„Gutes Wohnen“ für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in der Schweiz. Wo besteht Handlungsbedarf für die Soziale Arbeit?


Fachbuch, 2021

76 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abstract

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Ausgangslage
1.2 Persönliche Motivation
1.3 Erkenntnisinteresse und Fragestellung
1.4 Relevanz für die Soziale Arbeit
1.5 Eingrenzung des Themas
1.6 Aufbau der Arbeit

2 Wohnen und Beeinträchtigung
2.1 Kognitive Beeinträchtigung
2.2 Wohnsituation Schweiz

3 Leitprinzipien für die Begleitung von Menschen mit einer Beeinträchtigung
3.1 Herleitung
3.2 Selbstbestimmung
3.3 Sozialräumliche Teilhabe
3.4 Normalisierung
3.5 Beeinträchtigungsbedingter Nachteilsausgleich

4 Bewertung der Anforderungen an «gutes Wohnen»
4.1 Selbstbestimmung
4.2 Sozialräumliche Teilhabe
4.3 Normalisierung
4.4 Beeinträchtigungsbedingter Nachteilsausgleich
4.5 Zusammenfassung der Bewertungen

5 Schlussfolgerungen
5.1 Erkenntnisse und Beantwortung der Fragestellungen
5.2 Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

Abstract

Die vorliegende Bachelor Thesis befasst sich mit der Wohnsituation von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in der Schweiz. Auf Grundlage verschiedener normativer Bezugssysteme werden Anforderungen erarbeitet, die an ein «gutes Wohnen» gestellt werden. Anschliessend werden die vorgängig analysierten und kategorisierten vorhandenen Wohnformen hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und Verwirklichungschancen in Bezug auf die jeweilige Anforderung bewertet und verglichen.

Auch wenn einige Erkenntnisse, wie zum Beispiel die deutlich erhöhte Selbstbestimmung in ambulanten Wohnformen im Vergleich zu stationären Einrichtungen wie Wohnheimen im allgemeinen Diskurs bekannt sind so wird damit ein Fundament für aktuelle Auseinandersetzungen geschaffen, wobei sowohl Handlungsbedarf als auch Lösungsansätze für die Soziale Arbeit aufgezeigt werden.

Abkürzungsverzeichnis

BRK = Behindertenrechtskonvention

HE = Hilflosenentschädigung

ICF = International Classification of Functioning, Disability and Health

IV = Invalidenversicherung

IVG = Bundesgesetz über die Invalidenversicherung

SOMED = Statistik der sozialmedizinischen Institutionen

UNO = United Nations Organization

WHO = World Health Organisation

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Übersicht der Wohnformen

Tabellenverzeichnis

Tab. 1 Kategorisierung der definierten Wohnformen

Tab. 2 Bewertung Anforderung S.1

Tab. 3 Bewertung Anforderung S.2

Tab. 4 Bewertung Anforderung S.3

Tab. 5 Bewertung Anforderung S.4

Tab. 6 Bewertung Anforderung S.5

Tab. 7 Bewertung Anforderung T.1

Tab. 8 Bewertung Anforderung T.2

Tab. 9 Bewertung Anforderung T.3

Tab. 10 Bewertung Anforderung N.1

Tab. 11 Bewertung Anforderung N.2

Tab. 12 Bewertung Anforderung N.3

Tab. 13 Bewertung Anforderung B.1

Tab. 14 Bewertung Anforderung B.2

Tab. 15 Bewertung Anforderung B.3

Tab. 16 Bewertungsübersicht

1 Einleitung

1.1 Ausgangslage

Inklusion, Selbstbestimmung, Normalisierung und Teilhabe als ausgewählte Leitprinzipien der heutigen Behindertenhilfe und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – im Sprachgebrauch häufig bezeichnet als ‘Behindertenrechtskonvention’ - der United Nations Organization (UNO) fordern Wahlfreiheit bezüglich der eigenen Wohnsituation. Wie in Art. 19 «Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft» (AS 2014: 1131) besonders sichtbar wird, sind die Forderungen nach Gleichberechtigung und Auswahlmöglichkeiten des Aufenthaltsortes, Zugang zu gemeindenahen Dienst- und Unterstützungsleistungen sowie die Möglichkeit zu persönlicher Assistenz besonders wichtige Aspekte. Doch inwiefern werden diese Forderungen und das Ziel einer Wahlfreiheit bezüglich der eigenen Wohnsituation heute in der Schweiz erfüllt?

Die Datenlage dazu scheint auf den ersten Blick mehr als dürftig. Von den insgesamt rund 1'792'000 Menschen mit einer Beeinträchtigung in der Schweiz (vgl. Bundesamt für Statistik 2015: o.S.) sind ca. 20'000 volljährig und haben eine kognitive Beeinträchtigung; davon leben mit 40 Jahren ungefähr 75% in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe (vgl. Wicki 2015: 4). Wie viele der restlichen Erwachsenen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in einem Privathaushalt oder in einer alternativen Wohnform leben ist jedoch nicht verzeichnet. Der Anteil der in Privathaushalten bei Angehörigen leben ist ebenfalls nicht erfasst.

Welche alternativen Wohnformen gibt es denn also überhaupt in der Schweiz? Vielleicht noch die wichtigere Frage erscheint in diesem Zusammenhang, was Wohnen grundsätzlich bedeutet und welche Wohnformen mit Blick auf das übergeordnete Ziel der Gleichstellung und der Wahlfreiheit welche Möglichkeiten und Verwirklichungschancen bieten können.

