Auch heute noch, fast achthundert Jahre nach seinem Tod, übt die Person Joachims von Fiore eine solche Faszination aus, dass heute, wie zur Zeit Dantes, sogar die literarische Welt auf ihn aufmerksam wird. Hierbei ist es besonders Umberto Ecos meisterhafte Zeichnung mittelalterlicher Mentalitätsgeschichte "Der Name der Rose", die den Namen Joachim von Fiore tief im Bewusstsein des modernen Menschen verwurzelt hat. Doch wenigen der Leser Ecos wird bewusst sein, dass es sich bei Joachim von Fiore um einen der größten Mönchstheologen seiner Zeit handelte, um einen Mann, der im Alter von siebzig Jahren auf eine beeindruckende Reihe von Schriften aus seiner Hand zurückblicken konnte, welche die Geschichtstheologie in eine neue Ära führten. Manchem Zeitgenossen mag die Bedeutung des Namens Joachim von Fiore ebenso fremd gewesen sein, denn bemerkenswerterweise nahm der Ruhm Joachims von Fiore erst nach seinem Tod im einsamen Silagebirge Gestalt an. Obgleich der Kalabreser bereits zu Lebzeiten mit einigen Großen seiner Zeit in Berührung gekommen war, entstanden seine Werke in der Einsamkeit der Klostermauern und nicht im regen geistigen Austausch mit der gelehrten Welt des 12. Jahrhunderts. Trotz eines knappen halben Jahrhunderts intensiver und fruchtbarer Forschungsarbeit, besteht also noch immer Forschungs- und Aufklärungsbedarf, was die Person und geschichtstheologische Lehre des sogenannte kalabresische "Seherabts" - ein Terminus, der dem Selbstverständnis des Kalabresers völlig zuwider läuft - betrifft. Wie so oft ist das Quellenproblem auch im Falle Joachim von Fiore nicht zu umgehen. Eine zufriedenstellende kritische Edierung seiner Hauptwerke existiert bis zum heutigen Tag nicht, obgleich einige Versuche, sich wissenschaftlich kleineren Texten wie derGenealogiazu nähern, bereits unternommen wurden. Bis zur Publikation der von Kurt-Victor Selge begonnenen Gesamtausgabe der joachitischen Werke wird man unwillkürlich auf die Nutzung der einzigen Druckausgaben der Hauptwerke aus dem Venedig der Renaissance zurückgeworfen, die dort in den Jahren 1519 und 1527 durch Augustinereremiten entstanden. Dabei ist es ein geringer Trost, dass die venezianischen Drucke dem Vergleich mit den Protokollen der päpstlichen Kommission von Anagni, die 1255 auf Geheiß Alexanders VI. Joachims Schriften auf häretisches Gedankengut hin untersuchte, von einigen Druck- und Orthographiefehlern abgesehen, standhalten. [...]
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
1. Die Tradition: Joachim von Fiore und das apokalyptische Erbe seiner Zeit
1.1 Lebenswelten: Pilger. Prediger. Asket. Mönch
1.2 Schöpferwelten: Werk, exegetische Methode und Selbstverständnis
1.3 Gedankenwelten: Mittelalterlicher Geschichtsbegriff und apokalyptisches Erbe
2. Die Entwicklung: Grundzüge und Evolutionsstufen der Geschichts- theologie Joachims von Fiore
2.1 Wurzeln und Fundament - Die Genealogia
2.2 Veredelung und Blüte - Die großen Werke
3. Die Innovation: Bahnbrechende Lehre oder romfeindliche Häresie? Zur Originalität der joachitischen Lehre
Resumée und Ausblick
Anhang
Bibliographie
EINLEITUNG
Auch heute noch, fast achthundert Jahre nach seinem Tod, übt die Person Joachims von Fiore eine solche Faszination aus, dass heute, wie zur Zeit Dantes[1], sogar die literarische Welt auf ihn aufmerksam wird. Hierbei ist es besonders Umberto Ecos meisterhafte Zeichnung mittelalterlicher Mentalitätsgeschichte "Der Name der Rose", die den Namen Joachim von Fiore tief im Bewusstsein des modernen Menschen verwurzelt hat. Doch wenigen der Leser Ecos wird bewusst sein, dass es sich bei Joachim von Fiore um einen der größten Mönchstheologen seiner Zeit handelte, um einen Mann, der im Alter von siebzig Jahren auf eine beeindruckende Reihe von Schriften aus seiner Hand zurückblicken konnte, welche die Geschichtstheologie in eine neue Ära führten.
Manchem Zeitgenossen mag die Bedeutung des Namens Joachim von Fiore ebenso fremd gewesen sein, denn bemerkenswerterweise nahm der Ruhm Joachims von Fiore erst nach seinem Tod im einsamen Silagebirge Gestalt an. Obgleich der Kalabreser bereits zu Lebzeiten mit einigen Großen seiner Zeit in Berührung gekommen war[2], entstanden seine Werke in der Einsamkeit der Klostermauern und nicht im regen geistigen Austausch mit der gelehrten Welt des 12. Jahrhunderts.
Trotz eines knappen halben Jahrhunderts intensiver und fruchtbarer Forschungsarbeit, besteht also noch immer Forschungs- und Aufklärungsbedarf, was die Person und geschichtstheologische Lehre des sogenannte kalabresische "Seherabts" - ein Terminus, der dem Selbstverständnis des Kalabresers völlig zuwider läuft - betrifft.
