Wildnis in Natur und Landschaft. Naturethische Argumente für und gegen den Erhalt der Wildnis


Fachbuch, 2021

82 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Ziele der Arbeit
1.3 Aufbau der Arbeit

2 Wildnis: Einst Bedrohung, nun Sehnsucht – eine Kulturgeschichte der Natur

3 Wildnistypen
3.1 Berge
3.2 Dschungel
3.3 (Ur-)Wald

4 Argumentationsraum der Umweltethik
4.1 Instrumentelle anthropozentrische Werte
4.2 Eudaimonistische anthropozentrische Werte
4.3 Theozentrische Werte
4.4 Physiozentrische Werte

5 Argumente gegen Wildnis
5.1 Instrumentelle anthropozentrische Werte
5.2 Eudaimonistische anthropozentrische Werte
5.3 Theozentrische Werte
5.4 Physiozentrische Werte

6 Argumente für Wildnis
6.1 Instrumentelle anthropozentrische Werte
6.2 Eudaimonistische anthropozentrische Werte
6.3 Theozentrische Werte
6.4 Physiozentrische Werte

7 Schlussbetrachtung

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 Grafische Unterscheidung zwischen Anthropozentrik und Physiozentrik

Abbildung 2 Werte der Natur

Abbildung 3 Grundtypen der Umweltethik

Abbildung 4 Grafische Einordnung der geläufigen Umweltethik-Konzeptionen

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich mich bei all jenen bedanken, die mich im Rahmen dieser Bachelorthesis unterstützt haben.

Ein besonderer Dank gilt meinen Betreuern Prof. Klaus Werk und PD Dr. Thomas Kirchhoff, die mir ermöglicht haben ein Thema zu bearbeiten, das im Studiengang Landschaftsarchitektur durchaus nicht üblich ist, meinen persönlichen Interessen aber sehr nahekommt. Darüber hinaus bedanke ich mich für ihre fachliche und persönliche Unterstützung, die mir während der gesamten Bearbeitungszeit sehr geholfen hat.

Außerdem möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken, die mir durch ihre Hilfe mein Studium ermöglicht haben.

Danken möchte ich auch meinem Bruder und meinen Freunden, die mich während meiner Arbeit stets moralisch unterstützt haben.

1 Einleitung

Besonders in heutigen Naturschutzdebatten taucht der Begriff Wildnis immer wieder auf. Während sie von der einen Seite bewundert wird und als unentbehrlich gilt, blickt die andere Seite ihr mit Abneigung und Misstrauen entgegen. Wildnis polarisiert und führt insbesondere im Bevölkerungsdichten Raum Mitteleuropas zu Konflikten und Auseinandersetzungen. Aber was genau ist eigentlich Wildnis und wieso gehen die Meinungen und Sichtweisen hierzu in der Bevölkerung so weit auseinander?

Der Begriff Wildnis ist ein sehr undurchsichtiger, der im Alltag von den Begriffen Natur und Landschaft kaum abgrenzbar und von unterschiedlichen, kulturell geprägten Bedeutungen beeinflusst ist (Brämer 2012, Kirchhoff/Trepl 2009: 14 f.). Da diese mit der Kulturgeschichte verbundenen Wahrnehmungsmuster unsere Sichtweisen mit der Zeit unterbewusst beeinflusst haben, ist eine ausschließlich subjektive Perspektive zu Wildnis gegenwärtig kaum noch möglich (Kirchhoff/Vicenzotti 2017: 314). Dennoch wird Wildnis heutzutage meist als Landschaftsformation angesehen, die vom Menschen weitgehend unbeeinflusst ist (Brämer 2012). Für die einen ist Wildnis der letzte Ort, der vom Raubbau der Natur noch nicht betroffen ist. Sozusagen eine Insel im Zeitalter der industriellen Moderne, auf die wir vor unserem eigenen Konsumüberschuss fliehen können und die sich von Kulturlandschaften, Städten usw. abgrenzt (Cronon 1995: 69). Andere sehen in Wildnis einen Ort der Bedrohung kultureller Ordnung, der sich wild, unkontrolliert und entgegen gesellschaftlicher Regeln und Ziele verhält (Kirchhoff/Trepl 2009: 22 f., 43). Nach Kirchhoff (2013) ist eine Gegend demzufolge „immer dann eine Wildnis, wenn wir ihr – bewusst oder unbewusst – die symbolische Bedeutung einer Gegenwelt zur kulturellen bzw. zivilisatorischen Ordnung zuweisen und dabei ihre Unbeherrschtheit betonen. Nicht die empirische Tatsache, dass ein Gebiet mehr oder weniger frei von Einflüssen des Menschen ist oder erscheint, macht es zu einer Wildnis, sondern dass es als Gegenwelt zur kulturellen bzw. zivilisatorischen Ordnung empfunden wird. Dafür genügt es, dass das Gebiet in einer für den Betrachter relevanten Hinsicht nicht vom Menschen gemacht oder beherrscht ist, oder zumindest erscheint“ (Kirchhoff 2013).

Ähnlich der Begriffsbestimmung von Kirchhoff wird Wildnis vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) als eine unbeeinflusste Naturlandschaft bezeichnet, die sich von Kulturlandschaften, Städten usw. abgrenzt. Wildnis ist hiernach ein „ausreichend großes, (weitgehend) unzerschnittenes, nutzungsfreies Gebiet, das dazu dient, einen vom Menschen unbeeinflussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten“ (Finck et al. 2013: 342 f.). Vergleichbar legt sich die IUCN fest, die für die Ausweisung von Schutzgebieten eine international geltende Definition aufgestellt hat: Ein Wildnisgebiet ist nach der IUCN Kategorie 1b folgendermaßen definiert: „Protected areas that are usually large unmodified or slightly modified areas, retaining their natural character and influence without permanent or significant human habitation, which are protected and managed so as to preserve their natural condition“ (IUCN 2017).

Auch wenn die Bedeutung des Begriffs Wildnis durch seinen alltagssprachlichen Gebrauch von dem jeweiligen „Menschbild bzw. Gesellschaftsideal und dem jeweils für diesen charakteristischen Begriff von Freiheit, Vernunft bzw. Ordnung“ (Kirchhoff 2013) abhängt, ist doch besonders für die Ausweisung von Wildnisgebieten eine Definition gemäß der IUCN notwendig. Dennoch lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Sichtweisen von wilder Natur eine klare Definition des Begriffs nur schwer herstellen. So wird Wildnis durch eben diese unterschiedlichen Naturauffassungen nicht als ein naturwissenschaftlicher Begriff verstanden, sondern als ein moralisch-praktischer (Kirchhoff/Trepl 2009: 18).