1.2 Persönliche Motivation

Die ersten drei Jahre meines Studiums habe ich praxisbegleitend in einem Wohnheim für erwachsene Menschen mit einer kognitiven, teilweise begleitet von einer physischen und/oder psychischen Beeinträchtigung gearbeitet. Durch die eigene Erfahrung und den Austausch mit Mitstudierenden merkte ich schnell, dass die Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten, die ich in meinem Berufsalltag antraf, teilweise sehr stark ausgeprägt waren. Möglicherweise resultierend daraus musste ich täglich Erfahrungen machen, bei denen die Klientel durch Mitarbeitende oder auch institutionell bedingte Strukturen Fremdbestimmung erlebt haben. Diverse Ursachen spielen hierbei eine Rolle, nicht zuletzt wahrscheinlich auch Routine und durch die Gruppengrösse verursachte Kompromisse, wodurch es der Klientel nicht ermöglicht wurde, eigene Entscheidungen zu treffen. Tatsächlich schien das Wohnheim für einige eine Art letzte Station zu sein, denn andere Wohnangebote wollten, aber durften bzw. konnten sie aus unterschiedlichen Gründen nicht in Anspruch nehmen. Mit dem Wissen, dass diese Menschen an einem Ort leben mussten, den sie selbst nicht wählen oder verändern konnten, sah ich mich regelmässig konfrontiert und je länger je mehr auch frustriert. Ich hielt es kaum für vorstellbar, mit Menschen zusammenleben zu müssen, die ich mir nicht selbst ausgesucht habe, oder aber bei täglichen Entscheidungen, wie der Auswahl des Essens, nicht selbst bestimmen zu können. Angetrieben von Gedanken der Ungerechtigkeit und einer gewissen Machtlosigkeit innerhalb der Institution und deren Strukturen entschied ich mich schliesslich dazu, mich in meiner Bachelor-Thesis den im vorigen Kapitel erläuterten Fragen nach der Gleichstellung und den Wahlmöglichkeiten in der Wohnsituation von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung anzunehmen. Dahinter steckt neben dem Interesse an der Suche und dem Vergleich von alternativen Wohnformen auch die Intention, gegen diese im Arbeitsalltag erlebte Ohnmacht ankämpfen zu können; sei es mit Wissen und theoretischen Anhaltspunkten, aber auch mit möglichen Erkenntnissen und Instrumenten für die Soziale Arbeit.

1.3 Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Basierend auf den bisherigen Aussagen und Fragen besteht ein grundlegendes Interesse herauszufinden, was der Dschungel an Wohnangeboten in der Schweiz für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung bietet und welche theoretischen Bezugssysteme in einem zweiten Schritt einbezogen werden sollten um die Anforderungen an «gutes Wohnen» erfassen und bewerten zu können. Natürlich soll die Thesis auch im Hinblick auf die Soziale Arbeit Erkenntnisse vermitteln, wie einerseits in dieser Thematik das Individuum begleitet werden sollte und andererseits das Hilfesystem verändert werden müsste. Da das Wohnen und die damit verbundenen Werte wie Selbstverwirklichung, Privatsphäre und Erholung (vgl. Seifert 2016a: 454) eine sehr zentrale Bedeutung im Leben eines Menschen haben, darf auch Menschen mit Unterstützungsbedarf dieses Bedürfnis keinesfalls abgesprochen werden.

Aus der vorangegangenen Diskussion liessen sich drei zentrale Fragestellungen herauskristallisieren, welche im Laufe dieser Arbeit beantwortet werden sollen. Die ersten beiden Fragestellungen bieten dabei die Grundlage, um die Relevanz für die Soziale Arbeit zu bestärken und aufzuzeigen, in welchen Bereichen Handlungsbedarf besteht.

Mit welchen theoretischen Bezugssystemen lässt sich «gutes Wohnen» für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung erfassen und bewerten?

Welche Anforderungen für bestehende Wohnformen in der Schweiz lassen sich daraus ableiten und wie werden diese bewertet?

Welche Konsequenzen bringen diese Erkenntnisse mit sich und welche Akteure im Bereich Wohnen werden dabei angesprochen?

1.4 Relevanz für die Soziale Arbeit

Avenir Social (2013: 6) beschreibt die Soziale Arbeit als «ein gesellschaftlicher Beitrag, insbesondere an diejenigen Menschen oder Gruppen, die vorübergehend oder dauernd in der Verwirklichung ihres Lebens illegitim eingeschränkt oder deren Zugang zu Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen ungenügend sind». In den vergangenen Kapiteln wurde bereits erkannt, dass Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung oft davon betroffen sind. Daher ist es sowohl Ziel als auch Verpflichtung der Sozialen Arbeit, sich für dahingehende Verbesserungen einzusetzen. Besonders zu fördern ist dabei einerseits die Klientel selbst, jedoch sollen auch das Hilfesystem und vorherrschende Strukturen kritisch betrachtet und optimiert werden. Auf der Ebene der direkten Klientelzusammenarbeit sollen also Methoden und Konzepte erarbeitet werden, um sie in ihrer Wahlkompetenzen zu fördern um so «gutes Wohnen» zu erreichen. Doch wählen kann nur, wer auch echte Alternativen zur Auswahl hat. Denn es ist auch Pflicht der Sozialen Arbeit, für solche sozialen Problematiken Lösungen zu entwickeln und diese adäquat herauszugeben (vgl. ebd.: 6). Durch persönliche Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung benötigt es aber auch einen Wechsel in den Köpfen der Gesellschaft. Es soll erkannt werden, dass nicht die Menschen mit Beeinträchtigungen verändert oder angepasst werden sollen, um integriert werden zu können.

Bestehende übergeordnete Strukturen, Konzepte sowie Haltungen müssen in eine Richtung beeinflusst werden, in der alle Menschen gleich viel Wert und die gleichen Rechte haben.

1.5 Eingrenzung des Themas

Die dürftige Datenlage zu Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, wie wo und mit wem sie leben, zeigt gewisse Missstände auf und zeugt von mangelndem Interesse an dieser Thematik. Dieser Eindruck wird durch die mangelnde Fachliteratur in der Schweiz zum Thema Wohnen und Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung noch verstärkt. Ich habe mich explizit für eben diese Zielgruppe entschieden, da sie als am meisten exkludiert gilt und es kaum einfach zu erreichende Informationen dazu gibt. Auch werden sie meist von inklusiven Projekten oder selbstbestimmenden Unterstützungsangeboten wie z.B. der persönlichen Assistenz basierend auf der «mangelnden Selbstständigkeit» ausgeschlossen. Gerade deshalb, auch im Bewusstsein, dass eine Abgrenzung zu anderen Beeinträchtigungen nicht immer gelingen mag, möchte ich mich dafür einsetzen, dass es explizite Erkenntnisse gibt.

