Erfahrungsmodi von Arbeiterkindern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert


Bachelorarbeit, 2020

50 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Verortung
2.1 Sozialisation
2.2 Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung
2.3 Zentrale Begriffe der Sozialisationsforschung
2.4 Historische Sozialisationsforschung
2.5 Pädagogisch-biographische historische Sozialisationsforschung

3 Die Situation der ArbeiterInnen um 1900

4 Die Kindheit der ArbeiterInnenkinder um 1900 – allgemeine und besondere Erfahrungsmodi

Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Schwer arbeitende Kinder – in unserer modernen Idealvorstellung von Kindheit klingt das eher befremdlich und abschreckend. Für die Heranwachsenden der untersten Gesellschaftsschicht um 1900 war dies jedoch die alltägliche Realität.1 Neben den schlechten Wohnbedingungen und der bereits in frühen Kinderjahren beginnenden harten Arbeit in Fabriken, im Haushalt, der Heimindustrie und auf dem Land bestimmten Familienspannungen, Brutalität und Krankheit ihr junges Dasein. Diese äußere Lebenswelt der Menschen zur Zeit der Industrialisierung wurde politik-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtlich vermehrt ab 1970 erforscht (vgl. Cloer, Klika, Seyfarth-Stubenrauch 1991, S. 68).2 Aber wie genau wurden diese äußeren Umstände von den Kindern und Jugendlichen verarbeitet? Wurden sie überhaupt verarbeitet? Oder endeten die Leidenserfahrungen zwangsläufig in einer Verödung?

Es ist festzustellen, dass eine Erforschung der individuellen Begegnungen mit den Bedingungen des Aufwachsens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bis dato fehlte, wie auch Cloer anmerkt: „Die Subjektposition des Kindes/Heranwachsenden ist in der ʻsoziologischen Wendeʻ der Erziehungswissenschaft vernachlässigt worden […]“ (Cloer 1979, zit. n. ebd., S. 69). Eine Forschungsrichtung, welche mithilfe zahlreicher ArbeiterInnenlebensbedingungen aus der Sicht der Subjekte zum einen nach den strukturell übergreifenden Bedingungen des Erwachsenwerdens um 1900 fragen und zum anderen erklären kann, welche Bedeutung die gesellschaftlichen Strukturen und die sich daraus ergebenden Sozialisationsprozesse für die Persönlichkeitsentwicklung der Subjekte hatten, ist die historische Sozialisationsforschung (vgl. Cloer, Klika, Seyfarth-Stubenrauch 1991, S. 68, S. 88). Diese Forschungsdisziplin soll auch der in der vorliegenden Ausarbeitung zum Einsatz kommen. Zum einen sollen in dieser Arbeit die allgemeinen Lebensbedingungen der ArbeiterInnenkinder im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland erforscht und zum anderen anhand von ArbeiterInnenlebenserinnerungen der Frage nachgegangen werden, ob von den Kindern trotz der allgemeinen Arbeits- und Lebensbedingungen, die eine positive Persönlichkeitsentwicklung durchaus erschwerten, aktive und produktive Verarbeitungs- und Handlungsversuche unternommen wurden, die eine erfolgreiche Persönlichkeitsentwicklung bedingt haben könnten.

Im zweiten Kapitel findet zunächst eine Definition des Terminus Sozialisation statt. Vertiefend soll zudem die Sozialisationstheorie angeführt werden, die versucht, die verschiedenen Forschungsrichtungen unter dem Modell der produktiven Realitätsverarbeitung zu vereinen. Da sich die Arbeit mit den Prozessen des Aufwachsens um 1900 beschäftigt, soll darauffolgend die historische Sozialisationsforschung im Blickpunkt stehen. Der pädagogisch-biografische Ansatz von Cloer, Klika und Seyfarth-Stubenrauch dient als Anreiz, die Thematik der subjektorientierten historischen Sozialisationsforschung zu vertiefen, weshalb dieser Ansatz ebenfalls skizziert wird. In Kapitel drei folgt eine Schilderung der allgemeinen Situation der ArbeiterInnen um 1900, während Kapitel vier die Kindheit der ArbeiterInnenkinder um 1900 näher beleuchtet, wobei für jeden der Sozialisationsbereiche Familie, Straße, Arbeit und Schule zunächst die strukturell übergreifenden Rahmenbedingungen und Erfahrungen, die für die Lebenswelt der ArbeiterInnenkinder typisch waren (allgemeine Erfahrungsmodi) anhand von autobiografischen Beispielen umrissen werden. Darauffolgend werden erneut mithilfe von ArbeiterInnenlebenserinnerungen, Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen geschildert, die sich von den allgemeinen Erfahrungen deutlich abheben (besondere Erfahrungsmodi).