1.1 Problemstellung

Addiert man die Kernzonen der Nationalparks und Biosphärenreservate in Deutschland, kommt man auf weniger als 0,5 % der bundesweiten Fläche. Das ist der Anteil, der noch als Wildnis, in Form von unbeeinflusster Naturlandschaft, vorzufinden ist. Gleichzeitig wird mehr als die Hälfte der Gesamtfläche Deutschlands landwirtschaftlich genutzt. Ebenfalls wird ein sehr großer Teil der bundesweiten Waldfläche, die 30 % der Gesamtfläche Deutschlands entsprechen, in wirtschatflichen Sinne flächenmäßig beansprucht (Umweltbundesamt 2017, Piechocki 2010: 172).

In einem kulturlandschaftlich so dicht besiedelten Land stellt sich insofern die Frage, ob Wildnis, bei einem bereits jetzt so verschwindend geringen Anteil, für unsere Bevölkerung überhaupt von Bedeutung ist oder ob diese Zahl ein Appell an uns ist, die wilde Natur in erhöhterem Maße sich selbst zu überlassen? Ohne Zweifel führt eine Auseinandersetzung mit diesem Thema zu Meinungsverschiedenheiten und Akzeptanzproblemen in der Bevölkerung. Aus diesem Grund ist eine intensive Auseinandersetzung mit den Gründen und Argumenten, die das jeweilige Für und Wider repräsentieren unvermeidlich. Für überzeugte Naturschützer/innen sind die Gründe, die in diesem Fall zugunsten der Wildnis sprechen, beispielsweise mehr oder weniger selbstverständlich und bedürfen keiner weiteren Argu­mentation. Nun steht aber außer Frage, dass nicht alle Menschen diese Überzeugungen teilen und dementsprechend die Motivationsquellen für und gegen Wildnis, aus der entsprechenden Sichtweise, folglich sehr ausgeprägt oder wenig bis gar nicht vorhanden sind (Ott 2010: 8).

Die Grundfrage der Umweltethik (synonym: Naturethik) bildet in dieser Arbeit die Basis zu einer Auseinandersetzung mit dieser Problematik, die für eine Begründung der Argumente des Für & Wider Wildnis ausschlaggebend ist. Ob der Natur als Wildnis hierbei ein eigener moralischer Wert zugesprochen wird, oder ob sie nur für den Menschen durch eine traditionell anthropozentrische Sichtweise Berücksichtigung findet, bezieht sich ebenfalls auf die moralischen Fragen der Umweltethik. Der normativ richtige und moralisch verantwortbare Umgang des Menschen mit der belebten und unbelebten Umwelt gehört somit zum Kern der Arbeit.

1.2 Ziele der Arbeit

Ziel der Arbeit ist es, dem Leser einen umfassenden und interdisziplinären Einblick in das Für und Wider zum Thema Wildnis zu vermitteln. Hierbei soll unabhängig von der subjektiven Betrachtung das Pro und das Contra gleichermaßen verinnerlicht werden, um bezüglich des Kenntnisstandes in Konfliktsituationen eventuelle Akzeptanzprobleme anderer berücksichtigen und lösen zu können. Hierbei wird durch eine Analyse des Begriffs Wildnis im Laufe der kulturgeschichtlichen Wahrnehmung bis in die heutige Zeit hinein veranschaulicht, inwieweit unser heutiges Weltbild von diesen kulturellen Empfindungen beeinflusst ist.

1.3 Aufbau der Arbeit

Zu Beginn der Arbeit wird die Kulturgeschichte der Wildnis analysiert. Darauf aufbauend werden die unterschiedlichen Sichtweisen und kulturellen Bedeutungen im Laufe der Jahrhunderte aufgezeigt. Hierbei wird durch eine Analyse des Begriffs veranschaulicht, inwieweit unser heutiges Weltbild von diesen kulturellen Empfindungen beeinflusst ist und wie Wildnis zu ihrer aktuellen Bedeutung gelangt ist. Um die Bedeutung von Wildnis in unserer heutigen Gesellschaft nachvollziehbar zu veranschaulichen und die phänomenologischen Unterschiede aufzuzeigen, werden anschließend verschiedene Wildnistypen in ihrer Erscheinung und Charakteristika untersucht.

Die Argumente für und gegen Wildnis, die den Kern der Arbeit in den Kapiteln 5 und 6 darstellen, beziehen sich auf den vorher dargelegten Argumentationsraum der Umweltethik (Kapitel 4). Hierin werden die unterschiedlichen Werte der Natur, gemäß dieses Argumentationsraumes, in einer Unterteilung nach instrumentellen, moralischen, eudaimonistischen und theozentrischen Werten analysiert und für die Argumentation zu Grunde gelegt. Aufbauend auf diese Werte werden die Argumente des Pro & Contra entsprechend eingeteilt und in den darauffolgenden Kapiteln dargelegt.

2 Wildnis: Einst Bedrohung, nun Sehnsucht – eine Kulturgeschichte der Natur

Im Jahre 1846 wurde im Bayerischen Wald der letzte Wolf geschossen (Tourismusverband Ostbayern 2017). Auch in Rheinland-Pfalz und im damaligen Württemberg verschwanden die Wölfe im Laufe der nächsten Jahrzehnte, womit ein skrupelloser Ausrottungsfeldzug im 18. und 19. Jahrhundert sein Ende nahm. Dessen Hintergrund war ein abgrundtiefer Hass, der sich gegen Wölfe richtete. Der Wolf wurde als Symbol des Bösen angesehen und wurde mit zwangsläufigem Unheil in Verbindung gebracht. Wölfe verkörperten die dunklen Seiten des Menschen und wurden als blutrünstige Bestien abgestempelt, denen man Gefräßigkeit und Menschenmorde anhängte (Piechocki 2010: 163). Der Wolf wurde als Sündenbock und als Verkörperung der lebensbedrohlichen Wildnis angesehen. Jahrhundertelang galt die Wildnis als ein Ort des Bösen und der Wolf oder auch andere Großprädatoren wie Bären oder Luchse galten als gefährliche Auswüchse dieses beängstigenden Ortes. Wildnis war die symbolische Gegenwelt zur Zivilisation (Haß et al. 2012: 110 f.), die es zu kultivieren und deren gefährliche wilde Tiere es auszurotten galt. Es fand ein regelrechter Kampf gegen die Wildnis statt, womit sich die mittelalterliche negative Sichtweise wilder Natur noch bis in die Neuzeit fortsetzte (Piechocki 2010: 164 f.).

