Die Entwicklung der Einkommensungleichheit


Hausarbeit, 2005

40 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Einkommensverteilung bis 1989
2.1 Ost – West Vergleich
2.2 Unterschiede zwischen den sozialistischen Ländern
2.3 Begründung für die Einkommensungleichheit zwischen Ost und West

3 Entwicklungen nach dem Umbruch
3.1 Anstieg der Einkommensungleichheit
3.2 Ursachen für diese Entwicklungen
3.3 Verlierer und Gewinner der Transformation

4 Bulgarien und Tschechien im Vergleich
4.1 Die Einkommenssituation in Bulgarien und der Tschechoslowakei bis 1989
4.2 Bulgarien
4.2.1 Die wirtschaftliche und politische Entwicklung nach 1989
4.2.2 Folgen für die Entwicklung der Einkommensungleichheit
4.3 Die Tschechische Republik
4.3.1 Die wirtschaftliche und politische Entwicklung nach 1989
4.3.2 Folgen für die Entwicklung der Einkommensungleichheit

5 Fazit

6 Probleme mit der Datenlage und der Literatur

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 8.1 Die Einkommensentwicklung im EU-Vergleich von 1995-2005

Abbildung 8.2 Armutsgefährdungsquote in der Europäischen Union

Tabellenverzeichnis

Tabelle 8.1 Die Einkommensverteilung in der Spätphase des Sozialismus

Tabelle 8.2 Nettoeinkommensverteilung in Ost- und Westeuropa in der zweiten Hälfte der 80er Jahre

Tabelle 8.3 Erwerbsquote bei den Frauen in der Altersgruppe 40-44 im internationalen Vergleich

Tabelle 8.4 Anstieg der relativen Armut im Reformprozess (Anteil der armen Bevölkerung in %)

Tabelle 8.5 Die Verteilung in den Familieneinkommen in den Übergangsökonomien

Tabelle 8.6 Soziale Wohlfahrtsindikatoren (Veränderungen in %, 1989/1993)

Tabelle 8.7 Einkommensverteilung in den Transformationsstaaten ab 1995 (Angaben in Gini-Koeffizient)

Tabelle 8.8 Ungleichheit der Einkommensverteilung (Verteilungsquintil)

Tabelle 8.9Anteil der Erwerbstätigen im staatlichen Sektor

Tabelle 8.10 Einkommensquellen 1887-88 und 1993-94

Tabelle 8.11 Wachstum des Nominaleinkommens und Sinken des tatsächlichen Einkommens in Bulgarien 1990-1991

Tabelle 8.12 Die Entwicklung der Arbeitslosenquote

Tabelle 8.13 Die Entwicklung der Bruttoindustrieproduktion

1 Einleitung

Mit dem Umbruch in Osteuropa 1989 setzte zunächst eine Phase der Euphorie ein. Die Transformation war mit der Hoffnung eines neuen Wohlstandes im westlichen Stil verbunden. Die ökonomischen und politischen Reformen sollten den Markt blühen lassen und die damit einhergehenden Einkommenserhöhungen sollten die Lücke des Lebensstandards zwischen Ost und West schließen.

Doch die tiefe wirtschaftliche Rezession überschattete die anfänglichen Hoffnungen. 1997 lag das durchschnittliche Bruttoinlandprodukt (BIP) in Mittelosteuropa (MOE) immer noch 12 Prozent niedriger als 1990. In Lettland und Litauen betrug das BIP im Vergleich zu 1990 nur bei etwa 59 Prozent. Im Jahr 2000 erreichten nur 5 der 27 postkommunistischen Staaten ihr BIP von 1989.[1]

Der Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft bedeutet in vielerlei Hinsicht eine größere Differenzierung von Lebenschancen und –verhältnissen: zwischen Berufgruppen, zwischen Religionen und zwischen Männern und Frauen.

