Kinderliteratur verfolgt seit jeher eine Absicht und hat eine besondere Wirkung auf Kinder. Verschiedene Studien belegen, dass sich Kinder bestimmte Verhaltensweisen aus den Büchern, wie Essgewohnheiten, abschauen. Der Einfluss von Kinderbüchern auf den Erwerb sozialer Kompetenzen ist bislang noch nicht geklärt.
Auf welche Weise kann das (Vor-)Lesen von Kinderbüchern soziale Kompetenzen fördern? Regt Kinderliteratur bestimmte soziale Kompetenzen mehr an als andere? Und inwieweit kann man potenzielle Handlungsweisen von Kindern auf Bücher zurückführen?
Diese Publikation beleuchtet Chancen und Grenzen von Kinderliteratur im Hinblick auf die Förderung sozialer Kompetenzen. Anhand von ausgewählten Kinderbüchern erläutert sie, wie Kinder die dargestellten Verhaltensweisen wahrnehmen und in ihr Verhalten einbeziehen. Außerdem enthält dieses Buch Tipps, wie Lehrer Kinderliteratur sinnvoll in den Unterricht integrieren können.
Aus dem Inhalt:
- soziales Lernen;
- Mobbingprävention;
- soziale Kompetenz;
- Modellernen;
- Toleranzbereitschaft
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Einleitung
1 Kinderliteratur
1.1 Ziele von Kinderliteratur im Wandel der Zeit
1.2 Bedeutung des (Vor-)Lesens von Kinderliteratur für die Entwicklung
2 Soziale Kompetenz
2.1 Dimensionen sozialer Kompetenz
2.2 Bedeutung des sozialen Lernens für Mobbingprävention
2.3 Entwicklung sozialer Kompetenzen
3 Entwicklung und Beschreibung des Kriterienkataloges
3.1 Das Kinderbuch Uli Unsichtbar
3.2 Rechtfertigung der Buchauswahl
4 Relevante Kompetenzbereiche für die Studie
5 Forschungsanliegen und Fragestellungen der vorliegenden Studie
5.1 Können soziale Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern durch das Lesen von Kinderliteratur gefördert werden?
5.2 Werden die Bereiche sozialer Kompetenz in unterschiedlichem Maße gefördert?
5.3 Profitieren Jungen und Mädchen gleichermaßen von einer Protagonistin als Modell?
5.4 Sind Veränderungen der Handlungsweisen abhängig von der Sympathie, die die Schülerinnen und Schüler der Protagonistin entgegenbringen?
5.5 Stehen Veränderungen im kindlichen Verhalten im Zusammenhang mit den im Buch präsentierten Verhaltensweisen und Einstellungen?
6 Methodik
6.1 Methodenbeschreibung
6.2 Beschreibung der Stichprobe
6.3 Beschreibung des Erhebungsinstruments
6.4 Durchführung
6.5 Methode der Datenauswertung
7 Darstellung der Ergebnisse
7.1 Können soziale Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern durch das (Vor-) Lesen von Kinderliteratur gefördert werden?
7.2 Werden die Bereiche sozialer Kompetenz in unterschiedlichem Maße gefördert?
7.3 Profitieren Jungen und Mädchen gleichermaßen von einer Protagonistin als Modell?
7.4 Sind Veränderungen der Handlungsweisen abhängig von der Sympathie, die die Schülerinnen und Schüler der Protagonistin entgegenbringen?
7.5 Stehen Veränderungen im kindlichen Verhalten im Zusammenhang mit den im Buch präsentierten Verhaltensweisen und Einstellungen?
8 Diskussion
8.1 Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der empirischen Studie
8.2 Methodenkritische Betrachtung
9 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Impressum:
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Covergestaltung: GRIN Publishing GmbH
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1. Darstellung der Punktverteilung der 110 kompetenzbezogenen Aussagen der 22 Schülerinnen und Schüler im Pre- und Posttest
Abbildung 2. Darstellung der Punktverteilung der 22 Schülerinnen und Schüler im Pre- und Posttest in den einzelnen Kompetenzbereichen
Abbildung 3. Darstellung der Punktverteilung im Pre- und Posttest in Abhängigkeit vom Geschlecht
Abbildung 4. Darstellung der Punktverteilung in Abhängigkeit von der für die Protagonistin empfundenen Sympathie
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Zieldimensionen sozialen Lernens
Tabelle 2 Dimensionen sozialer Kompetenz
Tabelle 3 Niveaustufen des Bereichs Toleranzbereitschaft
Tabelle 4 Statistik für den Pre- und Posttesta
Tabelle 5 Statistik für die fünf Kompetenzbereichea
Tabelle 6 Statistik für den Pre- und Posttest in Abhängigkeit vom Geschlechta
Tabelle 7 Statistik für den Pre- und Posttest in Abhängigkeit von der Sympathie für die Protagonistina
Tabelle 8 Darstellung der Hauptkategorien und der induktiv gebildeten Unterkategorien
Einleitung
Kinderliteratur verfolgt seit jeher eine Absicht. Während die Kinderliteratur im Zweiten Weltkrieg vor allem der Vermittlung nationalsozialistischer Lehren diente, zielt sie in der heutigen Zeit insbesondere auf die Entwicklung von Lesekompetenz und literarischer Sozialisation ab (Ewers, 2004). So beschreibt auch die Autorin Astrid Frank, welches Anliegen ihr Kinderbuch Uli Unsichtbar hat: Uli Unsichtbar ist […] mit der Zielsetzung entstanden, das Thema [Mobbing] bereits für Grundschüler altersgerecht und lösungsorientiert aufzubereiten, da es selbst in dieser Altersgruppe bereits häufig zu Mobbinghandlungen kommt, die oftmals nicht als solche wahrgenommen und verstanden werden. Genau genommen wäre es exakt mein Wunsch, dass die [Leserinnen und Leser] sich durch die Beschäftigung mit Ulis Geschichte und mit der Person „Ulrike“ und ihrem Handeln mit ihrem eigenen Verhalten auseinandersetzen und so (wieder) zu einer Handlungskompetenz innerhalb dieser gruppendynamischen Prozesse gelangen. (A. Frank, persönliche Mitteilung, 30.03.2019)
Astrid Frank ist nur eine von vielen Autorinnen und Autoren, die Kinderbücher zum Thema Mobbing verfasst haben, mit dem Wunsch, Veränderungen zu bewirken. Auch Werke wie Aygen-Sibel Çeliks Alle gegen Esra, Jan de Kinders Tomatenrot: oder Mobben macht traurig, Michael Gerard Bauers Nenn mich nicht Ismael und viele mehr zielen auf eine altersgerechte Aufbereitung dieser Thematik ab. Und dies scheint auch notwendig, denn dass Mobbing ein aktuelles Thema im Bereich der Grundschule ist, beschreibt beispielsweise Schubarth: „Mobbing scheint nicht nur an weiterführenden Schulen, sondern auch an Grundschulen und auch in Kindergärten ein Alltagsproblem zu sein“ (Schubarth, 2013, S. 81). Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass es „den Kindern in diesem Alter insgesamt noch an sozialen Kompetenzen im Umgang miteinander […] [fehlt]“ (Schubarth, 2013, S. 81). Mobbing könnte demnach durch die Förderung sozialer Kompetenzen im Umgang miteinander begegnet werden. Daher fordern Werner (2013) und Jannan (2010), schon in der Grundschule mit präventiver Arbeit anzusetzen, um die Wahrscheinlichkeit einer Entstehung von Mobbing zu reduzieren.
Zwar existieren bereits einige Interventions- und auch Präventionsprogramme für die Grundschule, um Mobbing entgegenzuwirken, allerdings sind diese meist zeitintensiv und lassen sich nur schwer in den Regelunterricht integrieren. Auch auf Kinderliteratur kann in diesem Zusammenhang zurückgegriffen werden. Im Gegensatz zu den Programmen lässt sich Kinderliteratur einfacher in den Unterricht einbinden. In der Regel findet dann eine intensive Auseinandersetzung mit der jeweiligen Lektüre statt, häufig in Form von literarischem Lernen. Autorinnen und Autoren wie Astrid Frank sehen die Notwendigkeit einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem Thema:
Dass [eine reflektierte Auseinandersetzung] in der Regel natürlich nicht allein durch das Lesen des Buches geschieht, sondern dafür zum Beispiel im Rahmen des Unterrichts auch eine geführte Auseinandersetzung notwendig ist, ist mir selbstverständlich bewusst. Mein Wunsch wäre es, dass „Uli Unsichtbar“ in möglichst vielen Klassen als Klassenlektüre gelesen wird und die [Lehrpersonen] die Geschichte zum Anlass nehmen, sich gemeinsam mit den [Schülerinnen und Schülern] mit dem Thema Mobbing zu beschäftigen. (A. Frank, persönliche Mitteilung, 30.03.2019)
Doch verschiedene Studien, beispielsweise die von Duncker (1938), zeigen auf, dass Buchmodelle Verhaltensweisen von Kindern – in seiner Untersuchung die Übernahme von Essgewohnheiten – auch ohne eine anschließende gemeinsame Auseinandersetzung beeinflussen können. Bezüglich der Förderung sozialer Kompetenzen existieren noch keine Forschungen mit Buchmodellen. Anders verhält es sich mit der Forschungslage im Hinblick auf den Erwerb von Verhaltensweisen durch symbolische Modelle, derer sich Film und Fernsehen bedienen. In diesem Bereich gibt es bereits Studien. Dass ein Lernen am Modell gelingen kann, zeigt beispielsweise Bandura mit seinem Bobo-Doll Experiment, in dem Kinder aggressive Verhaltensweisen eines Modells aus einem Video übernehmen.