Wie aber kam es dazu, dass die Menschen im Mittelalter und der frühen Neuzeit freiwillig keinen Fuß in die Wildnis gesetzt haben, aber wir uns heute voller Sehnsucht nach Natur in wilde Abenteuer stürzen (Piechocki 2010: 163 f., Groh/Groh 1991: 92-94)?

Im folgenden Kapitel wird die europäische Kulturgeschichte der Natur als Wildnis der letzten 500 Jahre analysiert und auf die Sichtweisen in der Bevölkerung, von einer Gefahr bringenden Wildnis zu einer Sehnsucht nach Wildnis eingegangen (Hass et al. 2012: 107 f.).

Bis in die jetzige Zeit hinein sind im Laufe der Geschichte immer wieder neue Ideen und Sichtweisen zu Wildnis aufgekommen, die ihre Bedeutung in mancher Hinsicht bis heute behalten haben (Kangler/Vicenzotti 2007: 285).

In archaischen Zeiten wurde Wildnis in der Gesellschaft als ein Gegensatz zur moralisch kulturellen Ordnung angesehen. Wildnis galt als ein Ort des Schreckens, in dem beängstigende Kreaturen ihr Unheil trieben und anständige, zivilisierte Menschen sich nicht niederlassen konnten (Hass et al. 2012: 108, Piechocki 2010: 164). Wildnis war für die Menschen ein unbekannter Raum, von dem Bedrohungen ausgingen. Jenseits von Recht und Ordnung herrschte hier Gesetzlosigkeit und nur Menschen, die der Kultur nicht angehörten, wie Diebe, Geächtete, Verrückte und Hexen gehörten hierher. Wildnis stand symbolisch für einen Ort des Bösen (Kirchhoff/Trepl 2009: 44).

Wildnis konnte aber auch als ein ferner Sitz des Heiligen und als Gegenüber zum Alltäglichen angesehen werden. Durch ein Heraustreten aus der Zivilisation (Feste, Ekstasen, Initiationsriten) wurden die wilden Triebe einer rituellen Ordnung ausgelebt und man konnte mit der eigenen, wilden Natur eins werden (Kangler/Vicenzotti 2007: 285).

Auch zu einem Ort der Selbstbestätigung und des heldenhaften Kampfes kann Wildnis werden (Hass et al. 2012: 113, Kangler/Vicenzotti 2007: 286): Ein Auszug aus der menschlichen Alltagswirklichkeit in die Wildnis kann als eine rituelle Nachahmung des Kampfes der Götter gegen mythische Widersacher, z.B. wilde Tiere, Ungeheuer oder Feinde interpretiert werden (Hass et al. 2012: 108). In einer anderen Begegnung wilder Natur vollzieht Siegfried der Drachentöter beispielsweise durch das Töten des wilden Drachens einen tragisch-heroischen Kampf in der Wildnis. Ein Auszug in die Wildnis kann somit zu einer körperlichen Bewährung und einer symbolischen Selbstvergewisserung werden (Kangler/Vicenzotti 2007: 286).

Wildnis wurde nun also nicht mehr nur als „Gegenwelt“ oder „das schreckliche Unbekannte“, sondern auch als Ort der Selbsterfahrung oder Bewährung des Glaubens bezeichnet (Kangler 2009: 266, Hass et al. 2012: 111 f.). Viele dieser Assoziationen wurden auch durch die biblische Erzählung verstärkt, so beispielsweise in den synoptischen Evangelien des Neuen Testaments anhand der Versuchung Jesu (Cronon 1995: 71). Darin wird Jesus vom Geist in die Wüste geführt, in der er mit wilden Tieren lebt und vierzig Tage zu fasten hat. Da tritt der Teufel heran, ihn zu versuchen. Er versucht ihm auszureden, dass er der Sohn Gottes ist und bietet ihm alle Reiche der Welt, wenn er niederfällt und ihn anbetet. Jesus aber besteht den Test, widersteht der Versuchung und kommt mit der Macht des Heiligen Geistes aus der Wildnis zurück (Deutsche Bibelgesellschaft 2017, Cronon 1995: 71). Hiernach kann Wildnis also auch ein Ort der Probe oder Findung des eigenen Selbst sein, in dem gegen Dämonen, Bestien oder barbarische Bedrohungen gekämpft wird (Kirchhoff/Trepl 2009: 44-46). Solche Konfrontationen, mit den in der Wildnis lauernden Bedrohungen hatten eine stabilisierende Funktion für die bestehende gesellschaftliche Ordnung. Eine „Erfahrung des Draußen“ war aber auch nur demjenigen möglich, der es in Kauf nahm in der Wildnis seine Identität zu verlieren, der die alltägliche Welt verlässt und den rituellen Übergang von der einen Lebensstufe zur nächsten durch Tod und Wiedergeburt vollzieht (Haß et al. 2012: 108 f.). Um also innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung leben zu können, musste man draußen in der Wildnis gewesen sein. Man konnte das Drinnen nur wahrnehmen, wenn man draußen gewesen ist (Duerr 1985: 76, Haß et al. 2012: 109).