Wie so oft ist das Quellenproblem auch im Falle Joachim von Fiore nicht zu umgehen. Eine zufriedenstellende kritische Edierung seiner Hauptwerke existiert bis zum heutigen Tag nicht, obgleich einige Versuche, sich wissenschaftlich kleineren Texten wie der Genealogia zu nähern, bereits unternommen wurden[3]. Bis zur Publikation der von Kurt-Victor Selge begonnenen Gesamtausgabe der joachitischen Werke wird man unwillkürlich auf die Nutzung der einzigen Druckausgaben der Hauptwerke aus dem Venedig der Renaissance zurückgeworfen, die dort in den Jahren 1519 und 1527 durch Augustinereremiten entstanden. Dabei ist es ein geringer Trost, dass die venezianischen Drucke dem Vergleich mit den Protokollen der päpstlichen Kommission von Anagni, die 1255 auf Geheiß Alexanders VI. Joachims Schriften auf häretisches Gedankengut hin untersuchte, von einigen Druck- und Orthographiefehlern abgesehen, standhalten.[4] Dennoch basiert das neuzeitliche Wissen über Joachim von Fiore oft genug auf Sekundärquellen oder einer eingeschränkten Kenntnis der Originalmanuskripte. Diese bedauerliche Tatsache ist wohl nicht zuletzt der schwierigen Natur des joachitischen Gedankengutes mit seinen mannigfaltigen Bibelbezügen zu verdanken.[5] Erschwerend war bis in die achtziger Jahre auch, dass in der Forschung die Zuordnung einiger Werke zu Joachim kontrovers diskutiert wurde. Mittlerweile allerdings kann davon ausgegangen werden, dass die nicht zum joachitischen Kanon gehörenden Manuskripte als solche erkannt worden sind.[6]
Besondere Bedeutung für die gewissenhafte Forschung über die Theorien Joachims von Fiore kommt daher der Ausschöpfung der bildgewordenen Theorie des Abtes zu, d.h. dem medialen Zusatzmaterial, das dem Historiker im Falle Joachims von Fiore zur Verfügung steht: seinen außergewöhnlichen Diagrammen.[7]
In dieser Arbeit zu beleuchtende Fragen sind: Wer war Joachim von Fiore? War er Prophet, politischer Berater oder Mahner nach biblischem Vorbild? Wie kamen seine bahnbrechenden Ideen über die christliche Welt- und Heilsgeschichte zustande und auf welche Vorgänger konnte seine Theorie sich stützen?
In der Forschung wurde Joachim von Fiore bereits als Ideologe „der beginnenden Neuzeit“[8] gefeiert, als Zertrümmerer des grundlegenden augustinischen Geschichtsbildes sowie als Schöpfer einer Religion, die er jener der heiligen Schriften entgegenstellte. „Damit“, so Jacob Taubes, bekomme „Joachim das Wesen der Neuzeit in den Blick und [taufe] sie zum Jahrtausend der Revolution“[9]. Es ergibt sich die Frage, inwiefern solcherlei Aussagen überhaupt berechtigt sind.
Diese Arbeit soll Aufschluss darüber geben, wie sich im Werk Joachims von Fiore Biographie, historischer Kontext und die Tradition der abendländischen Geschichtstheologie zu einem einzigartigen Werk verbanden. Völlig beabsichtigt wird dabei das Nachwirken der joachitischen Werke unter den Spiritualen des 13. Jahrhunderts[10] und ebenso alles, was diese Entwicklung weiter bedingte, außer Acht gelassen werden. Diese einmalige Wirkungsgeschichte ist an anderer Stelle häufig genug erschöpfend erörtert worden. Nach einer detaillierten Erläuterung der Theorie selbst, begleitet durch Vergleiche mit den diesbezüglichen diagrammatischen Darstellungen, soll zum Schluss die Frage erörtert werden, wie eigenständig und innovativ die joachitischen Ideen tatsächlich waren und ob es etwas wie einen revolutionären Gedanken in Joachims Werken in der Form gegeben hat, wie ihn Taubes nahe legt.
1. Die Tradition: Joachim von Fiore und das apokalyptische Erbe seiner Zeit
Wer sich mit einer komplexen Persönlichkeit wie Joachim von Fiore auseinandersetzen will, muss zunächst einen Blick auf die Biografie und Lebensumstände des Betroffenen werfen. Welche Einflüsse prägten ihn und damit zwangsläufig sein Werk und welche Motivation veranlasste den gelehrten Geistlichen zur Entwicklung und Niederschrift seiner geschichtstheologischen Theorie?
Natürlich darf nicht die Tradition außer Acht gelassen werden, in welcher der Denker fest verwurzelt war. Fragen wie jene nach der Bildung Joachims von Fiore oder nach den Persönlichkeiten bzw. Ereignissen, die ihn auf seinem Weg zum vollendeten Gedankengerüst ein Stück weitergebracht haben könnten, gewinnen in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Im Folgenden werde ich daher auf eben jene Fragen eingehen, doch auch näher erörtern, auf welche Weise der berühmte Kalabreser sich selbst betrachtete und aus welchen Quellen er seine Inspiration zog.
An dieser Stelle darf jedoch eine Betrachtung der Lebens- und Gedankenwelt Joachims von Fiore keinesfalls stehen bleiben. Vielmehr muss sie sich der äußeren – sowohl materialistischen wie geistigen - Umwelt des 12. Jahrhunderts zuwenden. Insbesondere aber der jahrtausendalten abendländischen Tradition der Geschichtstheologien, denen der Mönch sich gegenübersah, die wiederum selbst untrennbar mit ihrer eigenen Zeit verbunden und unter den veränderten Rahmenbedingungen des 12. Jahrhunderts nicht mehr ohne Weiteres in der Lage waren, Antworten auf die essentielle Frage nach dem Wohin der Weltgeschichte zu geben.