Aber wie verhält es sich mit dem Erwerb sozialer Kompetenzen mit Hilfe literarischer Modelle? Es stellt sich die Frage, welche Wirkung das bloße (Vor-)Lesen von Kinderliteratur bereits für Kinder haben kann, wenn ein Buch ein Modell entsprechend Banduras Kriterien fürs Modelllernen bereitstellt?
Stellt das (Vor-)Lesen von Kinderliteratur in der Grundschule, zum Beispiel während der Frühstückspause oder beim eigenständigen Lesen während der Lesezeiten, bereits eine Möglichkeit dar, (fehlende) Kompetenzen zu entwickeln beziehungsweise vorhandene Kompetenzen zu fördern? Wäre dies der Fall, könnte schon dort, ohne didaktisches Zutun, mit der Mobbingprävention angesetzt werden. So könnten vor allem Lehrkräfte Bücher mit dem Ziel auswählen, eine Förderung sozialer Kompetenzen mit Hilfe literarischer Modelle zu bewirken.
In der Arbeit soll sich deshalb mit dieser Frage auseinandergesetzt und Einblicke in die Chancen sowie Grenzen von Kinderliteratur im Hinblick auf die Förderung sozialer Kompetenzen gewonnen werden. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob soziale Kompetenzen durch das (Vor-)Lesen von Kinderliteratur gefördert werden können. Diese Frage wird in Unterfragen differenziert, um genauere Einblicke zu erhalten. Zum Einen wird hierfür untersucht, ob die verschiedenen Komponenten sozialer Kompetenz im gleichen Maß gefördert werden und inwieweit die potentiellen Handlungsweisen der Schülerinnen und Schüler auf das Buch zurückgeführt werden können. Zum Anderen soll der Frage nachgegangen werden, ob Jungen und Mädchen in gleicher Weise von einer Protagonistin profitieren und eine Veränderung in den kompetenzbezogenen Aussagen im Zusammenhang mit der für die Protagonistin empfundenen Sympathie steht.
Nach Schaffung eines Überblicks über den kontrovers diskutierten Begriff der Kinderliteratur und die hierfür bedeutsame historische Entwicklung werden die sich im Laufe der Zeit verändernden Ziele der Kinderliteratur näher beleuchtet. Im Anschluss daran wird die Bedeutung des (Vor-)Lesens von Kinderliteratur für die Entwicklung des Kindes und insbesondere für die Förderung sozialer Kompetenz herausgearbeitet. Im nächsten Kapitel wird der für die Arbeit zugrunde gelegte Begriff der sozialen Kompetenz zunächst definiert. In einem weiteren Kapitel wird der Begriff vertiefend dargestellt, indem ein Überblick über verschiedene Dimensionen sozialer Kompetenz gegeben wird. Anschließend wird die Bedeutung sozialer Kompetenzen für die Mobbingprävention beleuchtet. Es wird die Entwicklung sozialer Kompetenzen näher betrachtet, um darauf folgend das Modelllernen nach Bandura als eine Möglichkeit der Entwicklung sozialer Kompetenz zu thematisieren. Dieses Kapitel leitet über zu dem Schwerpunkt dieser Arbeit: Soziales Lernen mit Hilfe von Kinderliteratur. Hier wird zunächst auf theoretisch beruhenden Aussagen die Möglichkeit sozialen Lernens durch literarische Modelle erläutert. Zur Begründung des Forschungsanliegens werden aktuelle Forschungsbefunde zum sozialen Lernen anhand literarischer Modelle aufgeführt. Nachdem ein Überblick über die theoretischen Hintergründe stattgefunden hat, findet im weiteren Verlauf die Entwicklung und Beschreibung des Kriterienkatalogs auf der Grundlage von Petillons Modell der fünf Dimensionen sozialer Kompetenz und seinen Zieldimensionen sozialen Lernens statt. Danach wird das anhand der Kriterien ausgewählte Kinderbuch Uli Unsichtbar kurz inhaltlich vorgestellt. Es folgt die Rechtfertigung der Buchauswahl anhand der zuvor herausgearbeiteten Kriterien. Anschließend werden die Kriterien herausgestellt, die im Fokus der Arbeit stehen und auf deren Grundlage das Niveau der sozialen Kompetenz beurteilt wird. Der Theorieteil der Arbeit schließt mit der Darstellung der Fragestellungen und der Formulierung von erwarteten Ergebnissen der Studie ab.
Der empirische Teil der Arbeit setzt bei der Methodenbeschreibung an. Es folgen die Beschreibung des Erhebungsinstruments, der Durchführung sowie der Methode der Auswertung. Im Anschluss werden die Ergebnisse dargestellt. Diese werden interpretiert und diskutiert. Daran schließt sich die Methodenkritik an. Zuletzt wird ein Fazit gezogen und ein kurzer Ausblick für den Nutzen der Ergebnisse sowie auf weiterführende Studien gegeben.
1 Kinderliteratur
In der Literatur wird der Begriff Kinder- und Jugendliteratur kontrovers diskutiert. So bezeichnen Thiele und Steitz-Kallenbach (2003) Kinder- und Jugendliteratur als eine interdisziplinäre Kultur, die durch Sprache, Text und Bilder in verschiedenen medialen Zusammenhängen und Lebenssituationen auf Kinder und Jugendliche wirkt. Kaminski (1994) gliedert die Kinder- und Jugendliteratur nach ihrem Ursprung auf, die er in drei verschiedenen Quellen sieht: in von Autoren speziell für diese Zielgruppe geschaffenen Texten, in der Volksliteratur und zuletzt auch in Texten, die aus der Erwachsenenliteratur übernommen wurden. Schon diese Definitionen verkörpern zwei unterschiedliche Auffassungen, die jedoch nur zu einem oberflächlichen Verständnis des Begriffs beitragen können. Aus diesem Grund wird im Folgenden auf eine umfangreiche und detaillierte Sammlung von Definitionen des Begriffs Kinder- und Jugendliteratur Bezug genommen, die sich bei Hans-Heino Ewers findet.
Ewers (2005) bezeichnet Kinder- und Jugendliteratur als „kulturelles Phänomen“ (S. 2), das verschiedene Aspekte beinhaltet und sich daher aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten lässt.
Zunächst kann unter Kinder- und Jugendliteratur die von Kindern und Jugendlichen tatsächlich konsumierte Literatur verstanden werden. Die Gesamtheit der von Kindern und Jugendlichen konsumierten Literatur kann in intendierte und nicht-intendierte Kinder- und Jugendliteratur unterteilt werden. Bei intendierter Kinderliteratur handelt es sich um Texte, die nach der Vorstellung der Erwachsenen von Kindern gelesen werden sollten und auch tatsächlich gelesen werden. Nicht-intendierte Literatur kann unbemerkt bleiben und wird daher auch als heimliche Lektüre bezeichnet. Sie kann aber auch geduldet werden. Wird sie hingegen aktiv unterbunden, wird von der sogenannten verbotenen Lektüre gesprochen. Für den Fall, dass nicht-intendierte Lektüre nachträglich für gut befunden wird, kann sie jedoch noch Teil der intendierten Kinder- und Jugendliteratur werden (Ewers, 2005).
Kinder- und Jugendliteratur kann aber auch als solche Literatur verstanden werden, die den Vorstellungen von Erwachsenen nach von Kindern und Jugendlichen gelesen werden sollte, unabhängig davon, ob Kinder und Jugendliche diese gerne rezipieren. Diese Definition versteht Kinder- und Jugendliteratur als intentionale Literatur. Sie lässt sich nach dieser Definition in sanktionierte und negativ sanktionierte (kommerzielle) Kinder- und Jugendliteratur aufgliedern (Ewers, 2005). Sanktionierte Literatur bezeichnet dabei die Gesamtheit der Literatur, die den Erwartungen pädagogischer, literarischer und kirchlicher Instanzen entspricht. Negativ sanktionierte Literatur bezeichnet im Gegensatz dazu die Literatur, die ohne Beachtung gesellschaftlich anerkannter Bewertungsinstanzen verlegt wird. Unter Kinder- und Jugendliteratur können auch die Texte gefasst werden, die speziell für diesen Leserkreis geschrieben wurde, die so genannte spezifische Kinder- und Jugendliteratur. Dieses Verständnis von Kinder- und Jugendliteratur beruht ebenfalls auf der intentionalen Definition der Kinder- und Jugendliteratur (Ewers, 2005).
Wie sich erkennen lässt, überschneiden sich die Definitionen teilweise stark, jedoch ohne deckungsgleich zu sein. Die vorangegangenen Definitionen sind literaturbezogen eingeordnet. In einigen Definitionen teilt Ewers (2005) die Kinder- und Jugendliteratur nach ihren Strukturmerkmalen ein. Diese textbezogenen Definitionen bezeichnen „historisch ausgebildete Spielarten, Tendenzen oder Teilbereiche“ (Ewers, 2005, S .9) und beziehen sich auf „historisch wesentliche, teils auch unveräußerliche Funktionen der Kinder- und Jugendliteratur“ (Ewers, 2005, S. 9). Daher erweisen sie sich für eine Gegenstandeingrenzung als zu eng und daher ungeeignet.
Dieser Arbeit wird die Definition der intendierten Kinderliteratur zugrunde gelegt.
Die Fülle der unterschiedlichen Definitionsversuche macht deutlich, wie komplex der Begriff der Kinder- und Jugendliteratur ist. Ebenso vielschichtig wie der Begriff der Kinder- und Jugendliteratur sind auch ihre Ziele, die sich im Laufe der Zeit verändert haben. Die Ursache der vielfältigen Definitionen liegt daher auch in ihrer geschichtlichen Entwicklung begründet. Aus diesem Grund soll im Folgenden darauf näher eingegangen werden.