Im mittelalterlichen Christentum begann sich das Göttliche vom Heiligen abzuspalten. Wildnis wurde zur „bösen Gegenwelt“. Der nicht kultivierten Natur, z.B. Wälder, Sümpfe und Moore, stand der harmlose, vertraute und heimische Bereich von Stadt und Dorf gegenüber. Wildnis war entgegen der archaischen Kulturen nicht mehr die andere Seite der kulturellen Ordnung, sondern wurde zu einer inneren Gefahr für die christliche Ordnung (Haß et al. 2012: 110 f.). Die Hauptbedeutung der wilden Natur lag also vor der Zeit der Aufklärung darin, dass sie gefährlich, unheimlich und schrecklich war. Wildnis wurde zwar bereits im Frühmittelalter intensiv genutzt, für z.B. weidendes Vieh, konnte aber trotz ihrer Nutzung durch ihre kulturelle Bedeutung Wildnis bleiben (Trepl 2012: 99). Mit der Aufklärung änderte sich diese Auffassung von Wildnis. Die vorrangige Aufgabe des Menschen angesichts wilder Natur lag nun darin, sie zu bekämpfen, zu zähmen und zu kultivieren, damit sie den Menschen notwendige Lebensgrundlagen und Ressourcen wie Brennholz, Jagdbeute oder Viehfutter liefert (Kangler/Vicenzotti 2007: 285 f., Trepl 2012: 99 f.). Unkultivierbare Gebiete, wie z.B. riesige und bedrohlich wirkende Berglandschaften, wurden als besonders unerwünscht eingestuft. Mitunter wurden die Berge sogar als gigantische Auswüchse der Hölle bezeichnet, die nichts weiter als riesige Schmutz- und Abfallhaufen waren (Groh/Groh 1991: 93). Zum damaligen Zeitpunkt war noch fast die gesamte Landesfläche des heutigen Deutschland von Wald bedeckt. Prädatoren wie Braunbär, Wolf und Luchs standen an der Spitze der Nahrungskette. Eine massive Zunahme der Rodungen durch den Menschen sorgte allerdings bald für einen gewaltigen Verlust ihrer Lebensräume (Piechocki 2010: 163-166). Große Raubtiere wie der Wolf verkörperten auch zu dieser Zeit noch den gefährlichen und bedrohlichen Charakter der Wildnis (Kangler/Vicenzotti 2007: 285). Um eine rasche Kultivierung der unheilbringenden Wildnis zu gewährleisten, wurde neben dem Wolf auch gezielt Jagd auf andere große Raubtiere gemacht, die somit, hinzukommend zum Verlust ihres Lebensraumes durch Rodungen der Wälder, in ihren Beständen dramatisch zurückgingen. Besonders der Braunbär, der vor tausend Jahren noch in nahezu allen Wäldern Mitteleuropas lebte, verschwand im Laufe der Zeit fast vollständig. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Braunbär, wie auch der Wolf weitgehend ausgerottet (Piechocki 2010: 164 f.). Aber nicht nur Wälder wurden gerodet, auch Flüsse wurden begradigt und Sümpfe trockengelegt. Ein Anspruch auf Naturbeherrschung setzte sich durch, der als „Eroberungen von der Barbarei“ (Friedrich der Große, zit. n. Piechocki 2010: 165) bezeichnet wurde. An Orten, an denen die wilde Natur nicht beherrscht werden konnte, wurde das Möglichste getan, um sich vor ihr zu schützen. An den Meeren wurden Deiche angelegt, in den Bergen Bannwälder zum Schutz vor Lawinen (Piechocki 2010: 165). Durch die zunehmende Beherrschung der Natur begann sich auch die drastische Trennung zwischen Wildnis und Zivilisation zu relativieren. Wildnis war zwar noch immer der Gegenbegriff zur Zivilisation, aber die Furcht wurde immer mehr durch den Drang nach Kultivierung ersetzt. Wildnis war ein Ort, der aufgeklärte Landnutzung erforderte und vernünftig zu bewirtschaften war (Trommer 1992: 29 f.). Nach Joachim Ritter (1989) musste Wildnis von der „Macht der Natur“ befreit werden und die Städte mussten die Herrschaft über die Natur gewinnen, damit der Wildnis das Bedrohliche ausgetrieben werden konnte; unberührte Natur in vom Menschen beherrschte und dominierte Natur zu verwandeln gehörte zur Bedingung der menschlichen Freiheit.

Zugleich wurde es in der Aufklärung aber auch erstmals möglich, Wildnis als Ort der Freiheit anzusehen. An ihr ließen sich die neuen, aufklärerischen Ideen anhand des gesellschaftlichen Fortschritts aufzeigen. So kann z.B. Robinson Crusoe – gemäß dem 1719 erschienene Roman - trotz des unerwünschten Eingeschlossenseins auf einer Insel, gegensätzlich zu einem Ort der Idylle, die Wildnis aufgrund seiner Freiheit von der inneren und äußeren Natur überwinden. Er ist als aufgeklärter Mensch in der Lage sich seines Verstandes zu bedienen und als autonomes Subjekt die Wildnis zu kultivieren (Kangler/Vicenzotti 2007: 287). Mit der Aufklärung ist Wildnis kein ausschließlich unbekannter Raum mehr, sondern wird zu einer gesellschaftlich verfügbaren Natur, die kultiviert und wirtschaftlich genutzt werden soll (Trommer 1992: 29-31).

Durch eine solche Zähmung der Wildnis sowie ihre zunehmende Kultivierung wird Erhabenheit als ein ästhetisches Urteil über Natur möglich. Durch eine ästhetische Betrachtung der Wildnis erhält diese eine vollkommen neue Bedeutung (Kangler/Vicenzotti 2007: 288 f.). Durch die Vorstellung der Erhabenheit begann sich eine neue, ästhetische Wertschätzung der wilden Natur durchzusetzen, von der sich der Mensch, z.B. durch Erstaunen und Ehrfurcht, emotional überwältigen lässt, ohne hierbei aber von ihr im Realen überwältigt zu sein (Piechocki 2010: 166). Wildnis bestätigt hier letztendlich die Autonomie des menschlichen Subjekts, da sie im Erhabenen lediglich Mittel zum Zweck ist. (Kangler/Vicenzotti 2007: 286-288). Diese im 18. Jahrhundert entstehende Sicht auf die Natur war ausschlaggebend für den im 19. Jahrhundert erstmals geforderten Schutz von Wildnis (Piechocki 2010: 166). Hier wurde das Verständnis der Wildnis noch weiterentwickelt. Wildnis wurde von einem ehemals bedrohlichen, gefährlichen und wilden Ort zu einem harmonischen und konkret existierenden Ort, der der Großstadt entgegengesetzt wurde und als Erholung vom städtischen Leben eine wichtige Stellung einnahm (Kangler/Vicenzotti 2007: 289 f.).