1.1 Lebenswelt: Pilger. Prediger. Asket. Mönch.
Die beiden Hauptquellen für die Lebensgeschichte Joachims von Fiore – neben einigen autobiographischen Passagen im Werk des Abtes und einigen wenigen erhaltenen Urkundenquellen - sind die Vita aus der Hand des Rainer von Ponza, eines Sekretärs und Gefährten Joachims sowie die Erinnerungen des Lucas, der Joachim in Casamari als Schreiber diente und 1203 zum Erzbischof von Cosenza aufstieg. Beide Schriftzeugnisse wurden kurz nach Joachims Tod um die Wende zum 13. Jahrhundert verfasst.[11] Während Lucas von Cosenza wertvolle Informationen über die Tätigkeit Joachims, die Mentalitätsgeschichte der Zeit sowie über die mystisch-spirituelle, asketische Geisteshaltung des Abtes hinterlässt, sind vom Werk Rainers von Ponza lediglich Fragmente in einer Abschrift des 17. Jahrhunderts erhalten, die allein Aufschluss über die Lebensjahre nach der Wallfahrt ins Hl. Land geben können. Joachims eigene Schriften geben lediglich Auskunft über seine reifen Jahre als Abt. Sie können aber auch Einzelheiten über seine Gedankenwelt bieten, welche die oben genannten Sekundärquellen nicht aufweisen.
Folgendes historisch belegbare Filtrat ergibt sich aus diesen Quellen: Joachim von Fiore wurde um das Jahr 1135 im kalabresischen Dorf Celico im Silagebirge geboren. Süditalien, insbesondere das im beginnenden 11. Jahrhundert mühsam den Muslimen abgerungene, nunmehr normannische Königreich Sizilien mit seinen byzantinischen Wurzeln, war ein Schmelztiegel verschiedenster Kulturen. Im 12. Jahrhundert hatte es sich unter der Normannenherrschaft zu einem blühenden Reich entwickelt, in dem sich christliche, jüdische und sarazenische Einflüsse zu einer lebendigen intellektuellen Umgebung verbanden.[12] Immer wieder wurde deshalb versucht, Joachim eine jüdische Herkunft nachzusagen, die jedoch nicht historisch belegbar ist.[13]
Zunächst von seinem Vater, einem Notar, für eine weltliche Laufbahn am königlichen Hof von Palermo bestimmt, entschied Joachim von Fiore sich als über Dreißigjähriger gegen ein weltlichen Leben, zog sich von seiner Arbeit in der königlichen Kanzlei zurück und setzte das erste Zeichen seines Lebenswandels zur intensiven Religiosität mit einer Pilgerfahrt ins Heilige Land. Diese führte ihn nicht nur nach Jerusalem, sondern auch auf den Berg Tabor, ein spirituelles Erlebnis, das ihn grundlegend verändert haben muss. Auf der Rückreise von Palästina nach Italien ließ er sich für einige Zeit als Eremit nahe einem griechischen Kloster in Sizilien nieder. Nach einer Auseinandersetzung mit seinem bitter enttäuschten Vater ließ er das weltliche Leben entgültig hinter sich. Es folgte ein Aufenthalt im Zisterzienserkloster Sambucina, wo er weitere Erfahrungen mit dem monastischen Leben sammelte.
Zunächst jedoch zog Joachim es vor, als Wanderprediger in seiner Heimat Kalabrien zu wirken. Dies ist auch das Bild, das seine Zeitgenossen zunächst von ihm gewannen: ein Mann, der als Mahner vor dem nahenden Weltgericht auftrat, die Eitelkeit irdischer Bedürfnisse predigte und zum Festhalten am rechten Glauben aufrief.[14]
So war es kein geringerer als Richard Löwenherz, an dessen Ohr - bereits zu Lebzeiten Joachims - der dem Abt von Fiore vorauseilende Ruf gedrungen war. Es wird kaum dem Zufall zuzuschreiben sein, dass der König von England den als Prophet und Seher bekannten Joachim auf seinem Weg zum Dritten Kreuzzug nach Messina rufen ließ. Ohne Zweifel werden es Fragen nach dem Ausgang des bevorstehenden Kreuzzuges gewesen sein, welche die englischen Ritter und ihren König beschäftigten. Sicher ist, dass Joachim vor seinem hohen Publikum die Bedeutung einer seiner figurae, des siebenköpfigen Drachen, erläuterte, der möglicherweise in der Lage war, Antwort auf die Fragen des Königs zu geben.[15]
Joachim von Fiore, davon kann man trotz noch nicht vorhandener, eingehender Studien ausgehen, besaß keine große Anhängerschaft, keine Jüngerschar, erst recht nicht über die Grenzen Kalabriens hinaus. Wie zu seinen Lebzeiten so auch in den folgenden Jahrzehnten hatte man ihn stets als einen Mönch und Exegeten in Erinnerung, der reinen Geistes war und das eine oder andere voraussagen konnte. Die Bedeutung seines Gedankengutes brachte ihm erst in den Reihen der Franziskaner eine „Jüngerschaft“ ein. Das Bild, das sich die zeitgenössische Umwelt von Joachim machte, überschnitt sich also kaum mit dem, welches das Gedächtnis der Nachwelt für ihn entwickeln sollte.
