Die Rolle des Islam in der Weltgesellschaft


Dossier / Travail de Séminaire, 2004

41 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Politik des Westens und Islamismus
1.1 Der Westen und die Moderne
1.2 Fatale Politik
1.3 Struktureller Druck
1.3.1 Druck von außen: die kapitalistische Ökonomie
1.3.2 Innerer Druck: Modernisierung als notwendige Anpassung
1.4 Wie der Westen den wirtschaftlichen Aufschwung anderer Länder behindert

2. Medien, kollektive Vorurteile und politische Prozesse im dynamischen Wechselspiel
2.1 Islam und Mohammed – kollektive Vorurteile seit 13 Jahrhunderten
2.2 Massenmedien und Islamophobia
2.3 Islam gleich Fundamentalismus?
2.4 Politik und Interesse an einem feindlichen Islam
Exkurs: Islam und Verständnis einer anderen Kultur

3. Islam und militanter Islamismus

Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

In den vergangenen 25 Jahren haben zwei Ereignisse von historischer Bedeutung den Islam und seine Rolle als treibende Kraft auf der weltpolitischen Bühne ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit in der westlichen Welt gerufen. Sehr überraschend kam es 1979 zur islamischen Revolution im Iran. Mit ihr verbreitete sich das Erklärungsmodell des Jihad als heiliger Kampf gegen die Ungläubigen, der mit brutalsten Mitteln vollzogen wird, in den westlichen Medien. Noch spektakulärer und für die Geheimdienste dieses Mal nicht ganz so überraschend ereignete sich am 11. September 2001 der erste Terroranschlag islamistischer Terroristen in den USA – ein Akt gewaltiger Zerstörung, der den sinnlosen Tod von mehr als 2000 Zivilisten forderte. Wie reagiert nun der Westen auf diese im ersten Fall potenzielle Gefährdung seiner sicherheitspolitischen Interessen sowie auf die im zweiten Fall ausgelöste Erosion des Sicherheitsgefühls der allgemeinen Bevölkerung? Welche Interpretationsleistungen finden statt, d. h. wie wird der Islam als Religion und als soziokultureller Hintergrund mit den Ereignissen in Verbindung gebracht? Inwieweit wird zwischen verschiedenen soziopolitischen Gruppierungen differenziert oder der Islam generell als Bedrohung des Weltfriedens konstruiert?

Getrieben von einer Neugier auf fremde Kulturen und dem Interesse, „den Islam“ in authentischer Umgebung kennenzulernen, reiste ich im Sommer 2003 nach Marokko. Bereits bevor ich „islamischen“ Boden betreten hatte, musste ich feststellen, dass ich mit einer kulturell vorgefassten Denkschablone durch die Welt reiste. Als ich meinen Platz im Flugzeug fand, war ich für einen Moment völlig konsterniert – ein vollbärtiger Araber im besten Terroristenalter saß auf dem Platz neben mir. Als wir ins Gespräch kamen, stellte sich heraus, dass er gläubiger Moslem ist. Sehr freundlich und offen lud er mich dazu ein, seine Familie zu besuchen. So bekam ich die Gelegenheit, meine Vorurteile zu überprüfen.

Als entscheidend in diesem Kontext erweist sich die Anerkennung des tiefen Misstrauens, das jeder Begegnung vorangeht. Gefördert wird es von Maßnahmen der Politik, wie z. B. der Rasterfahndung in Deutschland oder willkürlichen Gefangennahmen sowie Internierungen von Personen arabischen Aussehens in den USA. Den Beitrag der Medien zu den kollektiven Vorurteilen soll im zweiten Kapitel ausführlich untersucht und ihre historische Kontinuität über 13 Jahrhunderte aufgezeigt werden.