3 Wildnistypen

Um die Sehnsucht nach Wildnis in der aktuellen Freizeitkultur verstehen zu können, werden im Folgenden bestimmte Wildnistypen analysiert, anhand derer sich die Bedeutungen und Charakteristika von Wildnis an realen Gegenden einordnen lässt. Hierbei sind einerseits bestimmte physische Eigenschaften der Gebiete dafür ausschlaggebend, dass diese als Wildnis aufgefasst werden, zum anderen sind diese durch kulturelle Deutungsmuster vorstrukturiert und somit ein Stück weit von intersubjektiven Betrachtungsweisen beeinflusst. Mittels der dargestellten Wildnistypen Berge, Dschungel und Urwald wird dies verdeutlicht (Haß et al. 2012: 188).

3.1 Berge

Anhand des Wildnistyps Berge lassen sich sehr gut die unterschiedlichen Auffassungen von Wildnis im Laufe der Kulturgeschichte erkennen. Berge, die einst Ort des Schreckens waren, haben sich, besonders durch Bergsteigen, Klettern, Trekking und Skifahren zu einem attraktiven Reise- und Ausflugsziel entwickelt. Bis in die frühe Neuzeit hinein wurden Berge noch als Ort des Schreckens bezeichnet und seit Luther behauptete die Natur sei durch den Sündenfall mit ins Verderben gezogen worden, verbreitete sich eine noch pessimistischere Sichtweise zu Wildnis. Hohe und raue Berge seien „nichts als Warzen auf der Oberfläche der Erde“ (Groh/Groh 1991: 113). Wildnis aus dieser Sichtweise konnte nicht als schön wahrgenommen werden (Kangler/Vicenzotti 2007: 291, Haß et al. 2012: 118 f.)

Besonders beigetragen zu einem Wandel der Wahrnehmungen hat die, um die Mitte des 17. Jahrhunderts entstandene, Physikotheologie. Entgegen der Auffassung, nach der die Natur durch den Sündenfall ins Verderben gezogen wurde, entstand hier die Sichtweise eines zweckmäßigen Schöpfungsplans Gottes (Kangler/Vicenzotti 2007: 291). Hiernach ergibt sich eine Vorstellung von einem optimal funktionierenden Zusammenhang der gesamten Natur. Auch die Wildnis, als unkultivierte und unzugängliche Natur, erhält nun Bewunderung. Um einem Hochgebirge eine solche Bewunderung zuzusprechen, reichte aber die alleinige Zweckmäßigkeit nicht aus. Eine ästhetische Auffassung von Natur entstand erst durch „die Vorstellungen eines unendlichen, allgegenwärtigen Schöpfergottes“ (Groh/Groh 1991: 122), aus der sich eine Identifizierung der Prädikate Gottes mit denen des Raumes entwickelte. Dies war der Ursprung des Naturerhabenen. Die Erhabenheit bildet die zweite zentrale Kategorie der Ästhetik neben dem Schönen (Kangler/Vicenzotti 2007: 291). Im Laufe des 18. Jahrhunderts findet sich, neben einer Bewunderung der Kulturlandschaften, auch ein Gefallen an der bedrückenden und fürchterlichen Wildnis. Es entsteht eine Bewegung, nach der besonders die bisher gemiedene wilde Natur an Bedeutung und Zuneigung erlangt. Noch im gleichen Jahrhundert werden die Alpen touristisch erschlossen. Die gefährliche und schaurige Wildnis beginnt sich zu einer erhabenen Natur zu entwickeln (Kangler/Vicenzotti 2007: 291 f.). Ein Gefühl von Freiheit und Erhabenheit vermittelt der Anblick von Bergen auch heute noch. Besonders die Hochlagen der Gebirge werden heute oft als eine der letzten Wildnisse betrachtet, wodurch ein spezieller Reiz entsteht diese Gebiete aufzusuchen und bestimmte Freizeitaktivitäten dort auszuüben. Eine solche Sehnsucht und Hinneigung zu der Bergwildnis entsteht durch die karge, weitgehend unberührte und gleichzeitig gefährliche und lebensbedrohliche Landschaft. Das Zusammenspiel von Schönheit und Grauen bei der Betrachtung der gewaltigen Berggipfel und tiefen Abgründe zeigen die Besonderheiten der Natur als Bergwelt auf, für die die Thematisierung der Bergwildnis entscheidend ist. Extreme Wetterereignisse, wie Gewitter oder Sturm sowie Gletscher und Lawinen sind selbst für gut ausgerüstete eine ernstzunehmende Gefahr (Haß et al. 2012: 118 f.).

Am Beispiel des Extrembergsteigens lässt sich erklären, warum sich Menschen bewusst diesen Gefahren aussetzen: In der Bergwildnis ist man auf sich allein gestellt und muss dem Berg als ehrwürdiger Gegner trotzen. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Menschen, die die lebensbedrohliche Natur durch die Besteigung eines Gipfels bezwangen leidenschaftlich gefeiert. Auch wenn die höchsten Gipfel und schwierigsten Routen inzwischen durchgestiegen sind, so handelt es sich doch auch heute noch um eine moderne Variante eines individuellen Kampfes gegen die Natur: Der Bergsteiger gegen den personifizierten Berg. (Haß et al.: 119).