2 Theoretische Verortung

Bevor die Arbeit die Lebensbedingungen der ArbeiterInnenkinder um 1900 untersucht, werden wie eingangs bereits angeführt in diesem Kapitel alle relevanten theoretischen Begriffe und Grundlagen rund um die Sozialisationsforschung dargelegt, um ein grundlegendes theoretisches Verständnis zu schaffen.

2.1 Sozialisation

Sozialisation beschreibt im allgemeinen Sinne den Prozess der Aneignung eines Werte- und Normsystems, das von der jeweiligen Gesellschaft festgelegt ist und die damit verbundene Integration in das soziale System als ein handlungsfähiges Mitglied (vgl. Hurrelmann, Bauer 2015, S. 11).

Die Sozialisationsforschung ist eine junge Wissenschaft. Der französische Soziologe und Pädagoge Emile Durkheim etablierte den französischen Begriff socialisation im Jahr 1902 in einer namhaften erziehungswissenschaftlichen Vorlesung in Paris. Seitdem verbreitete sich die Bezeichnung als interdisziplinärer Forschungsbegriff (vgl. Gestrich 1999, S. 11). Vor der Prägung des Begriffs Sozialisation beschäftigte sich die Philosophie bereits seit der Antike mit dem Grundproblem des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Individuum und der daraus resultierenden Persönlichkeitsentwicklung. Karl Marx, unter anderem ein deutscher Philosoph, arbeitete bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich heraus, dass der Prozess der Vergesellschaftung, also das Gesellschaftlich-werden eines Menschen, aus der Wechselbeziehung zwischen Individuum und Umgebung resultiert. Auch die Umgebung und Gesellschaft sind vom Handeln des Menschen abhängig (vgl. ebd., S. 12).

Sozialisation ist neben den philosophischen Grundüberlegungen Gegenstand in den verschiedensten Fachkontexten und daher ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Die Soziologie, Psychologie, Neurowissenschaft und Erziehungswissenschaft nähern sich dem Begriff jeweils aus unterschiedlichen Richtungen und geben ihm so einen jeweiligen Schwerpunkt. Dabei sind sich die verschiedensten Wissenschaften und deren zahlreichen Theorien einig, dass das Individuum den jeweiligen Einwirkungen nicht hilflos ausgesetzt ist. Der Mensch setzt sich mit der Umwelt in Eigenleistung auseinander. Die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft wird also in allen Wissenschaften als eine wechselseitige Beziehung gesehen (vgl. Hurrelmann, Bauer 2015, S. 11f.). Die Soziologie geht vom gesellschaftlichen Erklärungsbereich aus, um sich von dort aus den Bereich des Individuums zu erschließen (vgl. ebd., S. 56). Sie fragt vor allem nach dem institutionellen Rahmen, in dem sich Heranwachsende die gesellschaftsspezifischen Verhaltensformen und Wahrnehmungsweisen aneignen (vgl. Gestrich 1999, S. 12f.). Die psychologische und neurobiologische Forschung konzentriert sich, ergänzend zu den soziologischen Theorien, auf die vom Individuum ausgehende Fähigkeit zum autonomen Handeln innerhalb einer Gesellschaft (vgl. ebd., S. 14.). Sie erschließt sich also ausgehend vom Individuum die gesellschaftliche Seite (vgl. ebd., S. 88f.). Die Erziehungswissenschaft bemüht sich um eine Zusammenführung der verschiedenen Schwerpunkte.