1.1 Ziele von Kinderliteratur im Wandel der Zeit
Erst nach der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt sich die Kinder- und Jugendliteratur von der Erwachsenenliteratur zu separieren und als eigenständige Literaturform herauszubilden. Die bis zu diesem Zeitpunkt an Kinder und Jugendliche adressierten Werke dienen vor allem erzieherischen Zwecken. Zu Unterhaltungszwecken wird auf allgemein zugängliche Angebote zurückgegriffen, bei denen es sich hauptsächlich um „volksläufige Lesestoffe“ handelt (Brunken, 2005, S. 18).
In der Aufklärung wird zwischen vorphilanthropischer und philanthropischer Kinder- und Jugendliteratur unterschieden. Während im Vorphilanthropismus davon ausgegangen wird, dass das Kindes ein Vernunftwesen ist, dessen fertiges Bild der Welt nur noch geordnet werden muss, muss nach der im Philanthropismus herrschenden Meinung die Kinder- und Jugendliteratur dem altersspezifischen Verständnis angepasst werden (Kaminski, 1994). Besonders für Mädchen erfüllt die Literatur zu dieser Zeit eine moralisch belehrende Funktion und gilt als Mittel einer „allgemeinen Tugend- und Vernunftserziehung“ (Grenz, 1981, S. 181).
Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt sich die Kinder- und Jugendliteratur im Zuge der Romantik zu einem eigenständigen Literatursystem mit eigenen Gattungen und Funktionen. Zunächst findet eine Trennung von Kinderliteratur und Jugendliteratur statt, später wird auch noch eine Abgrenzung zur Kleinkindliteratur vorgenommen (Brunken, 2005). Die Kinder- und Jugendliteratur der Romantik legt den Fokus auf künstlerisch literarische Aspekte, verfolgt jedoch in der Zeit davor und danach hauptsächlich pädagogische Absichten (Kaminski, 1994).
Mit dem technischen Fortschritt Ende des 19. Jahrhunderts werden durch die Massenproduktion von Unterhaltungsliteratur, die weitestgehend ohne spezifische Adressierungen sind, die Übergänge zwischen der Erwachsenen- und Kinder- und Jugendliteratur fließender. Zeitgleich bildet sich eine spezifische Mädchen- und Jungenliteratur heraus (Brunken, 2005). Ziel dieser Literatur ist es, Mädchen ein gesellschaftlich anerkanntes Benehmen zu lehren, während bei Jungen durch kriegsverherrlichende und patriotische Literatur das Interesse an Krieg und dem Soldatenleben geweckt werden soll. Auch die Bedeutung der künstlerischen Aspekte der Kinder- und Jugendliteratur und eine ästhetische Erziehung gewinnen zusehends an Bedeutung (Kaminski, 1994).
Nach Ende des Ersten Weltkriegs wird in Büchern hauptsächlich das Zeitgeschehen kritisiert. Parallel entwickelt sich eine proletarische Kinder- und Jugendliteratur, die die politische, wirtschaftliche und ideologische Ungerechtigkeit in der Gesellschaft thematisiert. Diese sozialistisch realistischen Geschichten zielen auf eine kommunistische Erziehung ab (Kaminski, 1994).
In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg übernimmt die Literatur immer mehr die Funktion eines Propagandamittels (Brunken, 2005).
Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs dient die Kinder- und Jugendliteratur vor allem der Vermittlung nationalsozialistischer Lehren, der Erziehung zu Gehorsam und Disziplin und damit der Erziehung von Jungen zu Soldaten. Kinder- und Jugendliteratur wird auf ihre funktionalen Eigenschaften beschränkt. Künstlerische Aspekte rücken weit in den Hintergrund (Kaminski, 1994).
In den 60er Jahren regt die Kinder- und Jugendliteratur der Bundesrepublik Deutschland immer mehr zum Nachdenken an. Die Geschehnisse des Dritten Reiches werden nicht länger verschwiegen. Die entscheidende Wende lässt sich auf das Jahr 1968 datieren. Zu dieser Zeit werden neue Verlage, beispielsweise der C. Bertelsmann Jugendbuchverlag, gegründet. Mit diesen setzt sich das antiautoritäre Kinderbuch durch, das „kindliche Erfahrungsweisen und Lebenswelten in ihrer Unabhängigkeit von den Erwartungen und Wertvorstellungen der Erwachsenenwelt […] thematisier[t]“ (Ewers, 2004, S. 3). Es entsteht auf der einen Seite die phantastische und auf der anderen Seite die realistische Literatur. Themen wie Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Probleme dominieren die Kinder- und Jugendliteratur und werden mittels Weltuntergangsstimmung oder moralischer Aufforderung zu Veränderungen aufgegriffen (Kaminski, 1994).
Im Gegensatz dazu findet sich in der Kinderliteratur der DDR noch immer der pädagogische Zeigefinger (Kaminski, 1994). Nach und nach setzt sich jedoch eine politisch orientierte Literatur durch, die an der Gegenwart ansetzt und zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft beitragen soll.
Mit den 70er und 80er Jahren verfolgt die Kinder- und Jugendliteratur das Ziel, Kinder zu ermutigen, ihre Wünsche zu äußern und Erwachsene aufzufordern, ein für die Kinder förderliches soziales Umfeld zu schaffen. Aufklärende und problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur gewinnt zusehends an Bedeutung (Richter, 2005).
Immer mehr muss sich Kinder- und Jugendliteratur gegen eine neue Medienlandschaft durchsetzen. Teilweise lässt sich die Kinder- und Jugendliteratur auf die moderne Unterhaltungskultur ein und unterliegt dadurch einem enormen Wandlungsdruck. Dabei muss sowohl ein literarischer Wandel, der Inhalte und Themen betrifft, als auch ein Wandel der literarischen Techniken und Formen vollzogen werden. Dabei hat sich die Funktion der Kinder- und Jugendliteratur verändert. Es entwickelt sich die sogenannte Anfänger- beziehungsweise Einstiegsliteratur. Zwar bietet die Kinderliteratur seit jeher einen Einstieg in die Schriftkultur, doch wurde hierfür bisher keine eigene Buchgattung entwickelt. Kinderliteratur dient jetzt vor allem der Entwicklung von Lesekompetenz und literarischer Sozialisation (Ewers, 2004).
Der geschichtliche Rückblick der Entstehung der Kinder- und Jugendliteratur verdeutlicht, welche unterschiedlichen Absichten mit ihr verfolgt wurden. Kinder- und Jugendliteratur diente nicht nur Unterhaltungszwecken, sondern wurde vor allem eingesetzt, um pädagogische Absichten zu verfolgen und Einstellungen und Verhaltensweisen Heranwachsender zu beeinflussen. Auch heute noch wird Kinder- und Jugendliteratur verwendet, um bestimmte Intentionen zu verfolgen und auf die kindliche Entwicklung Einfluss zu nehmen. Darauf soll im folgenden Kapitel näher eingegangen werden.
1.2 Bedeutung des (Vor-)Lesens von Kinderliteratur für die Entwicklung
Im vorangegangenen Kapitel wurde aufgezeigt, dass die Ziele von Kinder- und Jugendliteratur einem zeitlichen Wandel unterlegen haben. Wie zuvor erwähnt, wird Kinder- und Jugendliteratur auch heute noch eingesetzt, um bestimmte Ziele zu verfolgen.
Dem Vorlesen kommt dabei eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Für Schülerinnen und Schüler der Grundschule stellt Lesen einen mühsamen Prozess des Dekodierens dar. „Die Schwierigkeit, die einzelnen Wörter als sinnvolle Wörter zu dekodieren, führt häufig dazu, dass viele [Leserinnen und Leser] nicht zu einem vollständigen Textverstehen gelangen“ (Garbe, Holle & Jesch, 2009, S. 107). Dementsprechend fällt es ihnen noch schwer, Literatur zu genießen und die Literatur kann auch nur eingeschränkt auf Kinder wirken. In seiner literarisch-ästhetischen Funktion ermöglicht das Vorlesen Kindern, am literarischen Leben teilnehmen zu können, ohne selbst zu lesen (Garbe, Holle & Jesch, 2009).
Das Vorlesen erfüllt darüber hinaus noch weitere Funktionen. In seiner kulturellen Funktion kommt dem Vorlesen eine „Schlüsselqualifikation bei der Aufnahme und Verwertung von Informationen [zu]“ (Gressnich, Müller & Stark, 2015, S. 181). Bücher sollen Kinder unterstützen, ihre Umwelt besser zu verstehen. Außerdem zeigt Kinder- und Jugendliteratur Heranwachsenden neue und bekannte Dinge auf und führt sie in reales und fantastisches Geschehen ein (Marquardt, 1995). Zudem ermöglicht sie Erfahrungen mit der „konzeptionellen Schriftlichkeit im Medium der Mündlichkeit“ (Gressnich, Müller & Stark, 2015, S. 182).
Weiter können kognitive Fähigkeiten gefördert werden. Vorlesen hilft Kindern, Vorstellungsbilder zu entwickeln, die gleichzeitig zu einem besseren Textverständnis beitragen können. Zusätzlich werden sowohl das Zuhören als auch die Konzentration im Hinblick auf das Verstehen gefördert (Gressnich, Müller & Stark, 2015).
Das Vorlesen und Lesen von Kinderliteratur kann auch die Sprachentwicklung positiv beeinflussen (Marquardt, 1995). Mit Hilfe von Anschlusskommunikation können Kinder dabei unterstützt werden, über das Gelesene nachzudenken. Auf diese Weise kann der sprachliche Ausdruck verbessert und der Wortschatz erweitert werden. Durch das Reflektieren der Erfahrungen literarischer Figuren werden Kinder angeregt, über ihre eigene Lebenssituation nachzudenken. Sie bekommen eine „Vielzahl von Lebensentwürfen [präsentiert], die ihr Potenzial an Lebensgestaltungen erweitern“ (Gressnich, Müller & Stark, 2015, S. 183).