Was es aus soziologischer Sicht nun zu analysieren gilt, ist die historisch einmalige Konstellation einer Gesellschaft oder eines Kulturkreises hinsichtlich des Zusammenspiels von Institutionen, Normen, Weltbildern sowie Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Gruppen als auch die Auswirkungen der Interpenetration mit benachbarten Gesellschaften. Im Rahmen der Studie der globalen Konfliktherde und des islamischen Fundamentalismus werden häufig ahistorische und apolitische Diagnosen getroffen; eine Unterscheidung zwischen verschiedenen empirischen Erscheinungen findet meist nur in geringem Maße statt. So führen beispielsweise Theoretiker wie Huntington oder Bolz kulturelle Differenzen als praktisch monokausale Erklärung an und konstruieren klare Dichotomien. Bolz sieht hinter „dem“ islamischen Fundamentalismus die Weltreligion des Antiamerikanismus, die sich gegen „die“ kapitalistische Konsumkultur des Westens erhebt.[1] „Auf der einen Seite stehen die Menschen des Glaubens – welchen Glaubens auch immer –, auf der anderen formiert sich die säkulare Weltgesellschaft.“[2] Er setzt den Glauben mit Antiamerikanismus und Unfähigkeit zur Demokratie gleich und differenziert nicht explizit zwischen Islam und islamischem Fundamentalismus. Huntington greift mit seinem „clash of civilizations“ zu ähnlich simplifizierenden Formeln. Beide gelangen zu einem Ergebnis, das der Economist wie folgt ausdrückt: „Militant Islam despises the West not for what it does but for what it is.“[3] Diese Analyse ist statisch. Sie geht von unüberbrückbaren kulturellen Unterschieden aus, wodurch aus der Sicht des Westens eigene politische Fehler marginalisiert, kollektive Vorurteile gestärkt und eine expansive Machtpolitik und Ausbreitung der „überlegenen“ westlichen Kultur gerechtfertigt werden können.[4]

Der vereinfachten Diagnose ist ein dynamischer Ansatz entgegenzusetzen, der erklärt, auf welche Weise die wechselseitigen negativen Gefühle und Vorstellungen entstanden sind und durch Medien und Politik perpetuiert werden – einem solchen Ansatz wird sich das zweite Kapitel widmen. Dabei sind die historisch-politische Umgebung der islamischen Welt und der Einfluss des Islam auf ihre gesellschaftliche Entwicklung zu untersuchen. Von besonderem Interesse sind in diesem Kontext die Auswirkungen des Modernisierungsprozesses auf die nicht-okzidentale Welt. Diese sollen im ersten Kapitel ausführlich dargelegt werden, da sie auch im Rahmen einer multikausalen Erklärung für das Auftreten des radikalen Islamismus eine zentrale Rolle spielen. Auf dieser Grundlage sollen im ersten Kapitel die exogenen Ursachen für das Aufkommen und Erstarken des islamischen Fundamentalismus veranschaulicht werden.[5] Dabei wird deutlich, dass die westliche Politik hierfür viele Samen gesät hat und auch bei der Aufzucht maßgeblich beteiligt war. Eine antiwestliche Stimmung in islamischen Gruppierungen speist sich vorwiegend aus diesen – „for what it does“ und nicht „for what it is“ – Quellen.

Ebenfalls bedeutend ist die Frage, ob der Islam als eine „antimoderne“ Religion auf Makroebene für die schlechte wirtschaftliche und wissenschaftliche Performanz der arabischen Länder sowie auf Mikroebene für den Terror zur Verantwortung gezogen werden kann – bei Letzterem als eine Religion, die zum Jihad ausruft, zum offenen Kampf gegen die Ungläubigen. Der kurzen Besprechung dieses Themas im dritten Kapitel liegen die Ausführungen von A. G. Noorani zugrunde, der den Koran und die Geschichte der islamischen Welt unter diesen Gesichtspunkten gründlich und zeitgemäß interpretiert.

Nicht nur in seiner Analyse wird der islamische Fundamentalismus weitestgehend als eine politische Bewegung entlarvt, die zu Legitimations- und Mobilisierungszwecken Versatzstücke des Korans in ihre Ideologie einbaut und inzwischen eine v. a. nationale Interessenpolitik verfolgt.[6] Bolz hingegen führt – aus seiner apolitischen Sichtweise heraus – die Unsicherheit in einer immer komplexer werdenden Welt sowie den „Neid auf den wirtschaftlichen Erfolg des Westens“ als alleinige Ursachen des islamischen Fundamentalismus an.[7] Ersteres bildet sicher ein Motiv, das neben anderen zu einer Radikalisierung des eigenen Glaubens beiträgt. Allerdings wird es lediglich bei einer Minderheit der Fundamentalisten tatsächlich zum Tragen kommen, nämlich bei jenen Menschen aus arabischen Ländern, die in unseren modernen sowie komplexen Gesellschaften leben und nach Halt und Sinn suchen. Eben jenen, die für die spektakulären Terroranschläge in der westlichen Welt verantwortlich sind und das Bild des Islam in unseren Gesellschaften entscheidend mitprägen. Eine differenzierte Betrachtung scheint dringend notwendig; die terroristischen Gruppierungen haben vielleicht einige tausend aktive Anhänger – zum Islam sind gegenwärtig 1,3 Milliarden Menschen zu zählen.