Da durch die zunehmende Technisierung und die dadurch hervorgebrachte moderne Bergausrüstung der Kampf gegen den Berg und „gegen sich selbst“ (Walter Bonatti) für einige Extremsportler einen nicht mehr ausreichenden Reiz verkörperte, begann sich ein gewisser Trend zu entwickeln, bei dem der Verzicht auf technische Mittel im Vordergrund stand (Haß et al. 2012: 120 f.). Einer der Protagonisten in der Kletterszene, der diese Einstellung besonders verkörpert, ist Alex Honnold. Honnold ist Profibergsteiger und Extremkletterer und bekannt für seine „Free-Solo-Begehungen“. Free Solo ist die wahrscheinlich schwierigste und spektakulärste Art einer Begehung. Auf den Kletterer wirken hierbei extreme psychische Belastungen ein, da ohne jegliche Art von Absicherung geklettert wird. Ein Sturz bedeutet hier in den meisten Fällen den Tod (CHALKR 2017, TheAtlantic 2017). Warum also begeben sich Menschen in eine so extrem offensichtlich lebens­bedrohliche Situation? Honnold beschreibt weder seine internationale Anerkennung noch seinen hierdurch erlangten Wohlstand als Motivation, sondern durch das Gefühl „alone on the wall“ zu sein eine vollkommene Freiheit der Gedanken zu empfinden („empty“, „not really thinking“) (TheAtlantic 2017). Er schildert die Möglichkeiten des Absturzes und „of stepping into the void“, aber zieht nie wirklich in Erwägung, dass diese Situation eintreten könnte. Es fällt ihm schwer seine Gedanken während des Kletterns in Worte zu fassen: „It´s hard to untangle the various feelings, but I definitely felt alive “ (TheAtlantic 2017). Für ein solches Gefühl von Lebendigkeit und Ausgesetztheit suchen auch gesicherte Kletterer und Bergsteiger, die sich in weniger gefährliche Situationen begeben, das Gebirge aufgrund der ästhetischen Ferne als Wildnis auf (Haß et al. 2012: 121). Beim Wandern oder Skifahren sind diese Gefahren natürlich weniger spürbar. Allerdings können auch hier extreme Wetterereignisse oder Lawinen bedrohlich werden, wodurch sich auch grundsätzlich der einfache Wanderer darauf einlassen muss, seine Angst in der Wildnis psychisch und physisch zu überwinden. Dahingehend und aufgrund der möglichen Lebensfeindlichkeit und Unberührtheit der Bergwildnis, wird dem Besucher ein Ort geboten, der sich mit Kulturlandschaften nicht vergleichen lässt und nur in ursprünglicher Natur zu finden ist (Kangler/Vicenzotti 2007: 293 f., Haß et al. 2012: 120-122).

3.2 Dschungel

Im Gegensatz zu den Bergen wird der Dschungel wesentlich seltener als Ziel moderner Freizeitaktivitäten genutzt und strahlt auch ein eindeutigeres Gefühl von Angst und einer trügerischen Wildnis aus (Hass et al. 2012: 122, Kangler/Vicenzotti 2007: 294, Hoheisel et al. 2005: 46).

Dschungel wird als unkontrolliert produzierende, vernunftlos und chaotisch wuchernde Natur bezeichnet. Im Dschungel ist der Kampf im Vergleich zum Berg nicht heroisch, sondern schmutzig. Der Dschungel ist kein würdiger, er ist ein feiger, hinterlistiger und unberechenbarer Gegner. Hier kämpft man nicht wie am Berg als Vernunftwesen, sondern kann nur überleben, wenn man sich seiner Instinkte bedient und selbst Teil der Wildnis wird (Hoheisel et al.: 46). Trotz dieser Bedrohlichkeit löst der Dschungel oft ein Gefühl der Faszination aus, durch seine tropischen Regenwälder und wilden Tiere, mit denen er üblicherweise assoziiert wird. Besonders durch seine deutlich sichtbare Fruchtbarkeit und den Vorstellungen von ursprünglicher, fruchtbarer Natur kann er auch mit der Vorstellung vom Paradies verbunden werden. Anhand dieser Vorstellung eines Paradieses und durch die Bedrohung der Zivilisation, z.B. Abholzung des Regenwaldes, wird aus der gefahrvoll wirkenden Wildnis ein selbst bedrohter Ort (Hass et al. 2012: 123, Hoheisel et al. 2005: 46). Vorstellungen der wuchernden und bedrohlich wirkenden Natur sind bei einem Aufenthalt in dschungelartiger Natur allerdings noch immer vorhanden. Allein aufgrund des Vorkommens einer Vielzahl von wilden und gefährlichen Tieren und dem häufig eintretenden Orientierungsverlust. Auf der anderen Seite steht die Faszination des Paradieses, mit seiner schier unendlichen Fülle des Lebens (Hass et al. 2012: 123).

Ein friedliches und erholsames Leben findet man im Dschungel aber gewiss nicht. Vielmehr gelten hier die Gesetze der „intakten Wildnis“, um es mit den Worten des Survival-Experten Rüdiger Nehberg zu beschreiben (Nehberg 1998: 115). Nehberg formuliert seine Gedanken über den Dschungel außerdem folgendermaßen: „Natur explosiv. […] Jeder Quadratzentimeter beherrscht von einem anderen Lebewesen. […] Besucher Mensch –, Krone der Schöpfung? Hier schrumpft er zum kleinen Mosaikstein im gigantischen Naturgefüge. […] Diese Ballung von Leben und Gefahr, dieses Fressen und Gefressenwerden, dieser ständig sichtbare Kampf ums Dasein hat mich vom ersten Moment in den Bann geschlagen. Alle sind in den Kampf einbezogen. Keiner kann sich ihm entziehen.“ (Nehberg 2002: 179). Hier wird die Faszination Nehbergs von der Komplexität des Lebens im Dschungel klar deutlich, insbesondere von dem ständigen Kampf ums Überleben (Hoheisel et al. 2005: 47). Durch eine solch intensive sinnliche Erfahrung ist auch eine Erfahrung des eigenen Selbst und besonders des eigenen Körpers möglich. In der Gegenwart des Dschungels wird vom Körper eine ständige Alarmbereitschaft erfordert und der Dschungel wird somit zum Ort der Förderung des Selbsterhaltungstriebs und zwar nicht nur durch eine bloße Ästhetik der Natur, sondern durch ein unmittelbares Erleben (Hass et al. 2012: 124). Ein wesentlicher Aspekt, der die Faszination des Dschungels ausmacht, ist insofern der allgegenwärtige Kampf aller Lebewesen. Besonders die Art und Weise, in der sie sich gegenseitig überwältigen und dass aus allem Toten unmittelbar neues Leben entsteht. Vor allem aber die Tatsache, dass es den Tod geben muss, damit Leben überhaupt möglich ist (Hoheisel et al. 2005: 47). Aber kann sich auch der Mensch im Dschungel als Naturwesen empfinden? Nehberg sieht sich in seinen Schriften als Teil der Natur, zum einen durch seine Teilhabe an der paradiesischen Natur und zum anderen durch sein „Verwickelt-Sein“ in den Kampf ums Überleben. Es wird ihm hier möglich seine instinktiven Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Allerdings gibt es auch Momente, in denen er sich als zivilisierter Mensch fühlt und der Urwald sich wie eine verschworene Gemeinschaft gegen ihn als Eindringling wendet (Hoheisel et al. 2005: 47). Dies zeigt sich auch daran, dass er bei der Betrachtung einer Schlange nicht an Beute denkt, sondern sie ausschließlich als faszinierenden Teil der Natur betrachtet, wenn sie ihm auch Nahrung für 2 Wochen geliefert hätte. Obwohl Nehberg sich im Dschungel als Teil der Natur fühlt, bleibt er noch immer ein zivilisierter Mensch, der moralisch handelt und dies offensichtlich auch möchte. Dennoch kann er sich seines Daseins als ein natürliches Lebewesen mit Instinkten und Trieben bewusstwerden und den Kampf ums Überleben meistern. Wenn Nehberg zu dem würde, was ihn an der Wildnis so fasziniert, könnte er die Natur nicht mehr genießen, da er selbst zu einem Naturwesen geworden wäre (Hoheisel et al. 2005: 48).