Aus unbekannten Beweggründen, doch vielleicht als ein Schritt zur Legitimation seiner sonst häretisch anmutenden Predigten, ließ sich Joachim von Fiore schließlich durch den Erzbischof von Catanzaro zum Priester ordinieren. Nach einer wegweisenden Begegnung mit einem griechischen Mönch[16] ließ er sich mit gut 35 Jahren im Kloster Corazzo nieder, wo er schnell zum Prior aufstieg. Als ihm jedoch die Abtwürde angetragen wurde, lehnte der von den damit verbundenen weltlichen Verwaltungsaufgaben abgestoßene Mönch ab.[17] Fast fluchtartig verließ er Corazzo und zog sich in das Kloster SS. Trinità in Acri und schließlich erneut nach Sambucina zurück, bevor ihn der Druck von Seiten kirchlicher Dignitäre zurück nach Corazzo zwang, das unter seiner Leitung (1171-77) und wahrscheinlich auf seine Veranlassung hin schließlich die Zisterzienserregel annahm und sich nach hartem, zehn Jahre währenden Kampf der Abtei Fossanova affilierte. Der kalabresische Mönch zeigte sich als überzeugter Anhänger der von Cîteaux ausgehenden Reformbewegung.[18]
Bereits vier Jahre zuvor gibt es den ersten Hinweis auf eine schriftstellerische Tätigkeit Joachims: Im Jahre 1184 lässt er sich von Papst Lucius III. die Erlaubnis erteilen, niederschreiben zu dürfen, was ihm durch die – in seinem Falle weniger mystischen als eher exegetisch-bedingten - Enthüllungen offenbart wurde.[19] Dies geschah zu etwa derselben Zeit, zu der sich Joachim in Casamari aufhielt und mit der Abfassung seines Psalterium Decem Chordarum begann, welches er vier Jahre später (1187/88) in Kalabrien beenden sollte.
Als hätte er auf die päpstliche Erlaubnis, sich ganz seiner Bibelexegese widmen zu können, gewartet, zog sich Joachim von Fiore aus Corazzo ins entlegene Silagebirge zurück, fern ab von der Zivilisation. Doch bereits 1192 rief ihn das Zisterziensergeneralkapitel mit harter Stimme in das ihm unterstehende Kloster von Corazzo zurück. Trotz aller Drohungen weigerte sich der Kalabreser, zurückzugehen. Er zog es vielmehr vor, 1190 in Fiore ein neues Kloster zu gründen, dem er den Namen S. Giovanni gab und selbst als Abt vorstand. Kurz nach der Jahrhundertwende schloss sich der Kreis: Im hohen Alter von fast siebzig Jahren[20] verstarb Joachim im Silagebirge, jedoch nicht, ohne einen bleibenden Eindruck als heiliger Mann und Prophet auf seine Nachwelt hinterlassen zu haben.
1.2 Schöpferwelten: Werk, exegetische Methode und Selbstverständnis
Die Reputation Joachims von Fiore als Apokalyptiker und Prophet, die nicht zuletzt im Treffen mit Richard Löwenherz zutage tritt, begründete sich auf der in seinen Werken manifestierten Lehre. Wie jedoch kam diese zustande? Welche Werke aus dem großen Corpus der Joachim von Fiore zugeschriebenen Werke stammen bewiesenermaßen aus der Feder des berühmten Abtes und wie ging dieser bei der Abfassung der Schriften vor? Diese Fragen werden nun im Zentrum des Interesses stehen.
Erhalten sind der fragmentarische Tractatus super quatuor Evangelia, die De prophetia ignota, das Enchiridion super Apocalypsim und die unvollendete Vita S. Benedicti, eine Interpretation der Benediktregel und gleichzeitige Einsicht in Joachims Vorstellung des zeitgenössischen Monastizismus. Weiterhin sind die ausdrücklich apokalyptischen Schriften unter den Titeln De septem sigillis und Praephatio super Apocalypsim sowie die apologetische Schrift Adversus Iudeos erhalten . Bei letzterem Werk handelt es sich um ein interessantes Zeugnis anti-jüdischer Polemik, besonders, da Joachim sich nicht wie andere Autoren damit zufrieden gab, nur eine Antwort auf jüdische Angriffe auf das Christentum zu geben, sondern den Juden vielmehr Hoffnung durch Konversion in Aussicht stellt.
Diese Werke können zwar, ebenso wie die kleineren Schriften Joachims, Briefe, Predigten und Gedichte, aufgrund ihres teils vorläufigen Charakters wertvolles Licht auf die Gedankenwelt und Arbeitsweise Joachims werfen[21], sind jedoch für die Thematik dieser Arbeit wenig relevant. Eine Ausnahme bildet die Genealogia, in der bereits der Grundstein für das geschichtstheologische Gedankengebäude der späteren Werke gelegt wurde. Eine diagrammatische Verdeutlichung erhielt die ausgereifte joachitische Lehre im Liber figurarum, jenem Joachim von Fiore zugeschriebenen und authentischen[22] Bildwerk, das in außergewöhnlicher Weise durch 23 Tafeln deren Kern illustriert. Diese figurae, die eine didaktische Verdichtung der komplexen Theorie bilden und von hoher intellektueller und künstlerischer Leistung seitens des Entwerfenden zeugen, stellen eine ungemein wichtige Quelle für die Komplexität der joachitischen Gedanken dar.[23]
Für die Thematik der Geschichtstheologie sind, abgesehen von der Genealogia, vielmehr drei untrennbare Werke zu nennen, die Seite an Seite nach 1182 während des anderthalb Jahre andauernden Aufenthaltes in Casamari entstanden und komplett erhalten sind: Der Liber Concordiae Novi ac Veteris Testamenti, eine intensive Studie des Alten Testaments, welche zugleich die exegetische Methode Joachims detailliert darlegt; weiterhin das Meisterwerk Joachims, ein großangelegter Apokalypsenkommentar mit dem Titel Expositio in Apocalypsim und als letzter Teil dieses Zyklus das Werk Psalterium Decem Chordarum, eine Mischform zwischen Psalmenkommentar und einer Abhandlung über das Mysterium der Dreifaltigkeit.[24]
Diese vier literarischen Schriften, in denen die basalen Themen der Geschichtstheologie und der Exegese erläutert sind, werden im nächsten Kapitel die Grundlage der Betrachtung der joachitischen Geschichtsdeutung bilden, wobei ihre Interpretation an gegebener Stelle durch die Verbildlichung im Liber Figurarum deutlich gemacht werden wird.