Aber die mit der Transformation einhergehende steigende Einkommensungleichheit spielt eine besonders bedeutende Rolle. Denn erstens wird der Einkommensstaus zum wichtigsten Kriterium im sozialen Schichtungssystem und zweitens bestimmt die Einkommenshöhe den Zugang zum Konsumgütermarkt. Die Höhe des Einkommens entscheidet über die Möglichkeiten der Haushalte Lebensmittel und andere Waren zu erwerben. Zum Beispiel findet sich in Haushalten mit einem niedrigen Haushaltseinkommen weniger fließendes Wasser, Küchenherde und besonders wird an den kulturellen Gegenständen wie Fernseher, Rundfunkgeräten und Büchern gespart.[2]

In der vorliegenden Arbeit wird als erstes die Einkommensungleichheit vor der Transformation im Ost-Westvergleich dargelegt sowie einige Begründungsversuche für die unterschiedlichen Tendenzen. Im zweiten Teil geht es um die steigenden Ungleichheiten in MOE und Osteuropa nach der Transformation sowie deren Ursachen. Die Entwicklung der Einkommensungleichheit wird anschließend am Beispiel Bulgariens und der Tschechischen Republik erläutert, da die Entwicklung während des Transformations-prozesses der beiden Staaten grundverschieden ist, Bulgarien mit einer extrem hohen und

Tschechien mit einer relativ niedrigen Ungleichheit. Im Rahmen dieses Vergleichs werden

zunächst die Wirtschafts- und Einkommenssituation bis zum Umbruch zusammen dargestellt, da die Rahmenbedingungen sehr ähnlich waren. Anschließend geht es um die unterschiedlichen Entwicklungen während des Transformationsprozesses.

Am Ende der Hausarbeit findet sich ein Anhang mit empirischen Abbildungen und Tabellen, die unter anderem die Entwicklung der Einkommensungleichheit aufzeigen.

Die statistischen Daten beschränken sich vor allem auf das Pro-Kopf-Haushaltseinkommen, da hier die Datenlage weitaus besser ist als bei den Pro-Kopf-Arbeitseinkommen.

2 Die Einkommensverteilung bis 1989

2.1 Ost – West Vergleich

Der Aufbau des Staatssozialismus in Osteuropa, nach dem 2. Weltkrieg, konnte zum Teil die gravierenden sozialen Ungleichheiten, die lange in den agrarisch-feudal geprägten Gesellschaften vorherrschten, minimieren.

Dennoch waren die Volksdemokratien keinesfalls egalitär. Auch hier gab es Einkommens- und Lebensbedingungsunterschiede.

Vergleicht man aber die sozialistischen Länder mit den westlichen Industrienationen, so bestand eine relative Egalität. Die größten Ungleichheiten zeigten sich in Südeuropa, der Schweiz und vor allem in der „Neuen Welt“, Australien, Kanada und den USA. In der Schweiz verzeichnete 1987 das reichste Kanton ein 80 Prozent höheres Pro-Kopf-Einkommen als das ärmste.[3] Das reichste Bevölkerungsfünftel hatte im Vergleich zu dem ärmsten Bevölkerungsfünftel, in Schweden, einen viereinhalbfachen, in Australien sogar einen zehnfachen Anteil am Gesamteinkommen. Hingegen belief sich der Anteil in Osteuropa nur im drei- bis vierfachen Bereich.

Studien der Weltbank in den 80er Jahren verdeutlichen die Unterschiede bezüglich der Einkommensungleichheit zwischen Ost und West. Das untere Bevölkerungsfünftel musste einen Einkommensanteil von mindestens 8 Prozent haben, damit das Prädikat „befriedigend“ erteilt werden konnte. In Mittelosteuropa erzielten alle Staaten dieses Prädikat. Die meisten lagen aber deutlich über den 8 Prozent. Von den westlichen Demokratien erhielten nur wenige das Prädikat „befriedigend“, und das meist knapp.[4]

Auch bezüglich der Einkommensverteilung zwischen Männern und Frauen bestand in Osteuropa eine größere Gleichheit als im Großteil Europas.