1. Politik des Westens und Islamismus

Im folgenden Kapitel soll anhand eines historischen Abrisses dargestellt werden, wie gezielte politische Eingriffe des Westens und strukturelle Bedingungen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Renaissance und Radikalisierung des Islam stehen.[8] Dabei lässt sich ein soziologisches Muster beobachten: Wenn eine Kulturgemeinschaft von außen bedroht oder unter Druck gesetzt wird, findet häufig eine Rückbesinnung auf die eigene kulturelle Tradition statt. In der arabischen Welt und dem Mittleren Osten heißt das: Rückbesinnung auf den Islam.

Wie diese Regionen stehen alle Entwicklungsländer und „Take-off“-Staaten unter dem strukturellen Druck, sich zu modernisieren, um wirtschaftlich leistungsfähig zu werden und ihren Bürgern eine Perspektive bieten zu können. Die spezifische Entwicklung der westlichen Welt, welche sie in die Defensive gedrängt hat, soll im Folgenden erläutert werden. Im Anschluss werden eine Reihe von politischen Eingriffen des Westens angeführt, welche eine Ausbreitung fundamentalistischen Gedankenguts zuungunsten einer liberal-demokratischen Auslegung des Islam förderten. Abschließend soll der vom globalen Kapitalismus ausgehende strukturelle Druck in den Fokus rücken, wobei politische Entscheidungen erneut eine bedeutende Rolle spielen.

1.1 Der Westen und die Moderne

Um die hegemoniale Stellung der westeuropäischen Länder und vor allem der USA in der Welt zu verstehen, ist ein Rekurs auf den dort initiierten Prozess der Modernisierung unumgänglich. Westeuropa (v. a. England) war in den vergangenen 500 Jahren keinem ernsthaften außereuropäischen Feind ausgesetzt, wenn man von der zeitweiligen Bedrohung durch die Ottomanen absieht, welche 1683 vor Wien besiegt wurden. Gleiches gilt für die USA seit ihrer Gründung und den Unabhängigkeitskriegen. Mit Beginn der Renaissance und der Reformation hat sich die Entwicklung in Europa ausschließlich um Europa selbst gedreht. In einer hohen Dynamik von sich wechselseitig verstärkenden Prozessen der Staatenbildung, der Befreiung der Wirtschaft von nicht-wirtschaftlichen Zwängen, des wissenschaftlichen Fortschritts sowie der Aufklärung hat sich Europa unter großen Geburtswehen in die Moderne katapultiert. Das charakteristische Kennzeichen der Moderne soll in vorliegender Betrachtung die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft sein, wie Luhmann sie beschrieben hat. In einer solchen Gesellschaft beziehen sich die Teilsysteme, wie z. B. die Wissenschaft, das Recht oder die Wirtschaft, lediglich auf sich selbst.

So ist die Wirtschaft nicht von religiösen Vorstellungen reglementiert und rein auf ihre Funktion der effizienten Akkumulation von Kapital ausgerichtet. Als noch entscheidender erweist sich die Trennung von Staat und Kirche – Herrschaft wird nicht mehr religiös legitimiert. Unter den Teilsystemen existiert nach Luhmann keine hierarchische Ordnung. Die Gesellschaft besitzt kein Zentrum mehr; die Teilsysteme sind unabhängig voneinander (die Politik macht Politik und bestimmt nicht, was als wahr oder falsch anzusehen ist), was andererseits wieder ihre Abhängigkeit steigert. Die Versorgung mit Gütern obliegt ausschließlich der Wirtschaft, kein anderes System kann diese Aufgabe übernehmen.