Zu den Termini scheint es im fachlichen Diskurs keine Einheit zu geben. In den Quellen sind häufig Begriffe wie «geistig behinderte Menschen» oder aber «Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung» anzutreffen. In dieser Thesis wird – Zitate ausgenommen - von Zweiterem gesprochen; es ist jedoch möglich, dass verbundene physische oder psychische Beeinträchtigungen vorliegen. Ebenfalls wird aufgrund der mit Betreuung implizierten negativen und bevormundenden Behaftung das Wort Begleitung eingesetzt – ausser, der Kontext verlangt diese Benennung (vgl. Deutscher Caritasverband e.V. 2012: o.S.).

In der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Wohnformen habe ich mich auf langfristige Wohnlösungen begrenzt, um eine Vergleichbarkeit sicherzustellen, wodurch einige Wohnformen wie z.B. Wohncoaching ausgeschlossen werden, auch wenn sie in anderem Zusammenhang wichtige Angebote darstellen. Des Weiteren wird ebenfalls das Wohnen in der Herkunftsfamilie nicht näher erläutert, da kaum Informationen dazu vorhanden sind und die Individualität eine Vergleichbarkeit mit den übrigen Wohnformen nicht zulässt. Auch sind finanzielle Aspekte nur am Rande miteinbezogen worden, da die Qualität im Vordergrund steht und ich die Meinung vertrete, «gutes Wohnen» dürfte keine Kostenfrage sein.

1.6 Aufbau der Arbeit

Einleitend wurden grundlegende Informationen zur Verfügung gestellt, die Ausgangslage dieser Bachelor Thesis erläutert, die persönliche Motivation hinter der Thematik nähergebracht, mit welchen Fragestellungen die Arbeit das Erkenntnisinteresse verfolgt und welche Relevanz das Thema nach einer Eingrenzung für die Soziale Arbeit darstellt.

Im Hauptteil wird zu Beginn der für das Verständnis wichtige Begriff der kognitiven Beeinträchtigung erklärt. Des Weiteren werden die bedeutenden Grundwerte des Wohnens sichtbar und die Wohnsituation von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in der Schweiz erläutert. Darauf aufbauend werden die Wohnformen für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung theoretisch und exemplarisch hergeleitet und deren Auswahl begründet. Die Herleitung der verwendeten theoretischen Bezugssysteme für die anschliessende Bewertung verläuft über einen kurzen Einblick in den Paradigmenwechsel der Sozialen Arbeit, weiter über die rechtliche Begründung der Forderungen dieser Bachelor Thesis anhand des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der UNO, die Erläuterung des Capability Ansatzes als objektive Theorie des «guten Lebens» und dessen Relevanz für die zu entwickelnden Anforderungen an «gutes Wohnen» bis hin zur Diskussion der in der sozialen Arbeit verbreiteten Leitprinzipien und deren Auswahl und Gewichtung für die vorliegende Arbeit. Anschliessend werden die ausgewählten Leitprinzipien genauer definiert, deren Bedeutung im Wohnumfeld erarbeitet und daraus schliesslich die detaillierten Anforderungen an ein «gutes Wohnen» entwickelt. Auf dieser Grundlage wird im Anschluss jede der definierten Wohnformen dahingehend diskutiert und bewertet, welche Möglichkeiten sie der Klientel in Bezug auf die jeweilige Anforderung bieten kann.

Basierend auf diesen Erkenntnissen wird in den Schlussfolgerungen schliesslich die Diskussion geführt, wo die Potentiale der verschiedenen Wohnformen liegen, wo allenfalls ein Handlungsbedarf besteht und welche Konsequenzen sich aus den gewonnenen Erkenntnissen für die Soziale Arbeite ergeben (müssen).

2 Wohnen und Beeinträchtigung

2.1 Kognitive Beeinträchtigung

Schwachsinnig, blödsinnig, idiotisch und praktisch bildbar sind nur einige Beispiele, die in der Vergangenheit versuchten, geistige Behinderung zu beschreiben. Diese waren hauptsächlich negativ besetzt und haben wenig dazu beigetragen, eine nicht stigmatisierende Sichtweise und Bezeichnung für diese Menschen zu finden (vgl. Stöppler 2014: 16-18.). Passend scheinen diese Begriffe zum früher vorherrschenden, defizitorientierten Modell von Behinderung, dem medizinischen Modell (vgl. ebd.: 23). Einen wichtigen Beitrag zum Wandel brachte sicherlich die Verabschiedung der «International Classification of Functioning, Disability and Health» (ICF), welche von der «World Health Organisation» (WHO) im Jahr 2001 erreicht wurde. Dieses bio-psycho-soziale Modell ist nun stärker an den Ressourcen und Teilhabechancen von Menschen interessiert und beinhaltet unterschiedliche Faktoren, welche in Beziehung gebracht werden und abweichende Teilhabechancen aufdecken sollen. Somit rückt nicht mehr die Behinderung an sich in den Fokus, sondern Strukturen und Umweltbedingungen, welchen einen Menschen an Partizipation hindern. Demnach kann eine Person trotz Behinderung mithilfe der Umwelt (z.B. Abschaffung von Barrieren) an der Gesellschaft teilhaben und vor Exklusion verschont werden (vgl. ebd.: 21f.).

Trotz diesem beschriebenen Wertewandel der Sichtweisen ist der Begriff der «geistigen Behinderung» nach wie vor stark vertreten in unterschiedlicher Literatur – und dies obwohl durchaus Bewusstsein über die stigmatisierende und diskriminierende Bedeutung dieser Bezeichnung vorhanden ist (vgl. ebd.: 18; Theunissen 2012: 9f.). Eine spezifische Erklärung, auf welche Bereiche sich geistige Behinderung überhaupt bezieht, findet sich auf der Webseite von insieme Schweiz, auf welcher unterschiedliche Fähigkeiten wie z.B. die des Lernens genannt und unter dem Oberbegriff Kognition eingestuft werden. Behinderungen können lediglich in einzelnen Bereichen wie dem Lernen oder aber in der Gesamtentwicklung (vgl. Insieme Schweiz 2019: o.S.) auftreten. Es erscheint deshalb naheliegend, statt dem unklaren Begriff «geistig» in Bezug auf Behinderung «kognitiv» zu verwenden. Ebenfalls in einem Versuch der Minderung von Stigmatisierung stellt Stöppler in Bezug auf Mühl fest, dass zuerst die Erwähnung der Rolle (Mensch, Klient/Klientin) und erst danach die der Behinderung (mit kognitiver Behinderung) von Bedeutung ist (vgl. Stöppler 2014:17).