Trotz Nichtdiskriminierungsgesetzen der Geschlechter in den 80er Jahren, waren die Frauen generell ungleicher als die Männer. Großbritannien bildete das Schlusslicht. Die Frauen verdienten Ende der 80er nur 73,7 Prozent des männlichen Einkommens. In Frankreich waren es 76,6 Prozent, in Italien 76,5 Prozent, in Westdeutschland 76,9 Prozent. Die skandinavischen Länder, außer Finnland mit Platz sieben, nahmen zusammen mit den osteuropäischen Ländern führende Positionen ein. In der DDR verdienten die Frauen 89,9 Prozent des männlichen Einkommens, in Dänemark 88,1 Prozent, in Schweden 87 Prozent.

Ein Ausreißer unter den osteuropäischen Staaten war die Tschechoslowakei. 1967 lag das Einkommen einer Frau lediglich bei 50 Prozent des männlichen und in den 80er Jahren bei ungefähr 66 Prozent. Dieser enorme Unterschied liegt vordergründig in historischen Ursachen.[5]

Dennoch sollten die positiven Ergebnisse, im Bezug auf die Gleichheit, nicht über die sozialen Probleme in Osteuropa hinwegtäuschen. Auch hier gab es soziale Armut. Armut in den sozialistischen Republiken war ein Tabuthema. Armut existierte offiziell nicht. Das Regime hatte ein gut funktionierendes Sozialsystem, dass die überwiegende Bevölkerungsmehrheit absicherte. Und Dennoch gab es Armut. Die frühere Bourgeoisie bekam sehr niedrige Renten. Dieses Mittel wurde zum Klassenkampf eingesetzt. Sie erhielten weniger Rente als die Durchschnittsrente betrug und die Durchschnittsrente lag wiederum unter den sowieso nicht hohen Durchschnittsverdiensten. Die Situation allein erziehender Mütter, insbesondere ethnischer Minderheiten wie Sinti und Roma, war akut. Sie besaßen keine fließendes Wasser, geschweige denn Elektrizität.[6]

2.2 Unterschiede zwischen den sozialistischen Ländern

Aber nicht nur zwischen Osteuropa und den westlichen Industrienationen bestanden Differenzen in der Einkommensungleichheit, sondern auch zwischen den sozialistischen Ländern selbst.

Zu den egalitärsten Staaten im Ostblock zählten die Tschechoslowakei und die DDR. In der Tschechoslowakei trugen die hohe Verstaatlichungsquote der Industrie, die kollektivierte Landwirtschaft, die umverteilende Wirkung von staatlichen Sozialtransfers sowie die geringen nationalen Disparitäten zu dem hohen Nivellierungsgrad bei. Diese konsequente Lohnpolitik ist vor allem mit einer historisch gewachsenen egalitären Haltung zu begründen.

Aufgrund der starken strukturellen Ähnlichkeiten zu der Tschechoslowakei konnte auch in der DDR eine relativ hohe Einkommensgleichheit erzielt werden. Um 1990 betrug der Ginikoeffizient[7] in beiden Ländern ungefähr 20.[8] Das gleiche Bild zeigte sich auch in Slowenien. Aufgrund des hohen Industrialisierungsgrades sowie einer effektiven staatlichen Umverteilung hielten sich die Giniwerte Ende der 80er Jahre konstant zwischen 20 bis 24 (Tabelle 8.1.; Tabelle 8.2).

Trotz einer sehr strikten egalitären Lohnstruktur, konnten in Bulgarien und Polen nicht so hohe Gleichheitsgrade erreicht werden. Die Ursache hierfür lag in der stark privatisierten Landwirtschaft.