2.2 Das Modell der produktiven

Realitätsverarbeitung Klaus Hurrelmann schlägt mit dem Modell der produktiven Realit ä tsverarbeitung eine solche Zusammenführung der verschiedenen Theorien der Sozialisation vor. Er arbeitet detailliert die Aspekte heraus, die vorangegangene Theorien oberflächlich und von einem einzigen Blickwinkel beleuchtet haben (vgl. ebd., S. 90). Zum einen beschreibt er das komplexe Wechselverhältnis von ä u ß erer und innerer Realit ä t einer Person. Zur inneren Realit ä t gehören die körperlichen und psychischen Anlagen, die jede Person von Geburt an besitzt, die nur minimal veränderbar sind. Alle äußeren Umstände wie die soziale und physische Umwelt werden als ä u ß ere Realit ä t bezeichnet. Es wird davon ausgegangen, dass sich das Individuum ein Leben lang aktiv und individuell mit der inneren und äußeren Realität auseinandersetzt, um so seine einzigartigen Persönlichkeitsmerkmale zu entwickeln sowie die jeweiligen sozialen Handlungsweisen zu etablieren (vgl. ebd., S. 99). Hurrelmann erläutert auch den Begriff der produktiven Realit ä tsverarbeitung. Die Auseinandersetzung mit der inneren und ä u ß eren Realit ä t ist hier produktiv, da es sich bei der Verarbeitung um eine aktive und dynamische Tätigkeit des Individuums handelt. Mit dem Begriff der Realit ä tsverarbeitung ist die Leistung gemeint, in der die ä u ß ere Realit ä t mithilfe der bis dahin erworbenen Erfahrungen wahrgenommen, bewertet und innerpsychisch neu eingeordnet und anschließend zur Grundlage späterer Handlungsorientierungen wird. Aufgrund dieser Überlegungen geht Hurrelmann davon aus, dass der Mensch die eigene Pers ö nlichkeitsentwicklung steuern kann. Pers ö nlichkeit bezeichnet die „ […] individuelle und einmalige Struktur von körperlichen und psychischen Merkmalen, Eigenschaften und Dispositionen eines Menschen“ (ebd., S. 97). Für eine Entwicklung dieser Komponenten muss sich das Individuum bewusst über die Möglichkeiten seiner körperlichen und psychischen Gegebenheiten sowie die Möglichkeiten der Umwelt sein.

2.3 Zentrale Begriffe der Sozialisationsforschung

Es gibt Begriffe, die wichtige Teilbereiche der Sozialisation bilden, die jedoch nicht die gleiche Reichweite besitzen wie der Sozialisationsbegriff, aber aufgrund der Thematik dieser Arbeit von Relevanz sind und daher erläutert werden sollen. Ein mit dem Sozialisationsbegriff in einem engen Zusammenhang stehender Begriff ist Bildung. Er beschreibt die sinnliche Auseinandersetzung und mentale Aneignung von ökonomischen, kulturellen und sozialen Gegebenheiten der jeweiligen Umwelt (vgl. ebd., S. 15). Es werden Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit angestrebt und ein selbstreflektierendes Denken ermöglicht, wodurch die Individualität gesichert wird. Bildung stellt somit das Ziel des Sozialisationsprozesses dar (vgl. ebd.). Der zweite Begriff, der eng mit dem Sozialisationsbegriff verbunden ist, ist Erziehung. Sie ist der intentionelle, gezielte Einfluss von zum Beispiel Eltern oder Institutionen auf ein Individuum mit der Absicht der zielgerichteten Persönlichkeitsanpassung. Sozialisation dagegen enthält alle Impulse, die auf die Persönlichkeitsentwicklung wirken, unabhängig davon, ob beabsichtigt oder nicht. Da Erziehung ein bewusster und gezielter Einfluss ist, stellt er ebenfalls einen Unterbegriff von Sozialisation dar (vgl. ebd., S. 15f). Mit der Reifung ist das optimale Maß an sozialer Orientierung und sicherem Handlungsverhalten erreicht, sodass ein Individuum bestmöglich den Anforderungen der Umwelt gerecht und somit ein teilhabendes Mitglied des sozialen Systems werden kann. Eine gelungene Sozialisation wird häufig als Reifung bezeichnet (vgl. ebd., S. 16). Zuletzt werden die Begriffe Enkulturation und Akkulturation beschrieben . Enkulturation ist ebenfalls Teil des Sozialisationsprozesses und beschreibt den Prozess der Aneignung und Weiterentwicklung von kulturtypischen Handlungs- und Denkweisen (vgl. Horn et al. 2012, S. 313). Akkulturation bezeichnet „[…] kollektive Reaktionen auf Kulturkontakt“ (ebd., S. 26). Nachdem sowohl der Begriff der Sozialisation als auch Begriffsverwandtschaften und das Modell der produktiven Realit ä tsverarbeitung erläutert wurden, rückt als Nächstes die historische Sozialisationsforschung in den Fokus. Im Zuge der nachfolgenden Erläuterungen soll deutlich werden, inwiefern die beiden Begriffe historisch und Sozialisation ineinandergreifen und worin der Schwerpunkt der historischen Sozialisationsforschung besteht.