Nicht selten fällt in Fachliteratur auf, dass, ungeachtet ob von geistig oder kognitiv die Rede ist, der Begriff «Behinderung» in diesem Zusammenhang verwendet wird. Um ganz klar abzugrenzen, ob die körperlichen und/oder kognitiven Fähigkeiten lediglich eingeschränkt sind oder tatsächlich zu einer Benachteiligung führen, wird in dieser Thesis von (kognitiver) Beeinträchtigung gesprochen; denn «Behinde­rung bedeutet […] auf Beeinträchtigungen basierende Benachteiligung» (Wacker 2013: 243) und ergibt sich noch nicht alleine aus der gegebenen Situation. Passend zur ICF wird also nicht Behinderung als negative Eigenschaft einer Person beschrieben, sondern die Beziehung des Menschen mit seiner Umwelt, die durch verschiedene Faktoren «behindert» wird.

Die Zielgruppe dieser Bachelor Thesis stellen also Erwachsene Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung dar. Um auch hier eine genauere Unterteilung vornehmen zu können werde ich in dieser Thesis zwei unterschiedliche Einstufungen von kognitiver Beeinträchtigung vornehmen und stütze mich bei der Begriffsklärung auf Theunissen (2012). Er wählt die Unterscheidung von Menschen mit einer Lernschwierigkeit (oft auch leichte geistige Behinderung genannt) als auch Menschen mit einer komplexen Beeinträchtigung (auch bekannt unter schwerer mehrfacher Behinderung) (vgl. Theunissen 2012: 9f.). Auffallend in Bezug auf das Wohnen ist aber, dass der Fokus oftmals eher auf der Selbstständigkeit als auf der Beeinträchtigung selbst liegt. So werden, wie später noch sichtbarer wird, Kompetenzen in Bezug auf Selbstständigkeit verlangt, um gewisse Wohnformen in Anspruch zu nehmen. Grundsätzlich geht man davon aus, dass mit zunehmendem Schweregrad der Beeinträchtigung die Selbstständigkeit abnimmt (vgl. ebd.: 41).

2.2 Wohnsituation Schweiz

«’Wohnen’ nimmt den privaten Raum in den Blick, einen Raum, der nach eigenen Vorstellungen gestaltet ist, selbstbestimmte Alltagsabläufe ermöglicht und Geborgenheit, Schutz und Sicherheit gewährt. Die Wohnung bietet Raum für Erholung und Selbstverwirklichung, für den Rückzug in die Privatheit und für das Zusammenleben mit nahestehenden Menschen – mit der Öffnung nach aussen zur Nachbarschaft und zum weiteren sozialen Umfeld.» (Seifert 2016a: 454)

In der Schweiz wurden im Jahr 2017 insgesamt 3.7 Millionen Privathaushalte verzeichnet, wobei die durchschnittliche Anzahl der Mitglieder bei 2.23 Personen pro Haushalt lag. Insgesamt beherbergten 68% aller Haushalte eine bzw. zwei Personen und machten so über 2/3 der Gesamthaushalte aus. Lediglich 26% der Haushalte zählten drei bzw. vier Mitglieder und nur 6% der Haushalte stellten eine Wohnsituation von 5 oder mehr Personen dar (vgl. Bundesamt für Statistik 2019: o.S.). 85'553 – dies ist die Anzahl der Haushalte, in welchen mehrere nichtverwandte Mitglieder im Jahr 2017 lebten. Das klingt zuerst einmal nach viel, jedoch stellt diese Zahl nur 2.2% aller Privathaushalte in der Schweiz und somit die klare Minderheit dar (vgl. Bundesamt für Statistik 2018: o.S.). Aus diesen zusammengetragenen Zahlen wird deutlich, dass Schweizerinnen und Schweizer bevorzugt in kleinen, familiären Haushalten leben. Zudem wird dem Wohnumfeld qualitativ eine sehr hohe Bedeutung zugewiesen, wie das einleitende Zitat von Seifert aufzeigt. Doch wie sieht die Wohnsituation von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung aus?

Übersichtliche, vollständige Zahlen zu diesem Thema zu finden erwies sich als schwieriges Unterfangen. Durchaus im Bewusstsein, dass es eine grosse Herausforderung ist, Abgrenzungen vorzunehmen, und dass Mehrfachnennungen sowie mehrere Diagnosen die Zahlen verfälschen können, erschien es für einen groben Überblick jedoch trotzdem unerlässlich, die aktuellsten Zahlen zur Wohnsituation von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in der Schweiz zu nennen. Diese sind zu finden in der Statistik der Sozialmedizinischen Institutionen (SOMED) für das Jahr 2015. Dort gaben schweizweit 24'553 Menschen an in einer stationären Institution für Menschen mit Beeinträchtigung zu leben und als «Hauptbehinderung» die «geistige Behinderung» aufzuweisen. Lediglich eine kleine Anzahl von 284 Menschen mit eben dieser Beeinträchtigung gaben Institutionen für andere Problematiken als Wohnort an (vgl. Bundesamt für Statistik 2017: o.S.). Dass jedoch nur fünf Jahre zuvor in der Statistik der SOMED lediglich ca. 15'000 Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung als in einer Institution lebend verzeichnet wurden widerspiegelt die komplexe und unübersichtliche Sachlage und macht es zu einer grossen Herausforderung, verlässliche Zahlen zu finden (vgl. Bundesamt für Statistik 2012b: 2). Zahlen zu den Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, die in alternativen Wohnformen oder in Privathaushalten leben fehlen wie bereits in Kapitel 1.1 beschrieben weitestgehend. In Deutschland schätzen Fachverbände jedoch, dass dort ca. 40-50 % aller Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung in einem Privathaushalt leben (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013: 79). Ein erstes Fazit zeigt somit, dass prozentual wesentlich mehr Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in grossen, nichtfamiliären Haushalten zusammenleben als dies im Vergleich bei Menschen ohne Beeinträchtigung der Fall ist.