In Ungarn bewegten sich die Giniwerte teilweise auf westlichem Niveau, da Ungarn marktsozialistisch war und somit einen größeren privaten Sektor in Handel, Industrie und Dienstleistung für diese Ungleichheiten hatte.[9]

2.3 Begründung für die Einkommensungleichheit zwischen Ost und West

Die Hauptursache für die Unterschiede in der Einkommensungleichheit zwischen Ost und West liegt vor allem in den unterschiedlichen Wirtschaftsystemen, Plan- versus Marktwirtschaft.

Die offizielle Ideologie des klassischen Sozialismus verspricht keine Einkommensgleichheit, sondern kritisiert diese sogar. Das Prinzip der Verteilung lautet „Jedem nach seiner Arbeit“. Im Sozialismus wie im Kapitalismus werden die Löhne nach Leistung, Qualifikation und Geschlecht festgelegt.[10]

Dennoch war es aufgrund ideologischer Grundlagen und paternalistischen Einstellungstendenzen des Zentrums, das Ziel die Einkommensunterschiede nicht zu groß werden zu lassen. Die Kommunistische Partei der Sowjet Union (KPdSU), später auch die anderen sozialistischen Länder, übernahmen dieses Ziel in ihre Parteiprogramme: „Dabei muss die Spanne zwischen den hohen und den verhältnismäßig niedrigen Einkommen unablässig verringert werden“. Eine große Bedeutung für die Angleichung der Löhne hatte dabei das Acht-Klassenlohnsystem der Sowjetunion, das in fast allen anderen sozialistischen Ökonomien üeingeführt worden ist. Die Einstufung in diese Klassen regelte klar die Zuteilung von den Einkommen in bestimmten Berufsgruppen, so dass die Unterschiede nicht zu groß werden konnten.[11]

Der entscheidende Unterschied zwischen Markt- und Planwirtschaft ist der Mechanismus wie Löhne bestimmt werden. Im Kapitalismus regeln Angebot und Nachfrage die Lohnhöhe auf dem Arbeitsmarkt. Im Sozialismus legt der Staat weitgehend die Einkommen fest. Der öffentliche Akteur ist der eigentliche Arbeitgeber. Aufgrund des hohen Kollektivierungsgrades bestimmt er, in nahezu allen Wirtschaftssektoren, das Lohnverhältnis über verschiedene direkte und indirekte Mittel wie Lohnsummenzuteilung, spezifische Auflagen und Steuern. Hingegen interveniert der öffentliche Akteur in der kapitalistischen Marktwirtschaft nur sekundär und partiell zum Beispiel mit Hilfe von Steuerpolitik oder durch die Festsetzung von Mindestlöhnen.[12] In der Planwirtschaft ist der private Arbeitssektor nur sehr klein, da er vom Staat mittels verschiedener Restriktionen, zum Beispiel mit einen eingeschränkten Zahl an Arbeitern im Privatsektor, keine Kredite usw., kleingehalten wurde. Der private Sektor bestand vor allem aus Selbstständigen im Rahmen kleiner Familienbetriebe, oft nur Einmann-Unternehmen, nicht aber aus Firmen, die eine größere Anzahl von Arbeitern einstellen.[13]

Das Verhältnis von Manager- und Arbeitereinkommen betrug in den sozialistischen Ländern in den 80er Jahren durchschnittlich 5:1, in den USA 20:1. In der kapitalistischen Marktwirtschaft versuchen sich die Firmen gegenseitig, im Wettbewerb um den besten Manager, auszustechen und bieten extrem hohe Gehälter. Indes besteht im Sozialismus nicht die Notwendigkeit qualifizierte Manager mit hohen Gehältern zu locken. Jeder Manager gehört zu derselben zentralisierten Bürokratie. Die eigentliche Belohnung besteht nicht in einem hohen Managergehalt, sondern in der Hierarchie weiter nach oben zu steigen zum Beispiel als Minister berufen zu werden.[14] Trotz der Vorherrschaft des Staates in den sozialistischen Ländern, haben Angebot und Nachfrage die Höhe des Einkommens mitbestimmt, allerdings nicht so erheblich.