Eine weitere wichtige Bedeutung nimmt die Kinder- und Jugendliteratur im Hinblick auf die Entwicklung von Sozialkompetenzen ein. Das Vorlesen und die daraus entstehende emotionale Bindung an die vorlesende Person erleichtern das Einfühlen in literarische Figuren (Gressnich, Müller & Stark, 2015). Auf diese Weise wirken Bücher auf die Persönlichkeitsbildung von Kindern. Sie helfen ihnen bei der Selbstfindung oder machen ihnen Mut. Außerdem kann das Lesen von Kinderliteratur ihr Selbstvertrauen stärken und ihre Kritikfähigkeit verbessern (Marquardt, 1995). Zu beachten ist hierbei, dass Wirkungsmöglichkeiten meist nur dann erfolgversprechend sind, wenn Kinder noch nicht über festverwurzelte Meinungen und Werte verfügen (Sahr, 1981).
Die vorangegangenen Wirkungsweisen werden in der Schule beispielsweise mit Hilfe des literarischen Lernens nach Spinner (1999) unterstützt, auf das im Rahmen dieser Arbeit aber nicht näher eingegangen werden soll.
Das Kapitel Kinderliteratur sollte zum Einen eine Vorstellung von dem kontrovers verwendeten Begriff der Kinder- und Jugendliteratur vermitteln, und zum Anderen ihre vielfältigen und sich im Laufe der Zeit verändernden Ziele aufzeigen. Ein Ziel, das mit Kinderliteratur verfolgt wird, ist die Entwicklung von Sozialverhalten. Da in dieser Arbeit der Fokus auf der Förderung sozialer Kompetenzen durch das (Vor-)Lesen von Kinderliteratur liegen soll, wird zunächst der Begriff der sozialen Kompetenz definiert.
2 Soziale Kompetenz
Für den Begriff soziale Kompetenz existiert keine allgemeingültige Definition (Böttcher & Lindart, 2009). Daher werden im Folgenden zum besseren Verständnis dieses Konstrukts verschiedene Definitionsversuche vorgestellt und erläutert.
Bereits über den Begriff Kompetenz herrscht kein einheitliches Verständnis. Zum Einen werden unter dem Kompetenzbegriff die Verhaltenspotentiale eines Individuums verstanden, zum Anderen sind damit sein konkretes Verhalten beziehungsweise Konsequenzen gemeint (Kanning, 2009). In dieser Arbeit soll der Begriff Kompetenz für das Potential eines Individuums stehen, bestimmte Verhaltensweisen zeigen zu können (Kanning, 2009).
Die „soziale Kompetenz“ oder auch „Sozialkompetenz“ (Brohm, 2009, S. 9) beschreibt ein Konstrukt, das sich auf eine „Teilmenge der Gesamtheit aller Kompetenzen“ (Kanning, 2009, S. 14) bezieht, über die ein Mensch verfügt. Nach Kanning (2009) lassen sich drei wesentliche Definitionsansätze sozialer Kompetenz zusammenfassen.
Vertreter der klinischen Psychologie nehmen an, dass soziale Kompetenz von einem besonders hohen Maß an Durchsetzungsfähigkeit bestimmt ist (Kanning, 2009). So definieren beispielsweise Hinsch und Pfingsten (2015) soziale Kompetenz aus klinisch-verhaltens-therapeutischer Perspektive als „die Verfügbarkeit und Anwendung von kognitiven, emotionalen und motorischen Verhaltensweisen […]“ (S. 18). Als Intention für die Entwicklung sozialer Kompetenz betonen sie insbesondere das Eigeninteresse (Hinsch & Pfingsten, 2015).
Die Entwicklungspsychologie hingegen setzt die Entwicklung sozialer Kompetenzen mit der Anpassung des Individuums an seine Umwelt gleich. Ein Individuum besitzt dann eine hohe Sozialkompetenz, wenn es ihm gelingt, sich an die Werte, Normen und den daraus entstandenen Verhaltensregeln der jeweiligen Gesellschaft anzupassen (Kanning, 2009). Auch Roth (1971) unterstützt diese Definition sozialer Kompetenz und leitet daraus das Wohlergehen der Gesellschaft als Hauptziel des sozialen Kompetenzerwerbs ab.
Ein dritter Versuch, Sozialkompetenz zu definieren, verbindet die vorangegangenen Positionen. In diesem Definitionsversuch wird sozial kompetentes Verhalten als ein Kompromiss zwischen der Anpassung des Individuums an seine Umwelt und der Durchsetzung seiner eigenen Interessen verstanden. Sozial kompetent bedeutet demnach, in der Lage zu sein, „eigene Interessen durch soziale Interaktionen zu verwirklichen, ohne dabei jedoch die Interessen seiner Interaktionspartner zu verletzen“ (Kanning, 2009, S.15). Sowohl das gesamtgesellschaftliche Wohlergehen als auch das Eigeninteresse sind dabei bedeutend für die Entwicklung sozialer Kompetenzen (Kanning, 2009).
In dieser Arbeit wird soziale Kompetenz als „Gesamtheit des Wissens, der Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person, welche die Qualität eigenen Sozialverhaltens – im Sinne sozial kompetenten Verhaltens – fördert“ (Kanning, 2009, S. 15), definiert.
2.1 Dimensionen sozialer Kompetenz
Nach diesem ersten Überblick ist zu klären, welche Fähigkeiten beherrscht werden müssen, um über soziale Kompetenz zu verfügen. Es zeigt sich jedoch, dass die Frage nach den Teilkompetenzen sozialer Kompetenz unterschiedlich beantwortet werden kann.
Reschke (1995) gliedert soziale Kompetenz in zwei Dimensionen. Die erste Dimension umfasst die sogenannte allgemeine soziale Kompetenz. Diese Form der Kompetenz weist jedes Individuum in einer gewissen Ausprägung auf. Gemeint sind unter anderem Empathie oder Extraversion. Allgemeine soziale Kompetenzen sind durch „keinerlei Spezifizierung im Hinblick auf bestimmte Situationen gekennzeichnet“ (Kanning, 2009, S. 18). Die zweite Dimension bilden die anforderungsspezifischen sozialen Kompetenzen. Diese Form der sozialen Kompetenz besitzen nur diejenigen, die über entsprechende Lernerfahrungen, zum Beispiel durch Berufsausbildung, verfügen (Reschke, 1995).
Sowohl die allgemeinen als auch die anforderungsspezifischen sozialen Kompetenzen können „entscheidend zur Generierung eines sozial kompetenten Verhaltens in einer konkreten Situation beitragen“ (Kanning, 2009, S. 19). Welche Kompetenzen in einer sozialen Interaktion bedeutend sind, hängt von den jeweiligen Anforderungen einer konkreten Situation ab (Kanning, 2009).
Eine weitere Antwortmöglichkeit auf die Frage nach Teilkompetenzen bietet Petillon (2017). Sein Modell repräsentiert fünf Dimensionen sozialer Kompetenz: Kontakt, Kommunikation, Perspektivübernahme, Kooperation und Konflikt. Die genannten Kompetenzbereiche können sich dabei ergänzen oder überschneiden. Unter der Dimension Kontakt wird die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme und -gestaltung verstanden. Verbale und nonverbale Fähigkeiten, die dem Individuum ermöglichen, Konflikte auszuhandeln und kooperative Situationen zu gestalten, fallen unter den Begriff der Kommunikation. Die Dimension der Perspektivenübernahme schließt ein, dass das Individuum in der Lage ist, die Perspektive anderer einzunehmen, sich in andere einzufühlen und darüber hinaus auch „die Folgen des eigenen Handelns für andere […] zu verstehen“ (Warneken, 2013, S. 90). Daneben spielt auch die Kooperations- und Konfliktfähigkeit eine bedeutende Rolle. Während Kooperationsfähigkeit die Fähigkeit beschreibt, Gruppensituationen und die dort gestellten Aufgaben zu bewältigen, umfasst Konfliktfähigkeit die Voraussetzungen zur Gestaltung konstruktiver Konfliktlösungen. Dabei kommt insbesondere dem Erwerb von adäquaten Konfliktlösestrategien eine bedeutende Rolle zu; denn dieser zählt zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben in der frühen und mittleren Kindheit (Shantz & Hartup, 1995).
Weiter entwickelt Petillon, basierend auf seinem Modell der fünf Dimensionen, mit Unterstützung einer Expertenbefragung von Pädagogen einen umfassenden Kompetenzkatalog, der die Ziele sozialen Lernens repräsentiert. Die in der Literatur genannten sozialen Kompetenzen werden mit Hilfe einzelner Dimensionen systematisch zusammengefasst, sind aber dennoch als ganzheitliches Konzept zu verstehen. Die Zieldimensionen sind eng miteinander verbunden und können sich auch gegenseitig überlappen, da sie sowohl Voraussetzung als auch Folge füreinander darstellen können (Petillon, 2017). Bei den jeweiligen Zieldefinitionen wird zwischen Fähigkeit und Bereitschaft differenziert. Fähigkeit bedeutet, dass die Kinder über spezifisches soziales Wissen und Können verfügen, während Bereitschaft die Fähigkeit beinhaltet, dieses Wissen im Umgang mit anderen anzuwenden (Petillon, 2017). Im Folgenden werden die Zieldefinitionen kurz dargestellt:
Tabelle 1 Zieldimensionen sozialen Lernens
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es wird deutlich, dass die verschiedenen Zieldimensionen übergreifend sind und inhaltlichen Spielraum bieten. Das bedeutet, dass diese für die Praxis entsprechend den Prioritäten der Lehrkraft konkretisiert werden müssen (Petillon, 2017).
