland, Jesus, Last, Joch, Gliederung
Arbeit zitieren
Christian Elias (Autor:in), 2008, Jubel- und Heilandsruf in Mt 11,25-30, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/588491

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