Dschungel fasziniert durch die Möglichkeit Dinge auszuleben, Triebe und Instinkte, die in der zivilisierten Welt kaum noch notwendig sind und häufig als unerwünscht angesehen werden, in der Wildnis aber lebensnotwendig sind. Ein Aufenthalt im Dschungel ermöglicht es diese Triebe und Instinkte umzusetzen und hierdurch, ähnlich der Besteigung eines Berggipfels, ein Gefühl von Lebendigkeit zu empfinden (Hass et al. 2012: 126).

3.3 (Ur-)Wald

Der (Ur-)Wald ist nicht gleichzusetzen mit dem Begriff des Dschungels, sondern unterscheidet sich von diesem Wildnistyp grundlegend. Hier wuchert die Natur nicht unkontrolliert und chaotisch. (Ur-)Wald unterscheidet sich, im Gegensatz zu der kargen und unfruchtbaren Erscheinung, aber auch von den Bergen, und stellt somit einen dritten eigenständigen Wildnistyp dar. Allerdings herrschen, ähnlich wie bei den Bergen, zu Wald ambivalente Wildnisvorstellungen. Auch hier wurde die Wildnis aufgewertet von einem Ort des Schreckens zu einem Ort spätromantischer Gefühle. Bis ins 19. Jahrhundert wurde der Wald noch keineswegs als heimselig oder erholsam empfunden. Die Wildnis des Waldes war ein unbekannter Ort, in die man sich nur begab, um den Lebensunterhalt zu erarbeiten. Es wurde auch darüber berichtet, dass selbst die Waldarbeiter hier von Ängsten heimgesucht wurden (Kangler/Vicenzotti 2007: 297). Selbst heute ist das Innere eines Waldes für viele noch immer unheimlich und geheimnisvoll. Ein Ort, an dem man sich leicht verirren kann (Lehmann 2001: 4-9). Wälder wurden also als bedrohliche und gefährliche Orte wahrgenommen, an denen Geister und Dämonen ihr Unwesen trieben. Langfristig halten sich hier nur Räuber, Gesetzlose und wilde Tiere auf, unter denen besonders Wölfe und Luchse als gefährlich angesehen werden. Diese werden als „Herrscher“ der Wildnis bezeichnet und tragen wesentlich zum Charakter des Ortes bei. Andere Tiere hingegen, z.B. der Hirsch, werden als Vertreter der „Freiheit“ angesehen und durch ihre erhabene Gestalt als Idealtyp des Hochwildes bezeichnet. Wald kann also auch ein Ort der Freiheit sein (Elitzer et al. 2005:51-53).

Die kulturellen Muster des heutigen Waldbewusstseins, z.B. die Sehnsucht nach einem Spaziergang im Wald, haben sich in der Romantik entwickelt. Hierzu gehörte die Erfahrung eines lebensgeschichtlichen Verlustes eines Erfahrungsraumes, aber auch eines Teils der natürlichen Umwelt. Wälder wurden zu Seelenlandschaften und Erinnerungswäldern der romantischen Maler und Dichter (Elitzer et al.2005: 51-53, Kangler/Vicenzotti 2007: 299). Ergebnisse empirischer Studien zeigen, dass diese romantischen Bilder unser Bewusstsein zu Wäldern auch aktuell noch beeinflussen. Schon damals entstand ein moralisches Verständnis von Natur und diese galt als ein Modell für glückliche Zukunft. Bis heute wirken sich diese Gegensätze von Natur-Kultur-Gesellschaft aus, die sich z.B. im Kontrast zwischen der Einsamkeit und Stille eines Waldes zu den unübersichtlichen Großstädten wiederspiegeln (Lehmann 2001: 6).

In der Mitte des 19. Jahrhunderts, zur Entstehungszeit des Nationalismus in Deutschland, wurde die Liebe zu den Wäldern zu einer wesentlichen Dimension des Nationalcharakters gezählt (Lehmann 2001: 6 f.). Nach den damaligen Vorstellungen ließ sich der Charakter eines Landes nicht nur durch die Geschichte, sondern auch von dem jeweiligen Land, mitsamt seinem Klima, Boden und den Wäldern ableiten. Wildnis erinnert hiernach an die Anfänge der Kulturentwicklung und verhindert eine Entfremdung zwischen Mensch und Natur. Zudem schützen die Wälder vor äußeren Gefahren, wie dem Hereinbrechen fremder Völker. Wildnis wird als ein notwendiger Kontrast zur modernen Kultur angesehen, der die Nation vor dem Untergang bewahrt (Kangler/Vicenzotti 2007: 299 f.).

Anhand der Analysen verschiedener Wildnistypen wurde gezeigt, dass es die Wildnis nicht gibt, sondern aufgrund differenzierter Bedeutungen und Formen Wildnis immer unterschiedlich sein kann (Haß et al. 2012: 134 f.). Nicht nur beim (Ur-)Wald, sondern auch bei den Wildnistypen Berge und Dschungel sind die ambivalenten Charaktere der Wildnis deutlich geworden. Die Kulturgeschichte zeigt, dass Wildnis durch eine zunehmende technische Beherrschung der Natur ihre Bedrohung und ihren Schrecken verloren hat. Der Antrieb, aus dem Wildnis aufgesucht wird, ist aber immer noch der gleiche.

Der Reiz liegt vermutlich in der Erfahrung von ursprünglicher Natur im Gegensatz zur Wahrnehmung der Kulturlandschaften, wodurch ein Gefühl des Wohlbefindens entsteht, das eben diese Kulturlandschaften nicht bieten können (Kangler/Vicenzotti 2007: 300 f.).