2.4 Historische Sozialisationsforschung

Die historische Sozialisationsforschung befasst sich mit der Vergesellschaftung, also mit der Sozialisation von Menschen im Kontext eines bestimmten historisch-gesellschaftlich vermittelten Systems (vgl. Berg 1991, S. 24). Karl Marx legte nicht nur die Grundlage für die Annahme der wechselseitigen Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, er formulierte weiter, dass sich die Dimensionen der Vergesellschaftung im historischen Prozess verändern. Der Prozess der Sozialisation ist also immer vom jeweiligen historischen Kontext und somit vom gesellschaftlichen Entwicklungsstand und der individuellen sozialen Lage des Individuums abhängig (vgl. Gestrich 1999, S. 12). Gefragt wird nach den individuellen und kollektiven Bedingungen des Aufwachsens, nach den biografischen Bedeutungen von Sozialisationserfahrungen und nach ihrer Umsetzung in Verhaltensweisen, Wahrnehmungsformen und Einstellungen (vgl. ebd., S. 9). Das Forschungsfeld arbeitet also nicht nur wie die reguläre Sozialisationsforschung mit der Soziologie und den Psychologie- und Erziehungswissenschaften zusammen, sondern es schaltet sich auch die Geschichtswissenschaft dazu. Historische Sozialisationsforschung ist auf fragmentarische Quellenüberlieferungen angewiesen, weshalb die umfassende und detaillierte Feststellung der genauen Sozialisationsfaktoren sehr schwierig ist (vgl. ebd., S. 29). Deshalb wird es als wichtig erachtet, nicht nur die biografischen Verläufe nachzuerzählen, sondern auch die Lebenswelten zu analysieren und epochentypische Merkmale der Erziehung und Sozialisation, regionale und sozialschichtige Aspekte sowie generationsspezifische Gegebenheiten herauszuarbeiten (vgl. Berg 1991, S. 25).