Die fehlende Datenlage in der Schweiz wurde mittlerweile erkannt und wird nun vom Bund angegangen. Eine detaillierte Bestandesaufnahme des Wohnangebots für Menschen mit Behinderungen wird erstmalig im Juli 2019 erscheinen. Die Projektausschreibung scheint vielversprechend, jedoch auch längst überfällig. Auf eigene Anfrage durften leider keine Zahlen frühzeitig bekanntgegeben werden. Die Thematiken rund um alternative Wohnformen sind keine neuen Ansätze, ebenso wie der Wandel von Institutionellem Wohnen zugunsten von individuelleren und kleineren Wohnformen (vgl. Seifert 2016a: 454). Dass solche Zahlen trotzdem nur sehr ungenügend vorhanden sind könnte eine gewisse Haltung gegenüber den Menschen mit Beeinträchtigungen und dem Fortschritt in diesem Paradigmenwechsel in der Schweiz widerspiegeln.

Um auch ohne das Vorhandensein differenzierter Zahlen auf verschiedene Wohnformen eingehen zu können wird im folgenden Kapitel der Versuch vorgenommen, die in der Schweiz gebotenen Möglichkeiten des Unterstützten Wohnens für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung einzugrenzen, zu erläutern und, wenn möglich, exemplarische Wohnangebote aufzuzeigen.

2.2.1 Wohnformen

In der Schweiz stehen Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung theoretisch diverse Wohnformen zur Verfügung, welche sie je nach Finanzierung nutzen können. Grundsätzlich wird in der vorliegenden Bachelor Thesis unterschieden zwischen Wohnformen, welche dauerhafte Angebote darstellen und solchen, die als eine Art Übergangsform zu einer selbstständigeren Wohnform gewertet werden. Der Fokus liegt dabei auf der ersten Gruppe, wobei nachfolgend auch die zweite Gruppe der Vollständigkeit halber beschrieben wird. Ebenfalls sind in der Praxis teilweise unterschiedliche Auffassungen von gleichnamigen Dienstleistungen vorhanden, weshalb sich diese Arbeit, wenn möglich, in der Definition der Wohnformen auf die gesetzliche Grundlage und/oder eine Kategorisierung des Bundes (Anhang I) bezieht. Um eine erste Übersicht zu erbringen wurde folgende Abbildung (Abb. 1) erstellt; die einzelnen, dunkel schraffierten Wohnformen werden für die spätere Betrachtung und Bewertung definiert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Übersicht der Wohnformen

Stationäre Wohnformen

Wohnheim (W1)

Als stationäre Einrichtung stellt ein Wohnheim einen Kollektivhaushalt dar, welcher mind. 5 Erwachsenen (vgl. Knecht 2017: 7) mit einer Beeinträchtigung einen Wohnplatz bietet und dort 24 Stunden à 7 Tage die Woche Begleitung gewährleistet (vgl. Anhang I). Ein Wohnheim bietet eine besonders umfassende Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags (vgl. Knecht 2017: 7) und richtet sich an erwachsene Menschen mit einer kognitiven und/oder physischen Beeinträchtigung, ohne Einschränkungen bezüglich Art oder Grad der Beeinträchtigung, wobei grundsätzlich meist eher Menschen mit einer schweren Beeinträchtigung dieses Angebot wahrnehmen (vgl. Eingliederungsstätte Baselland 2019: o.S.). Ebenfalls werden diverse Leistungen, von Pflege über Beschäftigung, Tagesstruktur, Ferien bis hin zu Hotellerie-diensten angeboten (vgl. Dychrain 2019: o.S.). Grundlegendes Ziel eines Wohnheims ist die Gewährleistung der Begleitung und Pflege der Bewohnenden (vgl. Anhang I).

Aussenwohngruppe (Betreutes Wohnen) (W2)

Unter einem betreuten Wohnangebot wird u.a. eine Wohngruppe bzw. Aussenwohngruppe eingeordnet. Hier leben mind. vier erwachsene Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in einer Wohnung, welche von einer übergeordneten Institution (z.B. Wohnheim) gestellt wurde (vgl. Stiftung Adulta 2019: o.S.). Diese Wohngruppen verfügen i.d.R. über keine eigene Tagesstruktur. Die Begleitung ist gewährleistet, allerdings in einem kleineren Rahmen als in einem Wohnheim (vgl. Räbhof 2019: o.S.). Die Form der Begleitung richtet sich zwar nach den Bedürfnissen der Klientel, findet aber max. 15 Stunden täglich in reduzierter Intensivität und Leistungsumfang statt. Deshalb ist dieses Angebot für Menschen mit Beeinträchtigung, welche einen gewissen Grad an Selbstständigkeit aufweisen, konzipiert. Ziel dieser Begleitungsform stellt ein zu einem gewissen Grad selbstständiges Wohnen innerhalb einer Institution dar (vgl. Anhang I).

Wohnschule / Übergangswohnung (Betreutes Wohnen)

Grundsätzlich erbringen eine Wohnschule und eine Übergangswohnung ähnliche Leistungen wie eine Aussenwohngruppe; dies ebenfalls unter dem Merkmal des betreuten Wohnens. Der Hauptunterschied wird in der Zielsetzung sichtbar: Während die Aussenwohngruppe ein teilselbstständiges, aber längerfristiges Wohnangebot darstellt ist die Übergangswohnung bzw. Wohnschule eine Wohnung, in der in einem vereinbarten Zeitraum gezielt Kompetenzen zu selbstständigerem Wohnen erworben werden und die so eine Vorbereitung für einen Wechsel in eine andere Wohnform darstellt (vgl. Anhang I). Aus diesem Grund stellt diese Wohnform in der vorliegenden Thesis kein längerfristiges Angebot dar und wird aus dem weiteren Bearbeitungsverlauf ausgeschlossen.