Insgesamt betonen die verschiedenen Antwortmöglichkeiten auf die Frage, welche Fähigkeiten beherrscht werden müssen, um sozial kompetent zu sein, die Multidimensionalität dieses Begriffs. Petillon (2017) repräsentiert mit seinem strukturierten und umfassenden Modell sozialer Kompetenz einen Teilbereich der verschiedenen Definitionsmöglichkeiten.
Für diese Arbeit soll eine möglichst umfassende Übersicht der Fähigkeiten sozialer Kompetenz gewährleistet werden, die auf das schulische Miteinander bezogen sind und daher auch die Mobbingprävention im schulischen Umfeld unterstützen sollen. Außerdem soll eine möglichst eindeutige Einschätzung der Bereitschaft in den verschiedenen Bereichen erzielt werden. Aus diesem Grund werden die folgenden Dimensionen basierend auf den im Theorieteil beschriebenen fünf Dimensionen sozialer Kompetenz entwickelt und mit Hilfe der ebenfalls von Petillon formulierten Ziele sozialen Lernens konkretisiert:
Tabelle 2 Dimensionen sozialer Kompetenz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie die Tabelle zeigt, werden die Kategorien Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, Fähigkeit zur Empathie und Perspektivenübernahme, Kooperationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit übernommen und um die Zieldefinitionen der Toleranzfähigkeit ergänzt. Auf diese Weise soll eine überschaubare Anzahl an Bereichen gewährleistet werden, die aber gleichzeitig möglichst umfassend ist. Die Kategorie Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit wird zusammengefasst und durch Kontaktaufnahme und -gestaltung ersetzt, da verbale und non-verbale Fähigkeiten in der nachfolgenden Studie nicht erfassbar sind. Eine wichtige Veränderung, die in der Benennung der Teilbereiche vorgenommen wird, ist, dass der Begriff der Fähigkeit ausnahmslos gegen den Begriff Bereitschaft ausgetauscht wird, da, wie bereits erwähnt, nicht das Wissen über soziales Verhalten, sondern die Bereitschaft, dieses Wissen auch anzuwenden, für diese Arbeit maßgebend ist. Das setzt voraus, dass das Wissen im jeweiligen Teilbereich vorhanden ist, da es sonst nicht angewendet werden könnte. Da sich die Kompetenzdimensionen teilweise überschneiden oder ergänzen, wird versucht, die Dimensionen möglichst trennscharf zu definieren. So soll vermieden werden, dass beschriebene Handlungen oder Verhaltensweisen mehrfach zugeordnet werden können.
Die herausgestellten fünf Dimensionen sozialer Kompetenz dienen als Grundlage für den im späteren Verlauf der Arbeit entwickelten Kriterienkatalog für die Wahl des Kinderbuches sowie für die für die Untersuchung relevanten Kompetenzbereiche. Vertrauen und Ich-Identität werden nicht in die Übersicht aufgenommen, da diese sich nicht im Rahmen dieser Studie erfassen lassen.
2.2 Bedeutung des sozialen Lernens für Mobbingprävention
Im folgenden Kapitel wird die Bedeutung sozialen Lernens für die Mobbingprävention erläutert. Für ein besseres Verständnis wird zunächst der Begriff Mobbing definiert. Mobbing bezeichnet ein aggressives Verhalten, welches von einer Person oder einer Gruppe von Personen wiederholt und über einen längeren Zeitraum gegenüber einem bestimmten Individuum ausgeübt wird. Dabei kann sich das Opfer gegen die negativen Handlungen nur schlecht oder gar nicht wehren (Malti & Perren, 2015) .
Zunehmend sind bei Kindern Verhaltensauffälligkeiten festzustellen, die auf den enormen gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wandel zurückzuführen sind (Petillon, 2017). Dabei handelt es sich insbesondere um Defizite im Bereich der sozialen Entwicklung, wie zum Beispiel fehlendes Empathievermögen oder unzureichende Emotionsregulation, denn Mobbing resultiert einerseits aus dem sozial inkompetenten Verhalten eines Täters oder mehrerer Täter und andererseits aus der fehlenden Sozialkompetenz der Opfer (Malti & Perren, 2015). Mit der Förderung sozialer Kompetenzen soll eine Verbesserung des Schulklimas angestrebt werden, indem die Gewaltbereitschaft sowie die tatsächlichen Gewalttätigkeiten an Schulen, einschließlich der Häufigkeit von Mobbing und sozialen Konflikten, verringert werden (Petillon, 2017) . Doch wie entwickeln sich soziale Kompetenzen? Diese Frage soll im folgenden Kapitel beantwortet werden.
2.3 Entwicklung sozialer Kompetenzen
Die Entwicklung sozialer Kompetenz ist Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung. Diese vollzieht sich im Rahmen von Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsprozessen in Wechselwirkung zwischen den genetischen Anlagen eines Kindes und seiner Umwelt. Von Bedeutung sind dabei die Erfahrungen, die ein Kind in sozialen Interaktionen mit seiner Umwelt macht und auf deren Basis es seine eigenen Wahrnehmungsmuster und Handlungsstrategien entwickelt (Schellknecht, 2007).
Das Erlernen von prosozialen Verhaltensweisen stellt einen wesentlichen Teil der kindlichen Entwicklung dar. Zu Beginn üben familiäre Bezugspersonen den stärksten Einfluss auf das Kind und den Erwerb sozialer Kompetenz aus. Aber auch die Grundschulzeit gilt als sensible Phase für die soziale Entwicklung (Petillon, 2017). In dieser Zeit bieten sogenannte Entwicklungsfenster die besten Voraussetzungen, die sozialen Kompetenzen von Kindern erfolgversprechend zu fördern.
2.3.1 Lernen am Modell – Bandura
Das Beobachtungslernen stellt eine Möglichkeit dar, soziale Kompetenz zu erwerben. Die sozial-kognitivistische Lerntheorie nach Bandura versteht unter dem Begriff des Lernens einen aktiven, kognitiv gesteuerten Verarbeitungsprozess gemachter Erfahrungen (Bandura, 1979). Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass Modellierungseinflüssen eine hauptsächlich informative Funktion zukommt, und dass Beobachter eher symbolische Repräsentationen modellierter Ereignisse aufnehmen als Reiz-Reaktions-Assoziationen (Bandura, 1976). Die Modellierungsphänomene werden dabei durch vier Subprozesse gesteuert, die in Wechselwirkung zueinander stehen.
Aufmerksamkeitsprozesse bilden eine der wichtigsten Funktionen des Beobachtungslernens. Die alleinige Demonstration einer Handlung oder eines Verhaltens führt nicht automatisch zum Erlernen dieser Reaktion. Stattdessen muss das Individuum dabei unterstützt werden, differenziert zu beobachten; das bedeutet, dass die Hinweisreize, denen es sich zuwenden soll, genau wahrgenommen werden müssen. Dabei nehmen einige Variable Einfluss auf die Aufmerksamkeit, die einem Modell zuteilwird. Zum Einen spielt der Anreiz, der im Erlernen des modellierten Verhaltens liegt, eine ausschlaggebende Rolle. Aber auch die Motivation und die psychischen Eigenschaften des Beobachters tragen bedeutend dazu bei, ob dem Modell und seinem Verhalten Aufmerksamkeit geschenkt wird oder nicht. Zum Anderen sind die Differenziertheit, die das Modell von Natur aus besitzt beziehungsweise erworben hat, sowie seine Macht und Ausstrahlungskraft bedeutsame Faktoren, die die Aufmerksamkeit des Beobachters beeinflussen (Bandura, 1976).
Ein weiterer Subprozess beinhaltet die Gedächtnisprozesse. Das Individuum kann eine modellierte Reaktion erwerben, auch ohne diese selbst durchzuführen. Um ein Verhalten reproduzieren zu können, muss es sich zunächst die modellierten Ereignisse in einer symbolischen Form merken. Das Beobachtungslernen beruht daher auf zwei Repräsentationssystemen, dem bildhaften und dem sprachlichen System. Während das Individuum ein Verhalten beobachtet, erzeugen die Modellierungsreize über einen sensorischen Konditionierungsprozess relativ dauerhafte, abrufbare Vorstellungen der modellierten Verhaltenssequenzen. Wenn Reizereignisse hoch korrelieren, rufen sie auch später noch lebhafte Repräsentationen abwesender materieller Reize auf der Vorstellungsebene hervor. Als Beispiel lässt sich die Assoziation eines Namens mit einer bestimmten Person nennen.
Das sprachliche Repräsentationssystem beruht auf der verbalen Kodierung von Beobachtungen. Die meisten der kognitiven Prozesse, die das Verhalten regulieren, sind sprachlicher Natur. Diese ermöglichen es dem Individuum, modellierte Inhalte über lange Zeiträume zu behalten und mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit zu vollziehen.
Beobachtungslernen und Behalten werden durch solche Codes erleichtert, weil diese eine große Informationsmenge in leicht zu speichernder Form enthalten. Wenn modellierte Reaktionen in Vorstellungen und verwendungsfähige Sprachsymbole umgeformt worden sind, dienen diese Gedächtniscodes als Anleitung für eine spätere Reproduktion der Nachbildungsreaktionen. (Bandura, 1976, S. 25).
Die dritte Grundfunktion bilden die motorischen Reproduktionsprozesse. Das beobachtete Verhalten wird imitiert, indem der Beobachter sich an die modellierte Situation erinnert und das Verhalten sich so durch die Imitation der Bewegungsabläufe wiederholt (Bandura, 1976).
Die letzte Grundfunktion bilden die Verstärkungs- und Motivationsprozesse. Verstärkungsprozesse bestimmen nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes modelliertes Verhalten imitiert wird, sondern auch, welche modellierten Ereignistypen überhaupt beachtet werden. Es wird zwischen externer Verstärkung, stellvertretender Verstärkung und Selbstverstärkung unterschieden (Bandura, 1976).