2.5 Pädagogisch-biographische historische

Sozialisationsforschung Cloer, Klika und Seyfarth-Stubenrauch untersuchen, ergänzend zu den bisherigen Überlegungen der historischen Pädagogik zu der Schul- und Bildungssituation um 1900 die kindliche und jugendliche Alltags- und Lebenswelt. Sie beschäftigen sich mit der Frage, unter welchen Bedingungen Heranwachsende ihre Persönlichkeit entwickelt haben, ein Aspekt, der bis zu diesem Zeitpunkt kaum untersucht wurde (vgl. Cloer, Klika, Seyfarth-Stubenrauch 1991, S. 68). Ihre Methode basiert auf autobiographischen Niederschriften, denn in solchen Dokumenten seien interessante und nur dort erschließbare Details und bedeutsame Sachverhalte zu finden (vgl. ebd., S. 73). Es wird betont, dass dieses Material nicht nur als ein bloßer Datenlieferant fungieren darf. Die Autobiografen werden vielmehr als Produzenten der Geschichte ihrer eigens erfahrenen Sozialisation, Erziehung und Bildung ernst genommen. Somit sieht man die Geschichte der Erziehung nicht mehr nur aus der Perspektive der Erziehenden, sondern erfährt auch die individuelle Lebensgeschichte aus der Sicht des erfahrenden und sich Dinge aneignenden Subjekts und kann somit prüfen, wie die Heranwachsenden mit den von den Erwachsenen vorgegebenen Deutungsmustern aktiv und aneignend umgegangen sind (vgl. Cloer, Klika, Seyfarth-Stubenrauch 1991, S. 89). In ihrer gemeinsamen Studie betrachten die Autoren diese niedergeschriebenen Erfahrungen und beschäftigen sich mit der Frage, ob die übergreifend strukturellen Kontinuitäten der Lebenswelt immer zwangsläufig eine deterministische Kraft auf die Entwicklung eines Individuums ausüben. Der struktur-funktionalistische Forschungsansatz schlägt genau diesen Weg ein und wird deshalb von den dreien kritisiert. Er beleuchtet strukturelle Verallgemeinerungen und verschließt sich somit einem Ansatz der individuellen Persönlichkeitsentwicklung (vgl. ebd., S. 93). Es wird angeführt, dass der vermutete direkte einzelne Zusammenhang zwischen der defizitären Sozialisation im deutschen Kaiserreich und der materiellen Armut der Familien problematisch ist. So müsste die bürgerliche Familie hervorragende und die proletarische Familie folglich ungünstige Voraussetzungen für eine stabile Persönlichkeitsentwicklung aufweisen. Seyfarth-Stubenrauch hat vor dem Hintergrund der ArbeiterInnenkindheit um 1900 die sogenannten allgemeinen und besonderen Erfahrungsmodi definiert, um sich kritisch mit der vermuteten Mono-Kausalität auseinanderzusetzen (vgl. Seyfarth-Stubenrauch 1985; zit. n. Cloer, Klika, Seyfarth-Stubenrauch 1991, 90ff.). Allgemeine Erfahrungsmodi meinen die strukturell-und umgebungsbedingten ähnlichen Erlebnisse, zum Beispiel das grundsätzlich allgemeine Erfahrungsmuster des materiellen Mangels. Mit besonderen Erfahrungsmodi sind Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen gemeint, die über strukturell grundsätzlich gemeinsame Erfahrungsmuster hinausgehen und von herausgehobener sozialisatorischer Bedeutung sind (vgl. Seyfarth-Stubenrauch 1985, S. 179). Diese besonderen Erfahrungsmodi sind sinnlich-unmittelbare Erfahrungen und/oder initiative Handlungsweisen, zu denen auch Anpassungshandlungen zählen können (vgl. ebd., S. 157).

Nachdem in diesem Kapitel alle theoretischen Grundlagen und Begriffe dargelegt wurden, wird im folgenden Kapitel die Situation der ArbeiterInnen um 1900 beschrieben sowie aufgezeigt, wie sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen auf ihre Situation auswirkten.

3 Die Situation der ArbeiterInnen um 1900

Der Begriff der ArbeiterInnen bedarf zunächst einer näheren Erklärung, da das Wort selbst nicht preisgibt, welche Bevölkerungsgruppe gemeint ist. Die Bezeichnung ArbeiterInnen zielt weniger auf einen bestimmten Berufsstand ab, sondern mehr auf eine soziale Klasse. Die ArbeiterInnenschicht zählte um 1900 zur unteren Klasse, wozu 57,4 % der Bevölkerung im Deutschen Reich gehörten (vgl. Mühlbauer 1991, S. 18ff.).3 Diese Klasse umfasste Erwerbstätige wie „Gehülfen, Lehrlinge, Fabrik-, Lohn-und Tagearbeiter, einschließlich der in der Landwirtschaft oder dem Gewerbe des Familienhauptes thätigen Familienangehörigen und Dienenden“ (Hartfiel 1978, zit. n. ebd., S. 21.). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand eine Entfaltung kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen statt, die zu einem Umbruch vom ländlichen Agrarstaat zum städtischen Industriestaat führten. Bis 1850 dominierten noch das Handwerk und die Heimarbeit (vgl. Rosenbaum 1982, S. 383). Zum Zeitpunkt der Gründung des Deutschen Reiches in den Jahren 1870/71 war die Zahl der städtischen ArbeiterInnenschaft im Gegensatz zur ländlichen und heimlichen ArbeiterInnenschaft stark gewachsen (vgl. Seyfarth-Stubenrauch 1985, S. 80). Nach der Jahrhundertwende war die Industriearbeit sogar der größte Arbeitsbereich der erwerbstätigen Gesellschaft geworden (vgl. ebd., S. 98).