Diese Entwicklung ist mit ausschlaggebend für die anhaltende wirtschaftliche, technologische und damit militärische Überlegenheit der westlichen Staaten über den Rest der Welt. Wie diese Überlegenheit mit (imperialer) Politik zusätzlich zementiert wird, soll später beleuchtet werden.

Europa hat die Moderne aus sich selbst heraus geboren. Sie entstand in einem „naturwüchsigen“ Prozess. Geburtswehen, wie die massenweise Verarmung der Bevölkerungen im 18. und 19. Jahrhundert, und chronische Krankheiten, wie etwa Wirtschaftskrisen, haben immer wieder Anpassungsleistungen erzwungen. Gewerkschaften bildeten sich, neue Institutionen wurden erschaffen und seit dem Zweiten Weltkrieg kann man in Europa den Wohlfahrtsstaat bestaunen, der dem Kapitalismus die gnadenlose Härte genommen hat. Europa durchlief eine Entwicklung, deren es anderen Ländern noch ermangelt. So wurden bereits Erfahrungen mit anti-modernistischen Bewegungen, wie sie etwa der Faschismus und der Kommunismus verkörpern, gesammelt und dementsprechend verarbeitet. Beide kann man als Reaktionen auf Krisen der Moderne verstehen. In islamischen Ländern (und den USA), wo Gott „noch nicht so tot ist“ (noch nicht ausdifferenziert ist) wie in Europa, tragen diese anti-modernistischen Bewegungen häufig religiöse Züge.

Im 19. und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts standen praktisch sämtliche islamische Staaten, mit Ausnahme des Osmanischen Reiches und Afghanistans, über eine längere Periode hinweg unter der kolonialen Herrschaft der Europäer. Diese oktroyierten den islamischen Gesellschaften fremde Prinzipien und Organisationsformen und implementierten westliche Wertvorstellungen. Wirtschaftliche Ausbeutung bedingte zusätzlich eine strukturelle Armut. „Als Konfliktobjekte fremder Großmächte wurden dadurch die sozioökonomische und soziopolitische Stabilität islamischer Länder zerstört.“[9] Als Gegenreaktion auf das Eindringen fremder Werte in Verbindung mit der Zerstörung ihrer homogenen Gesellschaftsordnung vollzog sich eine Reislamisierung, eine Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen Wurzeln, mit der man dem kulturellen Drift beizukommen versuchte. Aus der Ausbreitung der modernen Kultur in den islamischen Ländern in den späten 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts resultierte schließlich das Auftreten der fundamentalistischen Strömungen innerhalb des Islam.[10] Der Fundamentalismus kann als „theoretisches Prinzip und organisierte Praxis der Gegenmodernisierung“ definiert werden.[11] In der Tat besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Modernisierung und Fundamentalismus; sie treten historisch in beinahe allen Kulturen und Religionen als Zwillinge auf. Der Radikalisierung des durch die Kolonialisierung sowie anderen Gründen wiedererstarkten Islam gingen die Fundamentalismen anderer Religionen, wie des Protestantismus in den USA, voran, da die Moderne – als ein Produkt des Westens – in ihrem kulturellen Umfeld erst später Fuß fasste.