Ambulante Wohnformen

Wohnen mit Assistenz (W3)

Diese Wohnform meint «das selbstständige Wohnen in einer eigenen Wohnung mit Unterstützung von privat angestellten Assistenzpersonen (Arbeitgebermodell)» (Knecht 2017: 7). Finanziert durch Assistenzbeiträge der Invalidenversicherung (IV) bzw. Hilflosenentschädigung (HE) erhalten die Leistungsbezüger monatliche Beiträge, die sie im Stundenansatz an ihre Assistenzpersonen zahlen. Die Höhe des Beitrages richtet sich am Grad der Hilflosigkeit und wird durch die IV bestimmt. Angerechnet wird die benötigte Hilfe in diversen Bereichen, u.a. alltägliche Lebensverrichtung und Freizeitgestaltung. Nötige pflegerische Dienstleistungen durch eine Spitexorganisation werden nicht durch den Assistenzbeitrag finanziert (vgl. ebd.: 7). Durch die finanzierte Unterstützung im Alltag ermöglicht die Assistenz ein hoher Grad an Selbstbestimmung im Wohnen (vgl. Assistenzbüro 2019: o.S.), was wiederum auch Voraussetzung an eine hohe Selbstständigkeit für die Bezugnahme dieses Angebotes stellt.

Wohnen mit Bezug diverser Dienstleistungen (W4)

Grundsätzlich stellt diese Form von Wohnen zwar eine sehr freie, aber auch stark begrenzte Möglichkeit, im Alltag Unterstützung zu erhalten, dar (vgl. Stiftung Weidli Stans 2019: o.S.). Die Klientel wohnt in einer eigenen Wohnung und finanziert diejenigen Dienstleistungen, die sie beziehen möchte, grundsätzlich selbst. Ob sie einen Mahlzeitendienst, Fahrdienst o.ä. beziehen will ist ihr zwar freigestellt, aber durch limitierte Angebote und finanzielle Grenzen ist diese Form des Wohnens oft eingeschränkt. Dadurch, dass die Dienstleistungen organisiert und ausgewählt werden müssen bzw. dürfen, wird ein hoher Selbstständigkeitsgrad gefordert (vgl. Knecht 2017: 8).

Begleitetes Wohnen nach Art. 74 Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG) (W5)

Die Begleitung der Klientel findet in der eigenen Wohnung derer statt und wird mit 4 Stunden Leistung in der Woche angerechnet (vgl. Insieme Basel 2019: o.S.). Dieses Angebot richtet sich an «Personen mit einer IV-Massnahme (inkl. Rente) in den letzten 10 Jahren» (Anhang I) und durch die Notwendigkeit einer eigens organisierter Tagesstruktur wird ein hoher Grad an Selbstständigkeit erforderlich. Die Unterstützung durch die begleitende Person findet in Form von Beratung und Begleitung für den Alltag statt und schliesst andere Dienst- und Pflegeleistungen aus. Das Ziel dieser Begleitung stellt die Erhaltung der selbstständigen Wohnform und die punktuelle Beratung im Alltag dar (vgl. Anhand I).

Wohncoaching Ein Wohncoaching richtet sich an erwachsene Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung und einem hohen Grad an Selbstständigkeit, welche bereits eine Tagesstruktur haben oder sich darauf vorbereiten. Um den Wechsel in eine «eigenständigere» Wohnform, unabhängig vom jetzigen Wohnangebot, zu ermöglichen, wird punktuell Unterstützung angeboten, um den Lebensalltag selbstständiger zu bewältigen. Das Ziel eines Wohncoaching besteht also klar darin, zukünftig eigenständig wohnen zu können (vgl. Anhang I) und stellt somit eine Übergangsdienstleistung dar. Deshalb wird sie nicht als Wohnform per se in die weitere Bearbeitung dieser Thesis mit einfliessen.

Wohnen bei Angehörigen Die genaue Anzahl von Menschen mit einer Beeinträchtigung, welche noch in ihrem Elternhaus bzw. bei Angehörigen leben, ist nicht bekannt und kann nur grob geschätzt werden. Im Jahre 2010 wurde in der Statistik der sozialmedizinischen Institutionen die Zahl auf 1'134'000 taxiert, jedoch ohne Unterscheidung in der Art der Beeinträchtigung vorzunehmen. Auch ist diese Wohnsituation sehr individuell, wodurch keine gehaltvolle Aussage darüber gemacht werden kann, wie genau ein solches Leben bei den Angehörigen aussieht – aufgrund dessen wird diese Wohnform nicht weiter in dieser Thesis verwendet.

Überblick

Um im Überblick zu zeigen welche Wohnformen weiteren Verlauf der Bachelor Thesis tatsächlich genutzt werden und wie sie im Rahmen dieser Arbeit definiert werden befindet sich nachfolgend eine eigene Darstellung (Tab. 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1 Kategorisierung der definierten Wohnformen

3 Leitprinzipien für die Begleitung von Menschen mit einer Beeinträchtigung

3.1 Herleitung

Im folgenden Kapitel werden nun die Leitprinzipien der Sozialen Arbeit, welche ausschlaggebend in der Begleitung von Menschen mit einer Beeinträchtigung und somit für diese Thesis sind, theoretisch erläutert und hergeleitet. Am Ende dieses Kapitels wird die Diskussion stattfinden, welche Begriffe tatsächlich weiterverwendet werden sowie die Begründung der bewusst gemiedenen Leitprinzipien.