wie im Kapitalismus. Wenn in einer bestimmten Berufgruppe Arbeitskräftemangel herrschte, hob das Zentrum die Löhne für diesen Beruf an. Damit in den anderen Berufgruppen, bei denen kein Mangel herrschte keine zu starke Berufsabwanderung stattfinden konnte, wurden ebenso die Löhne etwas angehoben, um einen Mangel in diesen Bereichen zu vermeiden. Wie schon im vorherigen Abschnitt erwähnt gab es in Ländern wie Polen und Ungarn auch private Wirtschaftssektoren. Hier bestimmte der Markt die Einkommenshöhe.[15]

Die Unternehmen umgingen, zum Zwecke der Produktionssteigerung, die staatlichen Vorgaben und erhöhten die Löhne, um mehr Arbeiter anzuwerben. Die Unternehmen wichen den Lohnfondzuteilungen aus, ließen ihre Beziehungen zu den Ministerien spielen, führten Überstunden „künstlich“ herbei und nutzten das illegale Mittel der Schattenwirtschaft durch Zusatzverdienste nach Feierabend oder Privatarbeit während der offiziellen Arbeitszeit, Schwarzhandel, Bestechungsgelder oder „Sachgeschenken“.[16]

Der marxistischen Arbeitslehre entsprang, dass nur manuelle Arbeit als wirklich produktiv galt, was zur Folge hatte, dass teilweise einfache Arbeiter besser bezahlt wurden als Ärzte. Mit diesem Muster versuchte das sozialistische Regime die Loyalität der Arbeiter gegenüber dem kommunistischen System zu stärken.[17]

Die strukturelle Asymmetrie zwischen Kapitalbesitzern und Arbeitskraftbesitzern bewirkt eine zusätzliche ungleiche Verteilung in den westlichen Industriestaaten. Ein Teil des Profits wird zwar wieder reinvestiert, aber ein nicht unerheblicher Teil wird von dem Kapitalbesitzer für Konsumausgaben verwendet.[18]

Nicht zuletzt trug die hohe Erwerbsquote der Frauen in Osteuropa zu einer größeren Einkommensgleichheit bei. In der Altersgruppe zwischen 40 bis 44 waren 1985 in Bulgarien 93,9 Prozent erwerbstätig, in den westeuropäischen Ländern waren es nur 55,6 Prozent und in den südeuropäischen Ländern sogar nur 37,1 Prozent. Auch in den sonst so „gleichen“ nordeuropäischen Ländern nahmen nur ca. 71,1 Prozent der Frauen dieser Altersgruppe am Erwerbsleben teil (Tabelle 8.3).[19]

Ein weiterer Gesichtspunkt der geringeren Einkommensungleichheit in Osteuropa waren die im Allgemeinen deutlich geringeren Einkommen. Wenn die Gehälter im Durchschnitt niedriger liegen, ist es auch wahrscheinlich, dass die Unterschiede nicht so marginal sind.

Ein Aspekt, der zu einer höheren Gleichheit in den Haushaltseinkommen geführt hat, war die soziale Konsumtion. Die Kinder konnten unentgeltlich in Kindergrippe und Kindergarten untergebracht werden und der maximale Beitrag zu der staatlichen Krankenkasse, zum Beispiel in der DDR, betrug 60 Ostmark.

3 Entwicklungen nach dem Umbruch

3.1 Anstieg der Einkommensungleichheit

Mit dem Ende der Planwirtschaft ist in allen osteuropäischen Ländern die Einkommensungleichheit angestiegen, in vielen Gesellschaften sogar sehr stark.