4 Argumentationsraum der Umweltethik

Die Anzahl der umweltethischen Argumente (Gründe), die der Frage nach einem angemessenen Umgang des Menschen mit der Natur nachgehen, können als Argumentationsraum der Umweltethik bezeichnet werden. Hauptaufgabe der Umweltethik ist eine analytische und kritische Rekonstruktion dieser Argumente, Argumentationsmuster und Diskursstränge. In den Kapiteln 5 & 6 findet eine Rekonstruktion dieser Argumente statt, die nach einer diskursiven Grundhaltung erfolgen. Das heißt, dass Gründe nicht als solche verstanden werden können ohne zu ihnen Stellung zu nehmen (Ott et al. 2016: 10 f.).

Den Argumentationsraum zu strukturieren kann anhand des Inklusionsproblems erfolgen. Hierbei wird zwischen den anthropozentrischen (von griech. anthropos = Mensch) Ansätzen und den physiozentrischen (von griech. physis = Natur) Ansätzen unterschieden (s. Abb. 1).

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Abbildung 1 Grafische Unterscheidung zwischen Anthropozentrik und Physiozentrik Quelle: Ott et al. 2016: 11

Die Anthropozentrik als auch die Physiozentrik beziehen sich auf bestimmte Werte, die der Natur zugewiesen werden. Es ist allgemein anerkannt, dass die Naturwissenschaften keine Aussage darüber treffen können, wie wir aus welchen Gründen mit welchen Daseinsformen der Natur umgehen sollen und dürfen. In der Naturwissenschaft wird uns die Natur in einem Modus wertneutraler Objektivität gezeigt, wohingegen die Umweltethik (axiologisch) nach den Werten der Natur und (deontologisch) nach den Pflichten gegenüber der Natur fragt.

Eine Frage die für die Umweltethik konstitutiv und für die Naturwissenschaften unbeantwortet ist lautet also, welche Werte wir welchen natürlichen Entitäten zuweisen und ob diese Werte ausschließlich für den Menschen oder auch unabhängig von den Menschen gelten (Ott et al. 2016: 8 f.). Eine Differenzierung und Analyse dieser Werte wird in den folgenden Unterkapiteln dargelegt.

4.1 Instrumentelle anthropozentrische Werte

Gemäß des instrumentellen anthropozentrischen Wertes ist die Natur lediglich aus zweckrationalen Gründen zu berücksichtigen und dementsprechend ausschließlich aufgrund eines instrumentellen Nutzwertes zu schützen (Ott et al. 2016: 9, bpb 2017). Die Anthropozentrik sieht die Natur folglich als auf den Menschen hin geordnet und dass alle Mittel und Zwecke nur ihm dienen sollen. Der Natur wird dieser Wertzuweisung nach kein eigener moralischer Wert zugesprochen (Teutsch 1985: 8 f., Krebs 1997: 342).

4.1.1 Werte aufgrund von Produktionsfunktionen

Bei dem Wert als Produktionsfunktion werden die elementaren Angewiesenheiten auf die natürlichen Ressourcen der Natur besonders hervorgehoben. Beispielsweise Wälder als Holzquelle für die Möbelindustrie (bpb 2017). Hierbei wird zwischen nichtregenerierbaren und regenerierbaren Ressourcen unterschieden. Erschöpfbare Rohstoffe wie Kohle und Erdöl, die zu den nichtregenerierbaren natürlichen Rohstoffen zählen, bilden sich derart langsam, dass aus menschlicher Perspektiven von einem fixen Umgang der Vorräte ausgegangen werden muss. Regenerierbare Ressourcen hingegen wie beispielsweise fruchtbare Böden sind erneuerbar. Allerdings ist hierbei eine Erhaltung der natürlichen Systeme ausschlaggebend für einen Fortbestand (Spektrum der Wissenschaft 2017).

4.1.2 Werte aufgrund von Regulationsfunktionen

Der instrumentell anthropozentrische Wert der Regulationsfunktion bezieht sich auf die Nutzbarkeit der Natur, die uns und auch den zukünftigen Generationen ein gesundes, sicheres und angenehmes Leben ermöglicht. Ökologische Prozesse sorgen für einen Fortbestand erneuerbarer Ressourcen wie Sauerstoff, sauberes Trinkwasser (durch gesunde filtrierende Böden) Nahrungsmittel und nachwachsender Rohstoffe. Außerdem für eine Regulierung bestimmter Umweltbedingungen, die in für uns günstiger Weise konstant gehalten werden (z.B. Selbstreinigung von Gewässern oder Kontrolle von Schädlingspopulationen durch natürliche Feinde) (bpb 2017).

4.2 Eudaimonistische anthropozentrische Werte

Neben den instrumentellen Werten und den moralischen Selbstwerten (s.u. Physiozentrische Werte) werden auch die sogenannten eudaimonistischen Werte als eine Kategorie der Werte der Natur (s.u. Abb. 2) verwendet. Hiernach wird einer natürlichen Entität ein eudaimonistischer Wert zugewiesen, wenn Menschen diese als Komponente eines guten Lebens wertschätzen. Hierzu zählen beispielweise der Anblick einer majestätischen Berglandschaft oder ein Bad in den Meereswellen. Erlebnisse dieser Art werden als solche wertgeschätzt und können nicht einfach durch künstlichen Ersatz (Anschauen eines Heimatfilmes, Besuch eines Erlebnisbades) substituiert werden. Individuen können Naturbezüge somit auf vielfältige Weise mit ihren Vorstellungen eines guten und gelingenden Lebens verbinden und solch natürlichen Entitäten einen eudaimonistischen Wert zuweisen (Ott et al. 2016: 10).

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Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Wildnis in Natur und Landschaft. Naturethische Argumente für und gegen den Erhalt der Wildnis
Autor
Jahr
2021
Seiten
82
Katalognummer
V593665
ISBN (eBook)
9783964872852
ISBN (Buch)
9783964872869
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Naturethik, Umweltethik, Anthropozentrismus, Kulturlandschaft, Naturästhetik, Ökozentrismus
Arbeit zitieren
Marcus Stolte (Autor:in), 2021, Wildnis in Natur und Landschaft. Naturethische Argumente für und gegen den Erhalt der Wildnis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/593665

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