Der Stil Joachims in den Hauptschriften ist diskursiv und nicht selten redundant. Oft ergibt sich auf den ersten Blick kein geschlossenes Konzept, und nicht selten springen versiegte Gedanken des Verfassers an anderer Stelle wieder in den Vordergrund, diesmal in einer völlig neuen Vernetzung mit zuvor lediglich eingestreuten Ideen. Alles in allem zeugt dies von einer regen geistigen Mobilität, die sich immer wieder neuen Gegebenheiten anpassen musste und welche Reeves äußerst passend als „kaleidoskopisch“ charakterisierte.[25] Dies Bedingt die Gedankensprünge des Kalabresers jedoch auch durch die exegetische Arbeitsmethode, die sich in erster Linie auf die Auslegung der Heiligen Schrift stützte und mühsames und genauestes Studium der Testamente unabdingbar machte, denn Joachim von Fiore war in erster Linie ein Bibelexeget und Theologe, kein mystischer Prophet. Im Verlaufe seiner Kontemplationen über die Heilige Schrift entwickelte sich seine Theorie und mit jedem Stück weiterer Erkenntnis, die ihm durch die gewissenhafte Exegese zuteil wurde, fügte sich ein neues Stück in das Bedeutungspuzzle der Welt- und Heilsgeschichte.
Das Alte und Neue Testament waren das Rückgrat seiner Arbeit, doch Joachim von Fiore näherte sich der in den Worten der Schrift verborgenen Wahrheit durch eine neue Theorie der Schriftsinne, die sich vom traditionellen, patristischen Dreier- bzw. Viererschema bewusst entfernte[26]. Die allegorische Vorgehensweise, die es rechtfertigte, jede einzelne Erscheinung aus der geschichtlichen Welt zur irdischen Verkörperung allgemeiner Wahrheiten und Begriffe zu machen, entsprach nicht Joachims Vorstellung. Im Kern seiner Arbeit steht die Methode der Typologie, die bis zu Paulus zurückreicht, und eine Parallelisierung und Interpretation von Geschehnissen, Personen und Fakten im heilsgeschichtlichen Sinne nach sich zieht. Angelegt ist dieses Schriftverständnis bereits im Alten Testament in der Formel von der Erfüllung der Prophetien.
Durch die typologische Methode wurde es dem mittelalterlichen Denker möglich, Ereignisse und Tatsachen aus der Vergangenheit im Hinblick auf eine parallele Repräsentation dieser Fakten in der Zukunft bzw. der Gegenwart zu deuten. In der Heiligen Schrift war somit bereits der zeitlich-irdische Lauf der Weltgeschichte angelegt. Hinter dieser Vorstellung stand die Idee von einem göttlichen Plan, einer vorherbestimmten Struktur des Weltgeschehens. Auf dem Weg vom literalen zum geistigen Sinn der Schrift wählte Joachim somit nicht den faktischen Weg, der hinter jedem Aspekt zeitlose Glaubenswahrheiten im allegorische Gewand vermutete, sondern er durchleuchtete die Worte des Alten Testaments auf Hinweise zur Interpretation des Neuen als Erfüllung einer vorherbestimmten Prophezeiung der Heilsgeschichte.[27]
Besonders deutlich wird dies in Titel und Inhalt seines Liber Concordiae und in der Beschreibung des Hauptwerkzeugs joachitischer Schriftauslegung: der Konkordanz. Diese definiert Joachim als die „ similitudo eque proportionis novi ac veteris testamenti eque dico quoad numerum non quoad dignitatem, cum videlicet persona et persona, ordo et ordo, bellum et bellum ex parilitate quadam mutuis se vultibus intuentur. “[28]
[...]
[1] Vgl. Herbert GRUNDMANN, "Dante und Joachim von Fiore. Zu Paradiso X-XII", in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Bd 2: Joachim von Fiore (Monumenta Germaniae Historia Schriften, Bd. 25,2), Stuttgart 1977, S. 166-211.
[2] Es sei insbesondere das Zusammentreffen mit König Richard Löwenherz im winterlichen Messina des Jahres 1190/1 oder mit Papst Lucius III. in Casamari (Mai 1184) zu nennen. Siehe dazu Marjorie REEVES, Joachim of Fiore and the Prophetic Future, London 1976, S. 22 [Im Folgenden: REEVES 1976, S. x] und Bernard McGINN, The Calabrian Abbot. Joachim of Fiore in the History of Western Thought, New York / London 1985, S. 11f [Im Folgenden: McGINN 1985, S. x].
Auch das von einer späteren Vita Joachims betonte Zusammentreffen mit dem Staufer Heinrich VI. zeugt sowohl vom Bekanntschaftsgrad des kalabresischen Abtes als auch von seinem Selbstverständnis als Mahner der Menschheit. So kritisiert er Heinrich VI. offen, als dieser nach seiner Niederlage im ersten Versuch, Konstanzes Erbreich zu erlangen, sein Heer gegen die Bevölkerung, Laien wie Kleriker zugleich, aufhetzt. Dieses Einschreiten Joachims scheint den jungen Kaiser beeindruckt zu haben, insbesondere da die Prophezeiung Joachims, Sizilien werde dem König bald kampflos zufallen, sich 1194 als wahr herausstellen sollte. Auch urkundliche Überlieferung zeugt vom guten Verhältnis zwischen Heinrich VI. und seiner Gemahlin (siehe Gerbert GRUNDMANN, "Zur Biographie Joachims von Fiore und Rainers von Ponza", in: Ders. Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2: Joachim von Fiore (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 25,2), Stuttgart 1977, S. 255-360, hier: S. 316-318. [Im Folgenden: GRUNDMANN 1977d]
Obgleich McGINN (1985, S. 29) und Matthias RIEDL (Joachim von Fiore. Denker der vollendeten Menschheit, Würzburg 2004, S. 12. [Im Folgenden: RIEDL 2004, S. x]) beizupflichten ist, dass es sich bei Joachim von Fiore um einen Mann von politischer Bedeutung handelte, ist jedoch nicht zu vernachlässigen, dass er vorrangig Theologe und Exeget war.