Im gesamten mittelosteuropäischen Raum ist zwischen 1987 und 1993 eine Erhöhung der Gini-Werte von sechs Punkten zu verzeichnen.[20]

Nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung konnte von der „neuen“ Marktwirtschaft profitieren. Indes kämpfen die meisten Bevölkerungsschichten mit einem sinkenden Einkommen. Viele fallen unter die Armutsgrenze. 1992 betraf das 54 Prozent der Bulgaren, 44 Prozent der Polen und 25 Prozent der Tschechen. In Polen kämpften 1992 15 Prozent mit extremer Armut, in Bulgarien sogar 23 Prozent (Tabelle 8.4).[21]

Laut einer Umfrage in Ungarn 1992, hat sich bei zwei Dritteln der befragten Personen das Einkommen im Vergleich zum Vorjahr verringert. Ein Viertel der Befragten konnten ihr Einkommen steigern und 10 Prozent von ihnen gaben an, dass sich das Einkommen sogar verdoppelt habe.[22]

Nach Angaben der Weltbank stieg der Gini-Wert in Slowenien 1993 im Vergleich zu 1987/88 von 24 auf 29. In Polen stieg er ebenfalls um 5 Punkte an. Ein drastischer Anstieg der Einkommensungleichheit zeigt sich in Bulgarien. 1989 lag der Gin-Koeffizient bei 23,3, 1993 bei 34,3. Das bedeutet einen Anstieg von 10 Punkten.[23] Die Slowakei ist das

einzige Land, in dem die Einkommensungleichheit nicht angestiegen ist. Der Gini-Wert betrug stets circa 20. In Ostdeutschland ist der Wert stetig, aber nur gering angestiegen. In den übrigen MOE-Staaten liegt die Erhöhung des Gini-Wertes bzw. der Einkommensungleichheit meist zwischen vier und sechs Punkten.[24]

Bulgarien mit Gini-Werten von etwa 35 bis 37, Estland mit 35,4, Litauen mit 37 und Lettland mit 31 bilden mit Gini-Werten über 30 das obere Cluster und sind somit mit Abstand die inegalitärsten Staaten in Osteuropa. Mit Werten von 27/28 liegen Polen, Slowenien und Ungarn in der Mitte. Tschechien, die Slowakei und Ostdeutschland haben mit ihren Gini-Werten zwischen 20 bis 26 eine relativ ausgewogene und egalitäre Einkommensverteilung.[25]

Die geringe Einkommensungleichheit in Ostdeutschland hängt vor allem mit der raschen Wiedervereinigung mit Westdeutschland zusammen. Das engmaschige soziale Netz der BRD konnte die vielen Arbeitslosen auffangen und deren soziale Existenz sichern.

Allerdings muss Deutschland als Gesamtstaat und nicht als zwei Teilstatten betrachtet werden, denn Ost- wie Westdeutsche haben ihren Platz in der gesamtdeutschen Schichtung. Gesamtdeutschland muss folglich der Bezugspunkt für die Einkommensungleichheit sein. 1995 lag der Gini-Wert für die Bundesrepublik bei 27. Gesamtdeutschland liegt damit im mittleren Cluster. Vergleicht man dazu die Werte Ostdeutschlands vor der Transformation, so müssen die Ostdeutschen eine Ungleichheit bulgarischen Ausmaßes verkraften, vor allem auch wegen des anfangs enormen Einkommensrückstandes gegenüber den westdeutschen Bürgern.[26] Zwar hat sich die Einkommensschere zwischen Ost- und Westdeutschland etwas geschlossen, aber die Bürger der neuen Bundesländer sind noch immer in einer ungünstigeren Position.

Die Werte zeigen in den meisten mittelosteuropäischen Staaten und Osteuropa, im Vergleich zum Sozialismus, in der Marktwirtschaft bzw. deren Aufbau einen Anstieg der Ungleichheit. Während in der Planwirtschaft die Unterschiede zwischen diesen Ländern noch nicht so hoch waren, unterscheiden sich die postkommunistischen Staaten nach der Transformation stärker voneinander. Was allen Ländern gemeinsam ist, ist das Umverteilungsmuster. Das oberste Bevölkerungsfünftel hat seine Einkommenssteigerung, fast immer zu Lasten der anderen vier Fünftel, erzielt (Tabelle 8.5).[27]