3.1.1 Paradigmenwechsel in der Sozialen Arbeit

Die Einen sprechen von einem Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik (vgl. Schönwiese 2016: 44), andere wiederum zweifeln an ob es einen solchen tatsächlich gegeben hat (vgl. Kulig/ Schirbort/ Schubert 2011: 8). Dass sich aber die Sichtweise auf Menschen mit einer Beeinträchtigung verändert hat dürfte eindeutig sein. Wie auch schon in Kapitel 2.1 beschrieben brachte die Definition von Beeinträchtigung vom medizinischen zum bio-psycho-sozialen Modell wesentliche Veränderungen mit sich. Aber auch die Sicht auf den Menschen selbst unterscheidet sich stark und zeigt den Wandel «[…] von einem qua Definition weitgehend unmündigen, hilfebedürftigen Wesen zum Mitbürger mit Rechten und Pflichten […]» (Kulig et al. 2011: 8). Auch im Bereich des Wohnens kamen mit dem Normalisierungsprinzip die Forderungen, dass auch Menschen mit Beeinträchtigung so «normal wie andere Menschen auch» wohnen sollten. Denn in einer grossen Institution zu leben entsprach kaum dem Bild vom Wohnen wie es Menschen ohne Beeinträchtigung es führten. Im Zuge dessen sollten Institutionen einem selbstbestimmteren Leben in eigener Wohnung mit Assistenz weichen (vgl. Theunissen 2012: 46f.). Da aber gerade in der deutschsprachigen Region Europas viele Menschen in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht waren, war seltener die Rede von einer Deinstitutionalisierung (vgl. ebd.: 48), sondern vielmehr von einer Enthospitalisierung. In Folge einer Umsiedlung dieser Menschen in andere Langzeiteinrichtungen der Behindertenhilfe spricht Theunissen jedoch lediglich von einer «Umhospitalisierung» (Hoffmann 1999, zit. nach Theunissen 2012: 52). Andere Länder wie die USA oder Schweden nutzten die Deinstitutionalisierung und boten Menschen mit einer Beeinträchtigung die Möglichkeit, gemeindeintegrierte, kleinere und häuslichere Wohnformen zu nutzen, welche ohne die Strukturmerkmale und darauffolgenden Systemzwänge von grossen Institutionen auskamen (vgl. ebd.: 47). Um diese Vorbilderrollen und das theoretisch vorhandene Wissen noch zu unterstreichen nimmt das «Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen», oder auch «UNO-BRK», einen wichtigen Platz ein.

3.1.2 UNO-BRK

Um der Thematik Wohnen und verschiedenen Leitprinzipien der Sozialen Arbeit eine rechtliche Grundlage zu bieten wird in diesem Kapitel das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dargestellt. Aus dem englischen «convention» wäre «Übereinkommen» die richtige Übersetzung; im Sprachgebrauch wird allerdings oft der Begriff Behindertenrechtskonvention (BRK) verwendet (vgl. Bürli 2015: 57). Die auf der 1948 erstellten «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» gestützte BRK wurde von der United Nations Organization (UNO), welche zur Gruppe der internationalen Regierungs­organisationen gehört, erstellt (vgl. ebd.: 56f.). Verabschiedet wurde das Übereinkommen in New York im Jahr 2006, und die Schweiz trat knapp 8 Jahre später bei (vgl. AS 2014: 1119). Grundsätzlich sind die festgehaltenen Artikel normativer Natur und nicht einklagbar. Nur wenn diese in die jeweilige nationale Rechtsordnung aufgenommen wurden, besteht ein rechtlicher Anspruch darauf (vgl. Bürli 2015: 58). Schwierigkeiten bei der einheitlichen Verwendung als auch der Übersetzung zentraler Begriffe (wie z.B. inclusion) bedeuten eine verminderte Durchsetzung der BRK und bedürfen einer klaren Definition (vgl. ebd.: 62). Ein Gewinn kann sie seitens der Moral dennoch verbuchen, denn «die Behindertenrechtskonvention stärkt ohne Zweifel die Wertschätzung von Menschen mit Beeinträchtigungen, ihre Rechte, ihre Teilhabe, ihre Inklusion» (ebd.: 65). Bürli spricht hier wichtige Leitprinzipien an, welche grundlegend sind für die Soziale Arbeit. Auch deutet er an, dass durch die BRK weitere Strukturen und Lebensbereiche von Menschen mit Beeinträchtigung positiv beeinflusst werden (vgl. ebd.: 65), denn dank hoher Anerkennung der UNO geniesst auch die BRK ähnliches Ansehen.

In den 50 Artikeln der BRK sind u.a. für die Soziale Arbeit grundlegende Werte und Leitprinzipien genannt. Besonders Inklusion, Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung werden in mehreren Artikeln spezifisch eingefordert. Speziell zum Thema Wohnen wurde Art. 19a) verfasst welcher besagt, dass «Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben;» (AS 2014: 1131) Die Wichtigkeit dieses Artikels wird sich im Laufe der Thesis noch zeigen, vor allem in Bezug auf Gleichberechtigung und Wahlmöglichkeiten, welche vorhanden sein müssten. Gemeinsam bilden also alle Artikel der BRK eine internationale Grundlage, wie die Rechtslage in den ratifizierten Ländern gestaltet werden sollte um auch Menschen mit einer Beeinträchtigung ein möglichst barrierefreies, gleichberechtigtes und gutes Leben zu ermöglichen. Wie könnte man aber «gutes Leben» erfassen? Dieser Frage widmet sich u.a. der Capability – Ansatz.

3.1.3 Capability - Ansatz

Objektive Theorien über das ‘gute Leben’ versuchen aus einem objektiven Blickwinkel zu analysieren, ob jemand ein gutes Leben führt oder nicht (vgl. Felder 2010: 92). Als ein objektiver Ansatz wird auch der weitverbreitete Capability Approach (engl.) bzw. Ansatz (dt.) gesehen. Entwickelt von Amartya Sen, Ökonom, und Martha Nussbaum, Philosophin, dient er in Form eines allgemeinen theoretischen Rahmens mit diversen Anwendungsmöglichkeiten der Analyse des Wohlergehens und sozialer Wohlfahrt (vgl. Lessman 2011: 53). Wie hoch das Wohlergehen einer Person eingestuft wird hängt davon ab «was ein Mensch tut oder ist – seinen erreichten Funktionen (achieved functionings) - und dem, was ein Mensch zu tun oder zu sein in der Lage ist – seinen Verwirklichungschancen (capabilites)» (Lessmann 2011: 54), ohne dabei zu beurteilen, was «gut» ist (vgl. Ziegler/Schrödter/Oelkers 2012: 305). Somit werden auch schon die zwei Kernbegriffe des Ansatzes benennt: functionings und capabilities. Ersterer wird übersetzt auch als Funktion(en) beschrieben und meint Aktivitäten oder Zustände, welche die Person ausführt bzw. erreicht hat. Da zu einem bestimmten Zeitpunkt mehrere Funktionen zusammen wirken werden diese zusammengefasst in ein Funktionenset welches «die faktische Lebenssituation dieser Person und somit die Gesamtheit dessen [beschreibt], was die Person sein und tun kann» (Felder 2010: 96). Capabilities werden auch Verwirklichungschancen genannt und stellen die alternativen Möglichkeiten dar, die ebenfalls unter Nutzung der vorhandenen Funktionen erreicht werden können (vgl. ebd.: 96). Um bestimmte Funktionen – und somit indirekt auch Verwirklichungschancen - erreichen zu können benötigt ein Mensch meist unterschiedliche Ressourcen, Güter und/oder Fähigkeiten; sie werden aber auch beeinträchtigungsbedingt beeinflusst. Die gesamte Menge an Verwirklichungschancen (capability se t) stellen laut Sen (1999) all jede Lebensweisen dar, die unter den genannten Kriterien hypothetisch erreicht werden könnten (vgl. Lessman 2011: 54f.). Der Hauptfokus und zugleich Kernaussage des Capability – Ansatzes besteht darin, dass weniger die realisierten Lebensumstände (Funktionenset) im Hinblick auf das Wohlergehen einer Person eine zentrale Rolle spielen als vielmehr die Möglichkeitsspielräume die sie zur Verfügung hätte um sich für andere Lebensweisen zu entscheiden (vgl. Ziegler et. al. 2012: 305.).