Verstärkung wird in der Theorie des sozialen Lernens nicht als notwendige, sondern als förderliche Bedingung angesehen, da auch andere Faktoren die Aufmerksamkeit des Beobachters selektiv kontrollieren können (Bandura, 1976).
Das Nachbildungsverhalten eines Individuums wird bei der externen Verstärkung von den unmittelbaren Folgen auf sein Verhalten beeinflusst (Kanning, 2009).
Von stellvertretender Verstärkung spricht man, wenn der Beobachter sein Verhalten verändert, weil das beobachtete Modell für seine Handlungen belohnt oder bestraft wurde. (Bandura, 1976). Individuen neigen dazu, Modelle, die in der Vergangenheit erfolgreich waren, aufmerksamer zu beobachten als jene, die sich als relativ erfolglos erwiesen haben. Als erfolgreich wird in diesem Kontext ein Modell definiert, dessen gezeigte Verhaltensweisen zum erwünschten Ziel führten, während ein Modell erfolglos war, wenn sein Verhalten nicht zielführend war. Daher kann die stellvertretende Verstärkung den Verlauf des Beobachtungslernens indirekt beeinflussen, indem das Individuum wiederholt die Möglichkeit bekommt, modellierte Reaktionen zu beobachten, beobachtete Folgen zu bewerten und diese zu übernehmen, wenn es annimmt, dass die Imitation ähnliche Folgen für die eigene Person haben wird (Bandura, 1976).
Bis zu einem bestimmten Grad regulieren Individuen ihre Handlungen durch Konsequenzen, die sie selbst schaffen und durch die sie sich selbst bewerten. Das bedeutet, sie reagieren auf ihr eigenes Verhalten, indem sie sich selbst bestrafen oder belohnen, abhängig davon, ob sie ihre selbstgestellten Anforderungen erfüllen oder nicht. Die selbst geschaffenen und die externen Konsequenzen können miteinander in Konflikt geraten, beispielsweise, wenn das Individuum Reaktionsmuster durch Selbstbelohnung erhält, obwohl diese von außen keine oder nur wenig Unterstützung finden oder aber das Individuum sich selbst abwertet, obwohl die Reaktion extern gebilligt wird (Bandura, 1976).
Modelllernen bietet nicht nur die Möglichkeit, neue Verhaltensweisen zu lernen, sondern auch, bereits gelerntes Verhalten zu hemmen oder zu enthemmen. Von Hemmungseffekten spricht man, wenn „Beobachter entweder die modellierten Verhaltensklassen einschränken oder eine allgemeine Verminderung ihrer Reaktionsbereitschaft erkennen lassen, wenn sie sehen, daß das Verhalten des Modells bestraft wird“ (Bandura, 1976, S. 13). Als Enthemmungseffekte werden jene Effekte bezeichnet, die „einen Leistungsanstieg in vorher gehemmten Verhaltensweisen erkennen lassen, nachdem sie beobachtet haben, wie Modelle ohne mißliche Folgen Handlungen ausführten, die bedrohlich erschienen oder mit Verboten belegt waren“ (Bandura, 1976, S. 13).
Verschiedene Forschungsergebnisse zeigen außerdem, dass Modelle mit hohem sozialen Status mit größerer Wahrscheinlichkeit erwünschte Ergebnisse erzielen und deshalb von größerem Nutzen für die Beobachter sind als Modelle, die verhältnismäßig geringere berufliche, intellektuelle und soziale Fähigkeiten besitzen. Außerdem erhöhen Modelle, die der Beobachter als sympathisch und attraktiv wahrnimmt, die Wahrscheinlichkeit der Nachahmung. Attraktivität kann zum Beispiel im Geschlecht, Alter oder in der Herkunft begründet liegen (Bandura, 1976). Im Hinblick auf den Einfluss „des Geschlechts des Modells auf [das] Imitationsverhalten können aus keiner Theorie konkrete Hypothesen abgeleitet werden“ (Zumkley-Münkel, 1976, S. 81). Nach Bandura, Ross und Ross (1961) tendieren Beobachter jedoch dazu, Verhaltensweisen des gleichen Geschlechts eher zu imitieren als Verhaltensweisen des gegenteiligen Geschlechts.
Der Einfluss der Modellcharakteristika wie Kleidung, Sprechstil, allgemeine Erscheinung, Alter etc. ist dann besonders hoch, wenn zwar das Verhalten des Modells, nicht aber die sich daraus ergebenden Konsequenzen beobachtet werden konnten. Das Individuum schließt aufgrund der Modellmerkmale auf die wahrscheinliche Effizienz der modellierten Reaktionsweisen und entscheidet so, ob es das modellierte Verhalten nachahmt oder nicht (Bandura, 1976).
2.3.1.1 Soziales Lernen mit Kinderliteratur
Modelle können konkret oder (in verschiedenen Abstufungen) abstrakt angeboten werden. Im zweiten Fall handelt es sich um symbolisches Modelllernen, um das es im Folgenden gehen soll. Zu den symbolischen Modellen zählen Modelle, die sich der visuellen Medien Film und Fernsehen, der akustischen Medien wie Radio oder Tonband oder der Medien Text und Illustration bedienen (Sahr, 1981).
„Die informelle Beobachtung zeigt, daß menschliches Verhalten – absichtlich oder unabsichtlich – weitgehend durch soziale Modelle vermittelt wird“ (Bandura, 1976, S. 9). Mit der Entwicklung der Kommunikation wächst die Bedeutung symbolischer Modelle. Zwar findet soziales Lernen hauptsächlich durch die Beobachtung realer Modelle statt, in der technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft greifen die Menschen jedoch auf Handbücher oder Anleitungen zurück, die ihnen detaillierte Beschreibungen für effektive Verfahren bereitstellen, um häufig vorkommende Situationen erfolgreich zu bewältigen (Bandura, 1976). Auch Roth (1971) verweist mit der Entwicklungslinie: „Lernen durch Identifikation mit der Mutter erweitert sich zum Lernen an beliebigen Modellen, schließlich zum Lernen durch Identifikation mit aktuellen und symbolischen (literarischen) Vorbildern und Leitbildern“ (S. 490) auf die verschiedenen Möglichkeiten, Modellernverfahren zu initiieren. Der zugrundeliegende Lernverlauf ist auf allen Repräsentationsebenen gleich, sodass auch über symbolische Modelle Einstellungen und Verhalten von Personen in gleicher Weise wie über reale Modelle beeinflusst werden können. Jedoch können diese in ihrer Wirksamkeit differieren (Sahr, 1981).
Die Neigung, Modelle zu beachten und von ihnen zu lernen, ist altersabhängig. Die bevorzugte Alterszeitspanne liegt zwischen 6 und 12 Jahren (Zumkley-Münkel, 1976). Der Grund dafür liegt in der kognitiven Reife der Kinder. Nur wenn diese die sozialen Bezüge beim Zuhören oder Lesen der Geschichte erfassen, können sie ihre Helden nachahmen. Je einfacher die Geschichte und die Darstellung ihrer Werte, desto früher ist das Kind in der Lage, den Helden zum Vorbild zu nehmen (Oerter, 1972). Besonders Heranwachsende neigen dazu, sich mit fiktiven Personen zu identifizieren. Fiktive Figuren wirken „gleichsam als Attrappe(n)“ (Sahr, 1981, zitiert nach Hartmann-Winkler, 1970, S. 97), die „durch eine überoptimale Ausstaffierung […] einen hohen Aufforderungscharakter ausüben, der im Leser oder Hörer ein inneres Handeln oder Nachahmen auslöst“ (Sahr, 1981, zitiert nach Hartmann-Winkler, 1970, S. 97).
Da das Beobachtungslernen auf dem bildhaften und sprachlichen Repräsentationssystem beruht, kann das Kinderbuch unterstützend wirken. Mit Hilfe von Versprachlichung und Bildern wird das Individuum dabei unterstützt, bestimmte Verhaltensweisen in Form von Anleitungen für eine spätere Reproduktion zu speichern, indem die Aufmerksamkeit auf die relevanten Aspekte gelenkt wird (Bandura, 1976) . Denn nur mittels Sprache ist es möglich, eine nahezu unbegrenzte Vielfalt von Verhaltensmustern weiterzugeben, die sonst nur mit hohem zeitlichem Aufwand verhaltensmäßig porträtiert werden könnten.
So sollen beispielsweise Ratgeber oder Anleitungen Erwachsene unterstützen, schwierige Lebensphasen zu überstehen oder Schwierigkeiten zu meistern, indem sie ihnen Ratschläge liefern oder ein Modell zur Verfügung stellen, das ähnliche Probleme bewältigt hat und ihnen so als Handlungsvorbild dienen kann. Auf diese Weise können Handlungen und Verhaltensweisen, die sich für die Protagonisten als effizient erwiesen haben, imitiert werden und ebenfalls zum Erfolg führen.
In der Kinderliteratur finden sich Bücher wie Conny beim Arzt oder Conny geht nicht mit Fremden mit, die Situationen aus der kindlichen Lebenswelt aufgreifen und ein Verhalten der Protagonistin aufzeigen, das gesellschaftlich anerkannt und dessen Nachahmung erwünscht und wahrscheinlich ist.
Doch welches Potential bieten literarische Modelle wirklich? Im folgenden Kapitel sollen zur Beantwortung dieser Frage einige Forschungsbefunde herausgestellt werden.