Laut der Weltbank verfügen alle neuen mittelosteuropäischen Demokratien und auch andere osteuropäische Staaten, im Bezug auf die Einkommensungleichheit, über das Prädikat „befriedigend“, das gilt auch für Bulgarien, indes sehen das die Einwohner, zu Recht, anders. In Bulgarien, Tschechien und Ungarn waren 1993 die wirtschaftlichen Unterschiede größer als in den drei Jahrzehnten zuvor.[28]

Die Menschen mussten nicht nur die steigende Ungleichheit verkraften, sondern auch Arbeitslosigkeit und geringere Realeinkommen. Die damit verbundene soziale Armut lässt die Menschen ihre Situation als nicht befriedigend ansehen. Die Ernährung hat sich drastisch verschlechtert. Zwischen 1990 und 1997 hat sich der Fleischverbrauch in Bulgarien mehr als halbiert, der Konsum von Gemüse ist um ein Viertel zurückgegangen. In Tschechien und Ungarn wurde der Rückgang des Fleischverbrauchs durch höheren Gemüsekonsum abgefedert.[29] Für diejenigen, die ausreichend Kapital besitzen, das oberste Fünftel, sind alle Arten von Konsumgütern jederzeit erhältlich, von Lebensmitteln, über Elektrogeräte bis hin zur Luxusvilla. Ferner ist die Kriminalitätsrate extrem angestiegen. In Ungarn um 87 Prozent, in Polen um 54 Prozent und in Bulgarien sogar um 195 Prozent. Nur in Slowenien ging die Rate zurück, um 4 Prozent (Tabelle 8.6).

Betrachtet man sich die Entwicklungen in den letzten Jahren so scheint diese Tendenz anzuhalten. Die Wirtschaften in MOE erholen sich zwar zunehmend und die Bruttoverdienste (Abbildung 8.1) steigen, aber im gleichen Zug erhöhen sich die Ungleichheiten. In Polen lag der Gini-Wert nach Weltbankangaben bei 34,7, aber viel 1998 wieder etwas, auf 32,7 (Tabelle 8.7). Im gleichen Zug steigen nicht nur die Verdienste, sondern ebenfalls die Lebenshaltungskosten. Diese erhöhten sich aber deutlich mehr als die Verdienste.

Dieser Prozess ist nicht nur in Osteuropa zu beobachten, sondern auch in den westlichen Industrienationen. 1985 waren 13, 9 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung arm.[30] In den 90er Jahren hat sich die Armutsquote zunächst verringert, aber lag dann 2001 in der EU der 15 bei etwa 15 Prozent (Abbildung 8.2).[31]

Eine Untersuchung Anfang der 90er Jahre ergab, dass in Griechenland, Irland, Spanien, Portugal und Großbritannien ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung arm waren. In Frankreich, Deutschland und Belgien waren es ein Zehntel bis ein achtel, in Skandinavien etwa ein Zwanzigstel der Bevölkerung.[32]

[...]


[1] Vgl. Therborn, G., Die Gesellschaften Europas 1945-2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt 2000, S.159 ff.

[2] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt. Soziale Ungleichheit und soziales Bewusstsein nach dem Kommunismus (= Beiträge zur Osteuropaforschung, Bd. 4), Hamburg 2001, S. 115.

[3] Vgl. Therborn, G., Die Gesellschaften Europas 1945-2000, a.a.O. (Anm. 1), S. 179.

[4] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S.116ff.

[5] Vgl. Therborn, G., Die Gesellschaften Europas 1945-2000, a.a.O. (Anm. 1), S. 185ff.

[6] Vgl. Večernik, Jiři, Incomes in Central Europe, Distributions, Patterns and Perceptions, in: Journal of European Social Policy 1996, Nr. 6, S. 148f.