1.2 Fatale Politik

Die Theorien von u. a. Bolz und Huntington tragen nun einer entscheidenden Tatsache keine Rechnung: In sämtlichen untersuchten Kulturen besteht eine Spannung zwischen einer liberal-modernisierenden und einer fundamentalistischen Auslegung des gleichen kulturellen Erbes.[12] Dem widersprechend erachten die beiden Autoren den Islam und die westliche „Zivilisation“ als monolithische Blöcke, die sich in unvereinbarer Spannung gegenüberstehen. Aus den zwei Betrachtungsweisen leiten sich verschiedene prototypische ordnungspolitische Handlungsmaximen mit globaler Tragweite ab – mit jeweils unterschiedlichen Begründungen. Geht man von einem „clash of civilisations“ aus, dann werden sich politische Maßnahmen kollektiv gegen andere Länder richten, mit dem Ziel, sie durch Sanktionen zu schwächen oder ihnen gewaltsam das eigene gesellschaftspolitische System zu oktroyieren. Als Begründung fungiert dabei die Überlegenheit der eigenen Kultur. Betrachtet man hingegen die Annahme der Spaltung sämtlicher Kulturen als Ausgangspunkt seiner politischen Überlegungen, wird man versuchen, gezielt in bestehende gesellschaftliche Situationen einzugreifen, um die favorisierten Kräfte zu stärken. Dabei besteht das Ziel nicht darin, die andere Gesellschaft in ihrer Ganzheit externen Prinzipien zu unterwerfen, sondern auf Grundlage der Eigenheiten der jeweiligen Gesellschaften die auserwählten Parteien zu unterstützen. Im nächsten Abschnitt soll aufgezeigt werden, wie politische Maßnahmen des Westens einen gewichtigen Beitrag zum Auftrieb fundamentalistischer Strömungen geleistet haben. Sie sind von der Ignoranz der nicht differenzierenden Betrachtungsweise geprägt und ließen in einer kurzsichtigen Interessenpolitik die zumeist fundamentalistische Gesinnung der unterstützten Parteien außer Acht.

Eine radikale Auslegung des islamischen Glaubens, der Wahhabismus, konnte sich unter der Schirmherrschaft des saudi-arabischen Königshauses mithilfe der „Petro-Dollars“ weltweit ausbreiten und großen Einfluss erlangen. Die USA spielten dabei die Rolle der militärischen Schutzmacht, welche High-tech-Waffen an die Monarchen lieferte, die sich gegen äußere und innere Feinde verteidigen mussten. Im Ernstfall der Bedrohung durch Saddam Hussein 1991 griffen die USA selbst militärisch ein. Nach dem erfolgreichen Golfkrieg installierten sie zudem dauerhafte Militärbasen auf der arabischen Halbinsel. Die in dieser Weise stabilisierte Regierung der weltlichen Herrscher Saudi-Arabiens beschwichtigte nun die religiösen Führer des Landes – Anhänger des dort im 18. Jahrhundert gegründeten Wahhabismus – mit großzügiger finanzieller Unterstützung islamischer Projekte auf der ganzen Welt. Innerhalb dieser wird die strenge Interpretation einer sunnitischen Rechtsschule propagiert, wonach persönliche Verhaltensweisen und gesellschaftliche Institutionen sich kleinlichst am Koran zu orientieren haben.[13] Als eklatanter Widerspruch zu dieser Konstellation sollte sich herausstellen, dass die USA mit einem Regime intime Geschäftsbeziehungen pflegte, welches ausgiebig anti-amerikanische sowie fundamentalistische Kräfte förderte. Dies geschah fatalerweise zu einer Zeit, als sich eine grundlegende Reformierung des Islam abzeichnete und der Fundamentalismus nach der Analyse von Detlev H. Khalid in seinen letzten Zügen lag.[14]

„For many Muslim intellectuals, leftists and liberals alike, the resurgence of Saudi-backed fundamentalism has come as a devastating blow at a time when they were preparing to assume responsibility for the cultural destiny of their society. Faced with the financial might of the Wahhabi octopus they have not regained enough morale to line up for a counteroffensive.“[15]

Die liberal-modernisierenden Kräfte wurden auf diese Weise zugunsten einer fundamentalistischen Gruppierung zurückgedrängt – mit unfreiwilliger Schützenhilfe der USA.