2.3.1.2 Aktuelle Forschungsbefunde zum sozialen Lernen anhand literarischer Modelle
Die Wirkung symbolischer Modelle ist bislang in unterschiedlichem Maß überprüft worden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Untersuchung gefilmter Modelle. Studien zu dem Thema der symbolischen Modellierung durch Fernsehen, Filme und andere audiovisuelle Medien finden sich bei Bandura (1969) und Flanders (1968). Schon das Bobo-Doll-Experiment von Bandura, in dem ein Erwachsener gegenüber einer Puppe aggressives Verhalten zeigt, macht deutlich, dass Kinder aggressive Verhaltensweisen nur durch das Sehen eines Filmes übernehmen können (Bandura, 1976). Ergebnisse der Studien zeigen, dass Medien Kinder dabei unterstützen, Einstellungen, emotionale Reaktionen und komplexe Verhaltensmuster zu erwerben (Bandura, 1976).
Nur vereinzelt wurde bisher versucht, Effekte von Buchmodellen nachzuweisen. Duncker demonstrierte 1938 die Wirkung sprachlich vermittelten Modellverhaltens. Kindern einer Kindertagesstätte wurde in diesem Experiment eine Geschichte erzählt, in der der Held der Geschichte einem sehr süßen Ahornsirup gegenüber einem weniger süßen Fichtensirup den Vorzug gab. Unmittelbar nach dem Lesen der Geschichte und in Abständen von bis zu 15 Tagen konnten die Kinder dann zwischen zwei Brotaufstrichen wählen. Zur Auswahl standen ein Aufstrich aus weißer Schokolade mit Zitronengeschmack und ein übersüßter honigartiger Aufstrich mit unangenehmem Medizingeschmack. Zwei Drittel der Kinder aus der experimentellen Gruppe bevorzugten den Zweiten, während dieser in der Kontrollgruppe nur von 13 % favorisiert wurde. Mit der Zeit ließ die Vorliebe für den übersüßten Aufstrich in der experimentellen Gruppe nach, erhöhte sich aber erneut, sobald die Geschichte wieder erwähnt wurde. Auf diese Weise zeigte Dunker mit seinem Experiment, dass ein Buch-Modell Essensvorlieben von Kindergartenkindern beeinflussen kann (Duncker, 1938).
Ein weiteres Experiment findet sich bei Larder. Larder versuchte 1962 die Wirkung sprachlich vermittelter aggressiver beziehungsweise nicht aggressiver Modelle bei fünfzehn Vierjährigen nachzuweisen. Den Kindern wurde hierfür entweder eine zweiminütige Geschichte mit aggressivem oder eine mit nicht aggressivem Inhalt vom Tonband abgespielt. Im Vergleich zu der Spielperiode vor dem Hören der Geschichte zeigten sich in der anschließenden Spielsituation Kinder, die die aggressive Geschichte gehört hatten, signifikant häufiger mit aggressivem Spielzeug als Kinder nach der nicht-aggressiven Geschichte, die seltener oder unwesentlich häufiger als vor dem Hören der Geschichte mit aggressivem Spielzeug spielten (Larder, 1962). Die aktuellen Forschungsbefunde zeigen, dass ein Lernen mithilfe literarischer Vorbilder nicht ausgeschlossen ist. Die durchgeführten Experimente hatten jedoch nicht zum Ziel, ein erwünschtes soziales Verhalten bei Kindern hervorzurufen, sondern wollten lediglich zeigen, dass Bücher eine Wirkung bei Kindern auslösen und sie bei ihren Entscheidungen beeinflussen können. Die Studien lassen die Annahme zu, dass sozial erwünschtes Verhalten durch literarische Modelle von Kindern übernommen und Verhaltensweisen und Einstellungen in vergleichbaren Situationen abgerufen werden können.
Des Weiteren gibt es auch eine Reihe von Studien zum Erwerb sozialer Kompetenzen, beispielsweise durch den Einsatz von Kompetenztrainings, wie das Training Soziale Kompetenz der Beratungsstelle Meerbusch (Buchwald, 2004). Hierauf wird im Rahmen dieser Arbeit aber nicht weiter eingegangen, da der Schwerpunkt auf der Förderung sozialer Kompetenzen durch das (Vor-)Lesen von Kinderliteratur liegt.
3 Entwicklung und Beschreibung des Kriterienkataloges
Der im Folgenden beschriebene Kriterienkatalog (Anhang C) wurde entwickelt, um Kinderliteratur im Hinblick auf ihr Potential zur Förderung sozialer Kompetenz zu analysieren. Der Kriterienkatalog ist in Form einer Tabelle angelegt und gliedert sich in zwei Teilbereiche – einen zur Erfassung der sozialen Kompetenz der Protagonisten und einen zur Erfassung der Einsetzbarkeit der jeweiligen Protagonisten als Modelle.
Der Teilbereich zur Analyse der sozialen Kompetenz umfasst dabei zehn Items, die in fünf Kategorien zusammengefasst werden, während sich der Bereich zur Erfassung des Potentials der Protagonisten als Modelle aus sieben Items zusammensetzt, die nicht weiter unterteilt werden. Die jeweiligen Items können mit „Ja“, „Nein“, und „Nicht beobachtbar“ markiert werden. Dabei bedeutet „Ja“, dass das genannte Verhalten von der Protagonistin beziehungsweise dem Protagonisten gezeigt wird. „Nein“ bedeutet, dass ein gegenteiliges Verhalten gezeigt wird, und „Nicht beobachtbar“ beschreibt den Fall, dass weder das genannte noch ein gegenteiliges Verhalten beobachtet werden. Die letzte Spalte ist für Kommentare vorgesehen, um die Entscheidungsmöglichkeiten zu begründen oder näher auszuführen.
Die fünf Kategorien bezeichnen die einzelnen Kompetenzbereiche: Bereitschaft zur Kontaktaufnahme und -gestaltung, Kooperationsbereitschaft, Bereitschaft zur Empathie und Perspektivenübernahme, Bereitschaft zu konstruktivem Konfliktlöseverhalten und Toleranzbereitschaft. Die die Bereiche definierenden Aussagen fungieren als Items. Diese beschränken sich auf beobachtbares Verhalten, also ausschließlich darauf, ob die Person das gewünschte Verhalten tatsächlich zeigt, nicht aber, ob das Potential grundsätzlich vorhanden wäre.
Die Kategorie Bereitschaft zur Kontaktaufnahme und -gestaltung umfasst, dass die Protagonistin beziehungsweise der Protagonist sich an die Regeln des Zusammenlebens hält, mit anderen in Kontakt tritt und die Bereitschaft zeigt, Beziehungen zu gestalten. Eine Kontaktaufnahme und die Gestaltung von Beziehungen werden sowohl von Toleranz- und Kooperationsbereitschaft als auch von Konfliktlösestrategien beeinflusst. Damit aber Aussagen über die einzelnen Teilbereiche getroffen werden können, werden in die Kategorie Bereitschaft zur Kontaktaufnahme und -gestaltung nur Verhaltensweisen und Äußerungen aufgenommen, die nicht im Zusammenhang mit anderen genannten Bereichen stehen.
Im Bereich Bereitschaft zur Empathie und Perspektivenübernahme soll beobachtet werden, ob es der Protagonistin beziehungsweise dem Protagonisten gelingt, die Perspektive anderer einzunehmen, sich in die Lage anderer einzufühlen und ihr/sein eigenes Handeln entsprechend anzupassen.
Kooperationsbereitschaft beinhaltet gemeinsame Handlungen in Gruppen und Zusammenarbeit mit anderen.
Auch soll beobachtet werden, ob die Figur ein konstruktives Konfliktverhalten aufweist, beispielweise in Form einer flexiblen Handlungsfähigkeit.
Ausgelassen wurden die Aspekte Kommunikation, Vertrauen und Ich-Identität, da diese schwer zu erfassen sind oder nicht immer in beobachtbaren Handlungen deutlich werden.
Den zweiten Teil des Kataloges bildet der Bereich zur Analyse des Potentials eines Modells. Auf Basis der theoretischen Grundlagen wurden Kriterien für den Katalog herausgearbeitet, die notwendig und/oder förderlich erschienen, um mit Hilfe von Kinderliteratur soziale Verhaltensweisen zu erwerben. Die Aufmerksamkeit, die dem Protagonisten/der Protagonistin zuteilwird, ist entscheidend für das Potential eines Modells. Daher wird dieser Aspekt im Katalog aufgegriffen. Dabei sollen Fragen nach dem sozialen Status der Protagonistin beziehungsweise des Protagonisten und nach ihrer/seiner Beliebtheit eine bessere Einschätzung ermöglichen. Das folgende Item erfragt das Verhalten des zu beobachtenden Modells; denn dieses sollte sichtbar und auffällig sein und sich deutlich von konkurrierenden Modellen abheben (Zimbardo & Gerrig, 2015). Das zu beobachtende Modell sollte in seinem Handeln und Verhalten erfolgreich sein und auf Zustimmung in der Gesellschaft stoßen, da Individuen dazu neigen, verstärkt Modelle zu beobachten, deren Handlungen und Verhalten sich in der Vergangenheit als wirkungsvoll erwiesen haben. Erfährt das Modell wiederholende Verstärkung, kann dies den Beobachter dazu veranlassen, seine Aufmerksamkeit verstärkt auf das Modell zu lenken. Dabei muss darauf geachtet werden, dass das modellierte Verhalten nachvollziehbar und erreichbar für Kinder ist (Bandura, 1971). Reicht die vorhandene Kompetenz der Beobachter nicht aus, ist es ihnen nicht möglich, das gezeigte Verhalten nachzuahmen (Zimbardo & Gerrig, 2015). Auch diese Aspekte sind zu berücksichtigen und werden daher im Kriterienkatalog aufgegriffen. Des Weiteren gilt es einzuschätzen, ob die Protagonistin beziehungsweise der Protagonist den Kindern die Möglichkeit bietet, Ähnlichkeiten zu sich selbst wahrzunehmen. Dabei muss die Ähnlichkeit nicht in der Realität bestehen. Es reicht aus, wenn diese lediglich in der Fantasie des Kindes existiert (Bandura, 1979). Abschließend muss noch die Frage beantwortet werden, ob die Modellcharakteristika der Protagonistin beziehungsweise des Protagonisten auf ein erfolgversprechendes Verhalten schließen lassen. Das ist dann besonders wichtig, wenn Konsequenzen des Verhaltens nicht beobachtbar sind.