[7] Gini-Koeffizient: Konzentrationsmaß; je höher der Wert, desto ungleicher die Verteilung (bei einem Wertebereich von 0-100)/ Hinter einem Wert von 20 verbirgt sich folgende Aussage: Wählt man je zwei Personen nach dem Zufallsprinzip aus, so entspricht der durchschnittliche absolute Einkommensabstand zwischen diesen Personen 40% (2x20%) des Durchschnittseinkommens aller Befragten.

[8] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S. 118.

[9] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S. 118ff.

[10] Vgl. Kornai, János, Das sozialistische System. Die politische Ökonomie des Kommunismus, Baden-Baden 1995, S. 365.

[11] Vgl. Beyme, Klaus von, Ökonomie und Politik des Sozialismus. Ein Vergleich der Entwicklung in den sozialistischen Ländern, München 1975S. 78/ Vgl. Juchler, Jakob, Ende des Sozialismus, Triumph des Kapitalismus? Eine vergleichende Studie moderner Gesellschaftssysteme, Zürich 1992, S. 208.

[12] Vgl. ebd., S. 208 f.

[13] Vgl. Milanovic, Branko, Explaining the Increase in Inequality during Transition ,in: Economics of Transition, (=Weltbank), Bd. 7, Nr. 2, Washington D.C., 1999, S. 299-341, S. 302.

[14] Vgl. Kornai, János, Das sozialistische System. a.a.O. (Anm. 10), S. 365f.

[15] Vgl. Kornai, János, Das sozialistische System. a.a.O. (Anm. 10), S.255.

[16] Vgl. Juchler, Jakob, Ende des Sozialismus, Triumph des Kapitalismus? Eine vergleichende Studie moderner Gesellschaftssysteme, Zürich 1992, S.207f.

[17] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S.129.

[18] Vgl. Juchler, Jakob, Ende des Sozialismus, a.a.O. (Anm. 16), S. 211f.

[19] Vgl. Kornai, János, Das sozialistische System. a.a.O. (Anm. 10), S. 231.

[20] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S. 121/ Milanovic, Branko, A Cost of Transition, 50 Million New Poor and Growing Inequality, in: Transition (=worldbank), Vol. 5,Nr. 8, Washington D.C. 1992, S. 1-4.

[21] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S. 111.

[22] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S. 121.

[23] Vgl. Milanovic, Branko, Income, Inequality and Poverty during the Transition from Planned to Market Economy (= World Bank), Washington D.C.1998, 165 ff.

[24] Vgl. Milanovic, Branko, Income, Inequality and Poverty, a.a.O. (Anm. 23), S. 165ff.

[25] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S. 123./ Milanovic, Branko, Inequality, a.a.O.(Anm. 23), S. 165 ff.

[26] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S. 123f.

[27] Vgl. World Development Report 1997, The State in Chnaging World (=World Bank),New York: Oxford University Press, 1997.

[28] Vgl. Delhey, Jan, Osteuropa zwischen Marx und Markt, a.a.O. (Anm. 2), S.125.

[29] Vgl. Therborn, G., Die Gesellschaften Europas 1945-2000, a.a.O. (Anm. 1), S. 168f.

[30] Def. relative Armut: Einkommen, das um mehr als 50 Prozent unter dem im Durchschnitt verfügbaren Einkommens eines Landes, korrigiert nach der Größe der Haushalte liegt.

[31] Vgl. Dennis, Ian, Guio, Anne-Catherine, Armut und soziale Ausgrenzung in der EU, in: Statistik kurzgefasst (=Eurostat), Nr. 16, 2004, S.4.

[32] Vgl. Therborn, G., Die Gesellschaften Europas 1945-2000, a.a.O. (Anm. 1), S. 188f.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung der Einkommensungleichheit
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
40
Katalognummer
V60547
ISBN (eBook)
9783638541961
ISBN (Buch)
9783656781240
Dateigröße
562 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklung, Einkommensungleichheit
Arbeit zitieren
Sarah Stolle (Autor:in), 2005, Die Entwicklung der Einkommensungleichheit , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60547

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