Noch offensichtlicher und unmittelbarer geschah dies u. a. bei der militärischen Unterstützung der Mujahedin, der „Gotteskrieger“, im Kampf gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Aus dem Interesse heraus, den damaligen ideologischen und politischen Feind – die kommunistische UdSSR – entscheidend zu schwächen und zum Rückzug zu zwingen, nutzte man den Islam als politisches Werkzeug. Hierin lässt sich eine Parallel zu den islamischen Fundamentalisten ziehen, die ebenfalls Einzelteile des Islam für politische Zwecke instrumentalisieren.[16] In Zusammenarbeit mit ihren Verbündeten, dem – wie bereits dargestellt – fundamentalistisch geprägten geldgebenden Saudi-Arabien und dem das ideologische Gedankengut liefernden Pakistan, mobilisierten die USA eine breit gefächerte sowie multinationale Allianz unter Berufung auf den islamischen Jihad, den heiligen Kampf gegen die ungläubigen Unterdrücker, welche in diesem Fall die Kommunisten waren. Nach dem die hoch ideologisierten und in der Guerillataktik erprobten Mujahedin die Sowjets 1989 zum Rückzug gezwungen hatten, wurden sie, da sie nun keinen Zweck mehr zu erfüllen hatten, von den USA fallen gelassen. Osama Bin Laden, der vermutliche Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, und Sheikh Omar Abdel Rahman, der hinter dem missglückten Anschlag auf das World Trade Center 1993 steht, gehörten zu diesen Figuren. Sie und zahlreiche andere Afghanistan-Veteranen trugen den Jihad als ideologisches Konzept und praktizierten Terror schließlich in Konfliktherden wie Kaschmir, Ägypten, Algerien, Ex-Jugoslawien sowie Ostafrika.[17]

[...]


[1] Bolz: Das konsumistische Manifest, S. 9.

[2] Ebd.

[3] Economist vom 13.10.2001, zitiert in Noorani, S. 11.

[4] Bolz spricht davon, „die Risikostaaten mit dem konsumistischen Virus zu infizieren“. Das konsumistische Manifest, S. 15.

[5] Mit der Fokussierung auf den Einfluss der westlichen Politik sollen die endogenen, d. h. von den islami­schen Gesellschaften selbst ausgehenden Ursachen keineswegs marginalisiert werden. Warum dieser Zu­schnitt auf die Problematik gewählt wurde, wird im Schlusskapitel erläutert.

[6] Roy, In: Noorani: Islam and Jihad, S. 73.

[7] Bolz: Das konsumistische Manifest, S. 33.

[8] Obgleich vorwiegend die Politik der US-Regierung analysiert wird, wird im Rahmen dieser Abhandlung allgemein von der „westlichen Politik“ gesprochen, da die USA und Europa strategische Verbündete sind, sie insbesondere seit der Blockkonfrontation eine Interessengemeinschaft gegenüber dem Rest der Welt bilden und einen relativ homogenen kulturellen Raum prägen.

[9] Ghaussy: Der islamische Fundamentalismus in der Gegenwart, In: Meyer (Hrsg.): Fundamentalismus in der modernen Welt, S. 88.

[10] Armstrong, S. 141, zitiert in Noorani: Islam and Jihad, S. 55.

[11] Meyer: Fundamentalismus in Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik, S. 126.

[12] Ebd., S. 128.

[13] Marty/Appleby: Herausforderung Fundamentalismus, S. 157.

[14] Noorani: Islam and Jihad, S. 68.

[15] Khalid, S. 448, zitiert in Noorani: Islam and Jihad, S. 68.

[16] Noorani: Islam and Jihad, S. 75.

[17] Neue Züricher Zeitung vom 22./23.August 1998, Artikel: „Terrorstaat Afghanistan? Die USA lange Zeit der wichtigste Geldgeber der Islamisten“.

Fin de l'extrait de 41 pages

Résumé des informations

Titre
Die Rolle des Islam in der Weltgesellschaft
Université
University of Freiburg  (Institut für Soziologie)
Cours
Die Weltgesellschaft
Note
1,7
Auteur
Année
2004
Pages
41
N° de catalogue
V60148
ISBN (ebook)
9783638538985
ISBN (Livre)
9783638721578
Taille d'un fichier
635 KB
Langue
allemand
Annotations
Warum hat der Islam als kulturelle Kraft im Laufe des letzten Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewonnen? In welchem Zusammenhang steht sein Wiedererstarken mit dem Auftreten des islamistischen Terrorismus? Im Kontrast zur eurozentr. Sichtweise von u.a. Huntington wird ein differenzierteres Bild entworfen und das Zusammenspiel wirtschaftlicher ("Globalisierung"), politischer, kultureller (Modernisierung) und kommunikativer ("Massenmedien") Faktoren beleuchtet, das den Terror (re-)produziert.
Mots clés
Rolle, Islam, Weltgesellschaft, Thema Islam
Citation du texte
Ralf Bub (Auteur), 2004, Die Rolle des Islam in der Weltgesellschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60148

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