3.1 Das Kinderbuch Uli Unsichtbar
Das Buch Uli Unsichtbar wurde von Astrid Frank geschrieben und 2018 vom Urachhaus Verlag veröffentlicht. In diesem Buch wird das Thema Mobbing im Setting der Grundschule auf eine kindgerechte Art lösungsorientiert dargestellt. Bei der Hauptfigur der Geschichte handelt es sich um einen Jungen mit dem Namen Ulrich, kurz Uli genannt, der sich nach einem Umzug seinen neuen Klassenkameraden und -kameradinnen vorstellen soll. Doch vor lauter Aufregung stottert er und es kommt nur ein „U-U-Uhu“ aus seinem Mund. Von diesem Tag an wird er von allen nur noch „der Uhu“ genannt und alle lachen über ihn. Eines Tages kommt eine neue Mitschülerin in die Klasse – Ulrike. Mit ihrem Selbstbewusstsein steht sie Ulrich zur Seite und hilft ihm so aus seiner misslichen Lage. Gemeinsam mit der Lehrerin werden zum Schluss in der Klasse gemeinsam Regeln für ein soziales und friedliches Miteinander aufgestellt.
3.2 Rechtfertigung der Buchauswahl
Das im vorangegangenen Kapitel vorgestellte Kinderbuch lässt sich sowohl dem Bereich der intendierten als auch der spezifischen Kinderliteratur zuordnen. Es wurde speziell für Kinder geschrieben, um das Phänomen Mobbing altersspezifisch zu thematisieren. Das Kinderbuch wurde mit Hilfe des Kriterienkatalogs auf sein Potential im Hinblick auf die Förderung sozialer Kompetenzen untersucht (Anhang D). Dabei führte die Untersuchung des Verhaltens der Protagonistin Ulrike zu folgendem Ergebnis:
An ihrem ersten Schultag stellt sich Ulrike selbstbewusst ihrer neuen Klasse vor. Sie ergreift die Initiative und zeigt so ihre Bereitschaft zur Kontaktaufnahme. In der ersten Pause wird sie von ihren Klassenkameradinnen und -kameraden umringt. Sie beantwortet freundlich alle Fragen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler, macht aber dabei ihre eigenen Interessen und Wünsche deutlich, indem sie beispielsweise klarstellt, dass sie die erste Pause mit Ulrich verbringen möchte (Frank, 2018). Sie ist also in der Lage, ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Ihr Auftreten zeigt, dass sie die Bereitschaft besitzt, Kontakte zu knüpfen und mit ihren Klassenkameradinnen und -kameraden zu kommunizieren.
Indem sie sich für Ulrich einsetzt, wird deutlich, dass sie Unterstützung gewähren und auf diese Weise Beziehungen gestalten kann. Außerdem ist sie fähig, Beziehungen zu pflegen. Das zeichnet sich zum Einen dadurch aus, dass sie auch nach der Schule Zeit mit anderen Kindern verbringt, beispielsweise, als sie Ulrich zu sich nach Hause einlädt (Frank, 2018). Zum Anderen wird dies deutlich, wenn sie Ulrich von ihren Freunden erzählt, die sie zweimal in der Woche im Sportverein sieht (Frank, 2018).
Ulrike verhält sich in der Geschichte stets entsprechend den gesellschaftlichen Erwartungen. Sie ärgert niemanden und schließt auch kein Kind aus. Stattdessen akzeptiert sie jedes Kind so, wie es ist, und schlägt am Ende des Buches sogar vor, Regeln für ein gemeinsames Miteinander in der Klasse aufzustellen (Frank, 2018).
Die genannten Situationen machen deutlich, dass Ulrikes Bereitschaft zur Kontaktaufnahme ausgeprägt ist und sie auch die Bereitschaft zur Kontaktgestaltung besitzt. Indem sie jedes Kind akzeptiert, wie es ist, und dementsprechend Freundschaften unabhängig von Andersartigkeit eingeht, zeigt sie außerdem Toleranzbereitschaft.
Im Buch wird nicht beschrieben, dass Ulrike die Perspektive von Ulrich einnimmt und dadurch nachempfinden kann, wie er sich fühlt. Die Leser können demnach Ulrichs Gefühle nur aus dessen Perspektive miterleben. Daraus, dass sich Ulrike für Ulrich einsetzt, lässt sich aber schließen, dass sie durchaus über Empathievermögen verfügt.
Auch ihre Bereitschaft zur Kooperation lässt sich nur indirekt aus der Geschichte ableiten. Sie erzählt, dass sie gerne Fußball spielt (Frank, 2018). Sie wird sich daher an gemeinsamen Handlungen in Gruppen beteiligen und mit dieser zusammenarbeiten können.
Im Verlauf der Geschichte wird deutlich, dass ihre Fähigkeit, Konflikte zu lösen, vorbildlich ist. Zum Einen zeigt sie, dass sie in der Lage ist, auf Provokationen angemessen und flexibel zu reagieren. So gibt sie Sandro auf seinen Kommentar „Ihr denkt doch nicht etwa, da oben wärt ihr vor mir sicher? Das ist nämlich ein Irrtum! Denn ich bin Superman! Ich kann fliegen!“ (Frank, 2018, S. 75) folgende schlagfertige Antwort: „Ach ja? Dann komm doch hoch, wenn du dich traust!“ (Frank, 2018, S. 75) und verschafft sich so Respekt. Außerdem setzt sie sich vor der gesamten Klasse für Ulrich ein, als sie fragt, warum alle lachen. Sie regt darüber hinaus die Kinder zum Nachdenken an, indem sie ihnen ihre eigenen Unzulänglichkeiten vorhält (Frank, 2018). Als Lösung schlägt sie vor, Regeln für ein gemeinsames und respektvolles Miteinander aufzustellen (Frank, 2018). Ulrike zeichnet sich demnach durch ihr konstruktives Konfliktlöseverhalten aus und liefert so Möglichkeiten, ihrer Situation entsprechende oder ähnliche Situationen auf die gleiche Weise zu lösen. Sie zeigt, dass nicht direkt eine Lehrperson eingeschaltet werden muss, sondern dass Probleme auch auf andere Weise eigenständig gelöst werden können.
Im Gegensatz zu Ulrike weisen Sandro und die anderen Kinder kein sozial kompetentes Verhalten auf, daher wird ihr Verhalten besonders betont. Sandro ärgert Ulrich wiederholt und zieht ihn mit seinem neuen Spitznamen „Uhu“ auf. Auch die anderen Kinder setzen sich nicht für Ulrich ein, sondern unterstützen Sandros Verhalten (Frank, 2018). Erst als Ulrike sie auf ihre eigenen Schwächen hinweist, realisieren sie ihr unfaires Verhalten und entschuldigen sich bei Ulrich. In der nächsten Unterrichtsstunde fordern auch sie Sandro auf, Ulrich in Ruhe zu lassen (Frank, 2018). Dementsprechend hebt sich Ulrikes Verhalten deutlich von dem der anderen Kinder ab. Die Auswertung zeigt, dass die Protagonistin sich als Vorbild dafür eignet, wie man sich gegenüber Mitmenschen sozial kompetent verhält.
Die Auswertung des Kriterienkataloges im Hinblick auf die Funktion als potentielles Modell hat des Weiteren ergeben, dass Ulrike auch als Modell dienen kann, um sozial kompetentes Verhalten zu erlernen.
Das wird durch ihr im vorangegangenen Abschnitt beschriebenes vorbildliches Verhalten deutlich, das auch für Kinder umsetzbar ist. Die Protagonistin verhält sich sehr sozial. Dieses Verhalten und insbesondere das Einstehen für einen Freund werden belohnt, denn die Kinder entschuldigen sich bei Ulrich. Ulrike wird aber weiterhin von den Kindern respektiert und gemocht. Im Gegensatz zu Ulrich tritt sie selbstbewusst auf und kann sich durchsetzen. Sie ist in der ganzen Klasse beliebt und die Kinder wollen mit ihr befreundet sein. Über ihre Fertigkeiten erfährt der Leser nur, dass sie gut klettern und Fußball spielen kann. Andere Aktivitäten wie Seilspringen beherrscht sie dagegen nicht so gut (Frank, 2018). Ihre intellektuellen Fähigkeiten werden nicht erwähnt. Dennoch vermittelt sie durch ihre offene Art insgesamt einen positiven Eindruck.
Die Protagonistin Ulrike ist im Alter des intendierten Lesers. Sowohl ihre Interessen als auch ihre Schulsituation bieten den Kindern die Möglichkeit, sich mit ihr zu identifizieren. Dementsprechend erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Ulrike als Vorbild und somit als Modell angenommen wird. Eine förderliche Verstärkung des vorbildlichen Verhaltens findet nicht statt. Allerdings entschuldigen sich einige der Kinder für ihr Handeln, was als eine Art Belohnung und Erfolg für Ulrikes Verhalten gewertet werden kann. Eine Verstärkung bzw. ein Lob durch die Lehrerin bleibt aus (Frank, 2018).
Ziel ist es, dass die Kinder in Ulrike ein Modell sehen und sich an ihrem beispielhaften sozial kompetenten Verhalten orientieren. Wenn die Kinder sich in einer ähnlichen Situation wiederfinden, sollen sie sich erinnern, wie ein Mobbingkonflikt gelöst werden kann. Denn für Freunde einzustehen und tolerant gegenüber seinen Mitmenschen zu sein, stellen wichtige Voraussetzungen für ein friedliches soziales Miteinander in der Klasse dar.
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