Typisch für die ArbeiterInnen war das Defizit materieller Besitztümer, wodurch sie gezwungen waren, ihre Arbeitskraft gegen Lohn zu verkaufen (vgl. Rosenbaum 1982, S. 383). Rechtlich waren sie frei, wodurch sie den jeweiligen Arbeitsverhältnissen ausgesetzt waren. Diese strukturelle Unterlegenheit wirkte sich durchgehend auf die schlechten Arbeits- und Lohnverhältnisse aus (vgl. ebd., S. 386). Die hierarchische Ordnung, wobei die ArbeiterInnen am unteren Ende dieser Ordnung standen, wurde im Industrieablauf von den Vorgesetzten mit Machtausübungen gesichert. Bei Verstößen wurde ein Teil des Lohnes einbehalten (vgl. ebd., S. 388). Die von Region und Gewerbe abhängigen unterschiedlichen Arbeitszeiten betrugen durchschnittlich bis zu zwölf Stunden abzüglich der Pausen. Diese Durchschnittszahl lenkt jedoch schnell von den häufigen Fällen ab, in denen unter anderem auch Kinder bis zu 90 Stunden in der Woche arbeiteten. Viele ruhten auch an Sonntagen nicht und einige suchten sich eine Arbeit am Wochenende, um ihr Einkommen zu erhöhen. Aufgrund der Mietpreise waren die Familien dazu gezwungen, am Stadtrand zu leben, was den Arbeitsweg oft sehr lang machte. Meist wurden diese Wege zu Fuß gegangen, wodurch sich das Risiko der Verspätung erhöhte, die wiederum mit Lohnkürzung geahndet wurde. Mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu fahren, sofern eines zur Verfügung stand, schmälerte wiederum den bereits geringen Lohn (vgl. Seyfarth-Stubenrauch 1985, S. 387f.). Selbst unter verbesserten Arbeits- und Lohnverhältnissen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen, sicherte das Lohnniveau nicht den Unterhalt der Familie. So konnten selbst BestverdienerInnen ohne die Mitarbeit der Familie nicht die materielle Existenz sicherstellen (vgl. Flecken 1981, S. 101). Bis 1914 durfte LohnarbeiterInnen ohne besondere Rechtfertigung fristlos gekündigt werden, weshalb viele Menschen regelmäßig von Arbeitslosigkeit und somit von Existenzgefährdung betroffen waren. Ähnlich existenzbedrohende Auswirkungen brachten Krankheiten, da das Krankengeld der seit 1883 eingeführten Krankenversicherung nur einen Bruchteil des regulären Lohns deckte (vgl. Rosenbaum 1982, S. 392). Damalige Sozialversicherungen sind nicht mit den heutigen zu vergleichen, was eine weitgehend alleinige Verantwortung von zum Beispiel Krankheit oder Arbeitslosigkeit mit sich brachte (vgl. ebd., S. 384). Der Arbeitsschutz war zu jener Zeit ebenfalls kaum entwickelt. Folglich waren viele Arbeitsplätze schlecht ausgestattet und gefährlich. Verschmutzte Luft, Lärmbelästigungen und körperlich schwere Arbeiten standen an der Tagesordnung (vgl. ebd., S. 390). Die Arbeitsbedingungen wirkten sich stark auf die Familienstrukturen aus, da sich das Leben aller Familienmitglieder um die Erhaltung der Existenz derselben durch Arbeit drehte (vgl. Berg 1991a, S. 106). Zusammenfassend beschreibt Seyfarth-Stubenrauch die Lebenslage der ArbeiterInnen folgendermaßen:

„Insgesamt muß die Lebenssituation der Arbeiter im Deutschen Kaiserreich als eine außerordentlich belastete erscheinen. Das Leben in beengten Wohnverhältnissen, die nur mit größten Mühen und ohne Sicherheit auf Beständigkeit erreichte Fristung der rein materiellen Existenz, der meist geforderte Verzicht auf solche Nahrung, die die reinen Grundbedürfnisse überstieg, die ʻgeringe Zeit für sich selbstʻ bzw. die auch meist finanziell fehlende Voraussetzung für eine kontinuierliche, gar häufige Teilhabe an kultureller Bildung oder anderer Form der Erholung: dies alles schuf eine klassenspezifische strukturelle Mangelsituation […].“ (Seyfarth-Stubenrauch 1985, S. 104)

4 Die Kindheit der ArbeiterInnenkinder um 1900 – allgemeine und besondere Erfahrungsmodi

Die Kindheit der Töchter und Söhne der ArbeiterInnen um 1900 fand innerhalb der Familie, in den selbst erkundeten Außenwelten, auf der Arbeit und in der Schule statt (vgl. Berg 1991a, S. 111). Jeden dieser Aspekte kennzeichnen übergeordnete Bedingungen, die für die meisten ArbeiterInnenkinder galten und somit strukturübergreifend ähnliche Erfahrungsmuster konstituierten. Für die einzelnen Sozialisationsbereiche sollen zunächst die allgemeingültigen Lebenszusammenhänge der ArbeiterInnenkinder beschrieben werden, worauf jene Erfahrungen folgen sollen, die sich von den allgemein ähnlichen Erfahrungen abheben. Lediglich die besonderen Erfahrungsmodi sollen mit Ausschnitten aus ArbeiterInnenlebenserinnerungen gestützt werden, da die Beschreibungen der Erfahrungen hier am sinnvollsten erscheinen.

Wohnverhältnisse – allgemeine Erfahrungsmodi Wegen dem enormen Bevölkerungszuwachs in den Städten gab es um 1900 zu wenige Wohnungen, die für die Größe der ArbeiterInnenfamilien angemessen gewesen wären. Außerdem konnten sie sich solche Wohnräume aufgrund des geringen Verdienstes und der hohen Lebenserhaltungskosten nicht leisten (vgl. Rosenbaum 1982, S. 418). So mussten gerade besonders große Familien in besonders kleine Wohnungen ziehen (vgl. Seyfarth-Stubenrauch 1985, S. 121). Folglich lebten die Familien mit ihren Familienmitgliedern und teilweise auch mit fremden Menschen auf engstem Raum zusammen. Eine räumliche Trennung in zum Beispiel Wohn-, Kinder-, Ess- und Elternzimmer war daher nicht möglich. So fand das Leben einer vielköpfigen Familie oft in nur einem Raum statt, der als Wohnzimmer und Küche diente. Dort wurde Wäsche gewaschen und getrocknet, gekocht, gegessen, gespielt und die Schulaufgaben erledigt. Zusätzlich gab es oft noch eine kleine unbeheizte Kammer, in der geschlafen wurde, wobei manche Mitglieder großer Familien auch auf die Wohnstube ausweichen mussten. Aufgrund von mangelnden Schlafplätzen mussten sich nicht nur die Kinder untereinander ein Bett teilen, sondern teilweise auch Erwachsene und Kinder. Falls noch weitere Zimmer existierten, wurden diese an sogenannte Schlafgänger vermietet (vgl. Rosenbaum 1982, S. 419f.).4

„In der dadurch unvermeidlichen Offenheit und Unmittelbarkeit aller Lebensvollzüge bekamen selbst Kinderaugen alles mit: Krankheit und Sterben, Zärtlichkeiten, Geschlechtsverkehr, Geburten, Stillen, den betrunkenen Vater, die haltlose Mutter, die Probleme mit rohen Schlafburschen, Prügelszenen, Gewalt, brutale Sexualität, Obszönität. Die Not senkte die Tabu- und Schamschwellen.“ (Berg 1991a, S. 107)