[3] Von der Exposition in Apocalypsim existiert eine Edition von Chrisostomos Huck, auf deren Mangelhaftigkeit schon durch Herbert GRUNDMANN (Studien über Joachim von Fiore, Darmstadt 1966, S. 27f [Im Folgenden: GRUNDMANN 1966, S. x]) und Kurt-Victor SELGE („ Eine Einführung Joachims von Fiore in die Johannesapokalypse “, in: DA 46 (1990), S. 85-131 [Im Folgenden: SELGE 1990, S. x]) aufmerksam gemacht wurde.
[4] Das Protokoll gibt die Kernaussagen der joachitischen Lehre und bietet somit aufgrund der Übereinstimmung des Wortlautes mit der venezianischen Edition der Concordia Novi ac Veteris Testamenti, der Expositio in Apocalypsim sowie des Psalterium Decem Chordarum einen festen Anhaltspunkt für die Authentizität des gedruckten Manuskriptinhalts. Siehe GRUNDMANN 1966, S. 15-17.
[5] Vgl. RIEDL 2004, S. 12.
[6] Vgl. McGINN 1985, S. 30f.
[7] Vgl. Gian Luca POTESTÀ, „ Geschichte als Ordnung in der Diagrammatik Joachims von Fiore “, in: Alexander Patschovsky (Hg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Ostfildern 2003, S. 115-145, hier: S. 116 [Im Folgenden: POTESTÀ 2003, S. x].
[8] In seiner philosophischen Studie Alois DEMPF, Sacrum Imperium. Geschichte und Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, Darmstadt 21954, S. 269.
[9] Vgl. Jacob TAUBES, Abendländische Eschatologie, München 1991, S. 81.
[10] An dieser Stelle mag eine kurze Zusammenfassung des Nachwirkens joachitischer Ideen genügen: Obgleich im Jahre 1215 auf dem 4. Laterankonzil eine gegen Petrus Lombardus gerichtete These Joachims bezüglich der Natur der Dreifaltigkeit verurteilt und im sogenannten Protokoll von Anagni eine päpstliche Kommission Alexanders IV. die Lehre des kalabresischen Abtes auf häretisches Gedankengut untersuchte, da einige der joachitischen Sätze in Gerhard von Borgo S. Donninos "Liber introductorius ad Evangelium eternum" (dem "Ewigen Evangelium, welches Joachim selbst zugeschrieben wurde) überführt worden waren, wurde dem kalabresischen Abt nie der Status eines Häretikers zuteil. Dennoch blieb sein Ruf ein janusköpfiger: Auf der einen Seite verdammte man seine Trinitätsdoktrin als häretisch, zum Anderen blieb Joachim von Fiore den Menschen seiner Zeit als Mahner und Künder des Kommenden, als Prophet im alttestamentlichen Sinne und Eingeweihter in den göttlichen Plan in Erinnerung.
In der Generation, die seinem Tod folgte, begannen seine Lehren, eine Wirkungsgeschichte zu entwickeln, wie sie sie zu Lebzeiten des Abtes niemals erreicht hatte. Werke und Thesen verschiedenster Art wurden dem Mönchstheologen zugeschrieben. Die verfälschende Rezeption gipfelte in der sogenannten pseudo-joachimitischen Strömung, welche das komplexe Gedankengerüst allein auf Berechnungen der dritten Ära reduzierte.
Zudem bot Joachim von Fiore dem Mittelalter auf verschiedenste Weise die Möglichkeit einer Propagandisierung seiner Lehre. Dies geschah nicht zuletzt im Falle des Staufers Friedrichs II., der seine Rolle in der Geschichte durch das Ziehen von Parallelen zwischen seiner eigenen Person und biblischen Vorbildern charakterisierte. In der zeitgenössischen Vorstellung Friedrichs als des renovator mundi verschmolzen die alte Tradition des letzten Weltkaisers mit der joachitischen Idee eines gerechten Geißlers und Erneuerers einer moralisch verdorbenen Kirche. Friedrich II. entwickelte so ein Selbstverständnis als endzeitlicher Kaiser (siehe REEVES 1976, S. 60-62 sowie Herbert GRUNDMANN, "Federico II e Gioacchino da Fiore", in: Ausgewählte Aufsätze, Teil 2: Joachim von Fiore, Stuttgart 1977, S. 220-227).
Ab den 40er Jahren des 13. Jahrhunderts entdeckte der spiritualistische Zweig der Franziskaner die Werke Joachims von Fiore als die eines Propheten, der in seiner Beschreibung der neuen ordines das Kommen der Bettelorden vorhersagte. Damit einher ging ein gesteigertes Interesse an der Theorie des dritten Status (im Allgemeinen zur Nachwirkung der joachitischen Gedanken und ihrer Rezeption siehe; RIEDL 2004, S. 128, 339 und 34; McGINN 1985, S. 167 und REEVES 1976, S. 27-30).