Laut dem Capability – Ansatz wird das Wohlergehen daran gemessen, dass jedem Menschen, ungeachtet dessen ob eine Beeinträchtigung vorliegt, dieselben Wahlmöglichkeiten offenstehen sollten. Zusammenfassend ist zu erwähnen, dass nicht jeder dasselbe Leben führen oder gleich wohnen muss um es als «gut» zu deklarieren. Auch ist es nicht allein entscheidend, für welche Lebensform sich jemand entscheidet – er sollte jedoch die Wahl haben, sich anders entscheiden zu können. So soll auch Diversität gefördert werden und eine möglichst gerechte und gleichgestellte Gesellschaft erzielt werden.

3.1.4 Inklusion

Sowohl die UNO-BRK als auch der Capability – Ansatz haben durch ihre Forderungen, Gleichstellung und Gerechtigkeit allen Menschen gleichermassen zuzugestehen, das Ziel einer inklusiven Gesellschaft. Denn noch heute lässt folgendes Zitat dieses Ziel umso wichtiger erscheinen: «People with severe disabilities and/or complex needs are one of the most excluded groups of citizens in the European Union» (Freyhoff 2008: 4).

Von dem lateinischen Wort «inclusio» abstammend wird der deutsche Begriff Inklusion wortwörtlich mit «Einschliessung» (vgl. Dudenredaktion 2015: 923) übersetzt. Dies könnte wiederrum Anpassungszwänge implizieren und u.a. deshalb ist eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Interpretation des Begriffs unabdingbar. Gerade in Verbindung mit dem in Kapitel 3.1.2 erwähnten Recht auf Selbstbestimmung ist es nicht das von der BRK angestrebte Ziel, eine auf Zwängen und Anpassung beruhende Gesellschaft zu fordern (vgl. Theunissen: 84). Um eine kurze Erläuterung vorzunehmen, in welchem Zusammenhang der Begriff mit der oft in Vergleich gestellten Integration schliesse ich am Gedanken der Anpassungszwänge an. Ebenfalls lateinischer Herkunft bedeutet Integration «Wiederherstellung» (vgl. Dudenredaktion 2015: 930). Um etwas wieder­herzustellen muss es zuerst getrennt sein, um dann mit dem «Input-Prinzip» (Theunissen 2013: 17) wieder das grosse Ganze zu erreichen. Ebenfalls benennt Theunissen in diesem Zusammenhang, dass eine 2-Welten-Theorie vorherrscht. Diese impliziert « […], dass es zwei Welten gibt: zum einen die Welt der behinderten Personen und um anderen die der nichtbehinderten, die als Normalität gilt und zur Norm für alle erklärt wird» (Theunissen 2013: 17). Eine mögliche Schlussfolgerung wäre also, Integration als Ziel zurückzuweisen und durch Inklusion zu ersetzen. Doch Inklusion sei «kein neues Paradigma, sondern der Name für eine neue Phase der seit Jahrzehnten laufenden Integrationsbemühungen» (Speck 2011: 287). Ebenfalls sei Inklusion nicht über alles erhaben und die Lösung für alle Probleme (vgl. ebd.: 91). Es erscheint einleuchtend, dass Integration seit langem ein wichtiger Prozess ist, um Gruppen zusammenzuführen und Segregation entgegenzuwirken; «dabei darf Inklusion nicht auf die Integration von Menschen mit Behinderungen reduziert werden, sondern muss als Leitbild einer auf der Vielfalt menschlichen Lebens beruhenden Gesellschaft verstanden und gelebt werden» (Burckhard/Jäger 2016: 87). Aus dem heutigen Standpunkt ist Integration als Zwischenschritt (vgl. Speck 2011: 287) zum Ziel einer inklusiven Gesellschaft zu sehen, was nicht bedeutet, dass Inklusion über jegliche Kritik erhaben bleibt. Auch ob jemals überhaupt völlige Inklusion entstehen kann wird von Theunissen stark angezweifelt (vgl. 2013: 19f.), geschweige denn heute in einer inklusiven Gesellschaft zu leben (vgl. Burckhart/Jäger 2016: 89).

[...]

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
„Gutes Wohnen“ für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in der Schweiz. Wo besteht Handlungsbedarf für die Soziale Arbeit?
Autor
Jahr
2021
Seiten
76
Katalognummer
V593926
ISBN (eBook)
9783963551345
ISBN (Buch)
9783963551352
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Beeinträchtigung, Wohnen, Schweiz, Capability, BRK, Selbstbestimmung, Empowerment, Assistenz, Gutes Wohnen, Wohnformen, Kognitiv, Wohnsituation, Capability Approach, Sozialräumliche Teilhabe, Inklusion, Normalisierung
Arbeit zitieren
Chantal Burri (Autor:in), 2021, „Gutes Wohnen“ für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung in der Schweiz. Wo besteht Handlungsbedarf für die Soziale Arbeit?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/593926

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