Zusätzlich waren die Wohnungen meist in einem schlechten Zustand. Durch unzureichende Lüftungsmöglichkeiten, schattige Hinterhofwohnungen und schlechte Bauweisen war die Luft in den Räumlichkeiten feucht und von schlechter Qualität. Generell waren die Zustände, gerade auch der Sanitäranlagen, unhygienisch (vgl. Rosenbaum 1982, S. 419). Häufig ließ sich ein Zusammenhang zwischen Wohnverhältnissen und Krankheiten wie Tuberkulose, Cholera und Typhus ziehen. Aufgrund der fehlenden Zimmer konnte ein krankes Familienmitglied nicht isoliert werden, wodurch alle anderen Mitglieder gefährdet waren (vgl. Seyfarth-Stubenrauch, S. 119; Flecken 1981, S. 57). Viele Kinder mussten frühe, oft angstbesetzte sexuelle Erfahrungen, oft im Zusammenhang mit den eben erwähnten Schlafgängern, machen (vgl. Seyfarth-Stubenrauch 1985, S. 128). Aber auch das wegen Platzmangel elterliche Sexualverhalten mussten die Kinder ertragen (vgl. Flecken 1981, S. 61f.). Die Einrichtung beschränkte sich aufgrund der Enge und der geringen finanziellen Mittel lediglich auf das Nötigste (vgl. ebd., S. 55). Oft wurden die Kinder während der Arbeitszeit der Eltern eingeschlossen und waren dabei unbeaufsichtigt, was die Unfallgefahr steigerte (vgl. Seyfarth-Stubenrauch 1985, S. 126f.). Eine weitere einschneidende Erfahrung war das häufige Umziehen, was meist aus ökonomischen Gründen notwendig war und den Aufbau von Heim- und Familiengefühl unmöglich machte (vgl. ebd., S. 129f.). Nicht selten mussten Kinder den Tod eines Elternteils oder gar von beiden erfahren. Waisen wurden zudem noch für Arbeit verkauft (vgl. ebd., S. 131f.).

[...]


1 Wenn im Folgenden von Kindern und Jugendlichen gesprochen wird, sind Heranwachsende im Allgemeinen gemeint, da die Vorstellung von Kindheit um 1900 eine scharfe Trennlinie nicht zulässt

2 Mentalitäten sind „historisch und sozial determinierte Dispositionen des Bewußtseins …, die das Spektrum der in einer gegebenen Situation möglichen Auffassungs- und Handlungsweisen einschränken“ (Sellin 1987, zit. n. Gestrich 1999, S. 30).

3 „Als ,Klasse‘ […] verstehen wir im Sinne M. Webers eine Personengruppe, deren gemeinsame Lebenschancen durch Besitzverhältnisse und Erwerbsmöglichkeiten ursächlich bedingt sind“ (ebd., S. 20).

4 Schlafgänger sind ledige Arbeiter mit Tag- oder Nachtschicht, die lediglich zur Schlafenszeit Anrecht auf den Aufenthalt in der Wohnung hatten (vgl. Weber-Kellermann 1991, S. 111; Rosenbaum 1982, S. 421).

Ende der Leseprobe aus 50 Seiten

Details

Titel
Erfahrungsmodi von Arbeiterkindern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,7
Autor
Jahr
2020
Seiten
50
Katalognummer
V593581
ISBN (eBook)
9783346191281
ISBN (Buch)
9783346191298
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Arbeiterkinder, ArbeiterInnenkultur, Arbeiterklasse, Industrialisierung, Industriearbeit, 1900, Kaiserreich, Wilhelminismus, Wilhelminisches Reich, Arbeiterkindheit, Arbeiterlebenserinnerungen, Biografie, Lebenserinnerungen, Erfahrungen, Erfahrungsmodi, Sozialisation, Arbeiterkultur, besondere Erfahrungsmodi, einfache Erfahrungsmodi, besondere Erfahrungen, einfache Erfahrungen, Industrieschule, Seyfarth-Stubenrauch, Klika, Cloer, Hurrelmann, Produktive Realitätsverarbeitung, Persönlichkeitsentwicklung, Verödung, stabile Persönlichkeit, Adelheid Popp
Arbeit zitieren
Lara Gerdes (Autor:in), 2020, Erfahrungsmodi von Arbeiterkindern im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/593581

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