[11] Der Mönch Rainer von Ponza wird von Lucas von Cosenza als intimus Joachims bezeichnet. Er war der einzige, der dem Kalabreser aus Sambucina ins Silagebirge folgte, wo sich seine Spur verliert. Lucas von Cosenza leistete Joachim von Fiore bei seinem Aufenthalt in Casamari als Schreiber Hilfe. Später wurde er von dem Kalabreser als Abt von Sambucina empfohlen. Die Erinnerungen an den bewunderten Joachim entstanden jedoch noch später in der Zeit seines Pontifikats in Cosenza. Die Schrift ist eher an dem Menschen und Asketen Joachim interessiert als an dem Denker. Das joachitische Gedankengut scheint Lucas, der sicherlich damit vertraut war, nicht nachhaltig beeinflusst zu haben. Bei seiner Schrift handelt es sich um die vertrauenswürdigste Quelle für das Leben Joachims (siehe GRUNDMANN 1977d, S. 92-94, 258f, 307 und 323).
Beide Viten geben zuverlässige und durch erhaltene Urkunden teils bestätigte oder ergänzte Auskünfte über Joachim von Fiore, ohne sich in den vitentypischen Beschreibungen der übernatürlichen Wunderwirkungen des Abtes zu ergehen. Ein Abdruck beider Viten findet sich in GRUNDMANN 1977d, S. 342-358.
[12] Zur Situation in Süditalien im 11. und 12. Jahrhundert siehe RIEDL 2004, S. 119 und McGINN 1985, S. 3-5.
[13] Die Diskussion um die Abstammung Joachims von Fiore wurde durch eine Bemerkung in der Polemik eines seiner Gegner, Gaufrid von Auxerre, ausgelöst (siehe zur entsprechenden Himmelfahrtspredigt, in der Gaufrid Joachim als heimlichen Juden, Häretiker und Chiliasten beschimpft GRUNDMANN 1977d, S. 256, 324-337). Der frühere Sekretär und Biograph Bernhards von Clairvaux behauptete, Joachim habe sein Judentum noch nicht überwunden und versuche mit seinen Anhängern, seine Herkunft zu vertuschen, eine Vorsichtsmaßnahme, die im damaligen Süditalien kaum vonnöten gewesen wäre. Auch die Tatsache, dass sich der kalabresische Abt auf jüdische Zahlensymbolik bezog, kann kaum als Beweis für eine jüdische Abstammung gesehen werden, da dies auch bei anderen christlichen Autoren nicht unüblich war. Vielmehr finden sich ebenso zynische Erwähnungen der Juden (z.B. im Liber Concordiae Novi ac Veteris Testamentis IIa, Kap. 1, fol 6rb), die darauf schließen lassen, dass Joachim sie gemäß dem paulinischen Vorbild als potentielle Konvertiten ansieht und sich ihnen gegenüber lediglich feindselig verhält, soweit sie auf ihrem Judentum beharren. Siehe zur Thematik vorrangig RIEDL 2004, S. 119f, 270f und GRUNDMANN 1977d, S. 340f. Darüber hinaus: REEVES 1976, S. 3 oder Beatrice HIRSCH-REICH, „ Joachim von Fiore und das Judentum “, in: Delno C. WEST (Hg.), Joachim of Fiore in Christian Thought. Essays on the Influences of the Calabrian Prophet, Bd. 2, New York 1975, S. 473-510.
[14] Vgl. Herbert GRUNDMANN, „ Kleinere Beiträge über Joachim von Fiore “, in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Teil 2: Joachim von Fiore (Monumenta Germaniae Historia Schriften 25,2), Stuttgart 1977, S. 70-100, hier: S. 89-100 [Im Folgenden: GRUNDMANN 1977b].
[15] Siehe zu dieser Begegnung: REEVES 1976, S. 22f und McGINN 1985, S. 26f. Obgleich der damals anwesende Chronist und Hofgeistliche Richard Howden unter dem Alias Benedict von Peterborough einen Bericht über dieses Treffen hinterließ, geht daraus nicht hervor, ob Joachim den Erwartungen Richards gerecht wurde.
[16] Vgl. McGINN 1985, S. 19 und GRUNDMANN 1977d, S. 302.
[17] In der Praefatio zum Psalterium (fol 227ra-rb) erläutert Joachim: „ Sed cum michi, qui – ut iam cogitatione et aviditate illius superne civitatis habitator effectus – fruebar secundum interiorem hominum non modica visione pacis, accideret illud, quod sibi multis et si frustra accidisse qzeruntur, ut rursum occasione cure rei familiaris cogerer implicari negotiis monasterii, que secundum cuiusdam coloris sui speciem aut vere secularia sunt aut pene secularia iudicanda, compulsus sum iterum cum cordis gemitu nec sine formidine exclamare: Heu michi quia incolatus meus prolongatus est. “
[18] Die zisterziensische Reform hatte es sich zum Hauptziel erklärt, die in der Regula Benedicti festgehaltenen Ideale des monastischen Lebens uneingeschränkt zu verwirklichen. Mitglieder des Ordens zeichneten sich durch ihren eremitische Abgeschiedenheit, Askese und die strenge Befolgung der Regula Benedicti aus. Sie sollte den Ausgangspunkt des zukünftigen Mönchstums bilden, indem sie das Ordenswesen einführte, welches die Vereinheitlichung von Klöstern und ihren Gebräuchen im Westen mit sich brachte. All diese Ideale hatten einen profunden Einfluss auf Joachim von Fiore und seine Vorstellung mönchischen Lebens. Siehe McGINN 1985, S. 17; RIEDL 2004, S. 244.
[19] „ licentiam scribendi quemadmodum viderat per revelationem “. Die Bitte um diese päpstliche Bestätigung seiner exegetischen Tätigkeit könnte eventuell ein Versuch gewesen sein, sich mit dem zisterziensischen Generalkapitel zu versöhnen, dass schriftstellerische Tätigkeit ohne Erlaubnis nicht duldete (siehe McGINN 1985, S. 22 und GRUNDMANN 1977, S. 307f). Auch Lucius III. hatte seine Gründe, Joachim vorzuladen: Der kalabresische Abt sollte eine politisch brisante Prophetieschrift, die Prophetia ignota, die kurz zuvor im Nachlass eines reformierten Mitglieds der Kurie, Kardinal Matthäus von Angers, entdeckt worden war, erläutern und interpretieren (vgl. McGINN 1985, S. 22f sowie insbesondere Herbert GRUNDMANN, "Joachim erklärt dem Papst eine Prophetie, 1184", in: Ders., Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2: Joachim von Fiore (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 25,2), Stuttgart 1977, S. 74-89). Diese delikate Aufgabe wusste Joachim brillant zu lösen, indem er der Kirche eine Orientierung im Weltgeschehen gab und indirekt davor warnte, sie in Laienhand - in diesem Fall in die des Stauferkaisers - zu geben. Im Typus eines alttestamentarischen Propheten riet er von jeglicher Bündnispolitik mit dem König ab und rief zu unerschütterlichem Gottvertrauen auf. Somit tritt Joachim von Fiore, oft zu Unrecht als weltabgewandter Eremit verstanden, als politischer Berater des Papstes auf (zu dieser Episode siehe RIEDL 2004, S. 152-159).
[20] Joachim von Fiore verstarb wahrscheinlich am 30. Mai 1202 wie die Joachim-Vita des Lucas von Cosenza berichtet. Siehe hierzu sowie zur Biografie des kalabresischen Abtes: Einführend RIEDL 2004, S. 119-122. Darüber hinaus: GRUNDMANN 1977d.
[21] Siehe Gian Luca POTESTÀ, „ Die Genealogia. Ein frühes Werk Joachims von Fiore und die Anfänge seines Geschichtsbildes “, DA 56 (2000), S. 55-101, hier: S. 60 [Im Folgenden: POTESTÀ 2000, S. x].
[22] In der Forschung wurde lange diskutiert, ob es sich bei diesem Werk um eine Schrift handelt, die der Abt selbst gekannt hatte, oder ob es ein nachträglich zur Verbreitung des Gedankenguts im minder gebildeten Publikum erschaffenes Werk sei. Mittlerweile haben Leone Tondelli, Marjorie Reeves und Beatrice Hirsch-Reich durch sorgfältige Analyse erfolgreich darlegen können, dass es sich um ein authentisches Werk handelt. Siehe dazu ihre Arbeiten: Leone TONDELLI, Il libro delle figure dell'abbate Gioachino da Fiore, 2 Bde., Turin 21953. Der Tafelband wurde dabei von Tondelli in Gemeinschaftsarbeit mit Marjorie Reeves und Beatrice Hirsch-Reich herausgegeben. In der zweiten Auflage wird auch die Handschrift des Oxforder Corpus Christi College beachtet.
Der Liber Figurarum stellte wahrscheinlich eine Illustration des apokalyptischen Ideengutes bei Joachim von Fiore dar, welcher die in den drei Hauptwerken des Kalabresers vorhandenen Textillustrationen in bereicherter Weise zusammenführte (siehe McGINN 1985, S. 107).
[23] Vgl. REEVES 1976, S. 17 und Robert E. LERNER, „ Antichrists and Antichrist in Joachim of Fiore “, Speculum 60,3 (Juni 1985), S. 553-570, hier: S. 565 [Im Folgenden: LERNER 1985, S. x].
[24] Zu den Werken Joachims vgl. REEVES 1976, S. 17; POTESTÀ 2003, S. 120; RIEDL 2004, S. 206, 232 und McGINN 1985, S. 29-37.
[25] Vgl. REEVES 1976, S. 15, 17. All dies deutet auf eine sehr dynamische und geistig rastlose Arbeitsweise des Mönchstheologen hin, eine Tatsache, die auch die Entwicklung seiner Geschichtstheologie belegt. Immer wieder wird sie weiterentwickelt, verfeinert und überarbeitet. Dies gilt auch für die diagrammatischen figurae, die immer wieder einem neuen Arbeitsstand angepasst zu werden schienen (vgl. POTESTÀ 2003, S. 120f; McGINN 1985, S. 115 und SELGE 1990, S. 86).
[26] Für eine detailliertere Beschreibung der joachitischen Theorie über die Schriftsinne und seinen Bruch mit den abendländischen, frühchristlichen Traditionen siehe das entsprechende Kapitel bei Henri de LUBAC, Exégèse Médiévale, Paris 1964.
[27] Das auf Origines zurückgehende antike Dreierschema des mehrfachen Schriftsinns unterscheidet zwischen drei Möglichkeiten der Bibelauslegung: Der historischen, das bedeutet wörtlichen, der moralischen, gemeint ist eine tropologische, und der allegorischen. Dies kann im Viererschema noch durch einen anagogistischen bzw. eschatologischen Schriftsinn erweitert werden. Zur exegetischen Methode Joachims von Fiore siehe GRUNDMANN 1966, S. 26-43 und für eine detaillierte Auflistung der joachitischen 12-15 Schriftsinne McGINN 1985, S. 129-131, 150.
[28] Liber Concordiae II, Kap. 12, 7bc. Wobei zu beachten ist, dass der Begriff „ Concordia “ im joachitischen Sprachgebrauch ebenso den Wahrheits- und Tatsachenbestand beider Testamente bezeichnen kann, zu dem der Exeget durch bestimmte Mittel vorzudringen versucht (vgl. GRUNDMANN 1966, S. 44).
- Arbeit zitieren
- M.A. Isabel Blumenroth (Autor:in), 2005, Zwischen Tradition und Innovation - Betrachtungen zur Entwicklung und Originalität der Geschichtstheologie Joachims von Fiore, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60238
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