Ein grundlegender politischer Leitgedanke Chinas war stets die Schaffung und Bewahrung des Einheitsstaates, und zwar bei den meisten der diversen Reichsbildungen auf dem Boden des Reichs der Mitte, gleich ob sie nach- oder nebeneinander existierten. Dies bildet eine wesentliche Grundlage für den chinesischen Anspruch, dass Tibet ein Teil Chinas sei. Der Blick dabei ist rückwärtsgewandt, der Anspruch fußt in der Geschichte. Das selbe trifft für den (exil-) tibetischen Anspruch auf Unabhängigkeit zu, der eben diese Geschichte als Zeugin für die Selbständigkeit aufruft. Die Diskussion darüber, ob, wann und wie Tibet zu China gehört habe oder nicht, verschließt dagegen die Augen vor unserem heutigen Anspruch, dass die Zugehörigkeit zu Staaten nicht mehr (allein) auf Geschichtsbetrachtungen basieren sollte. Dennoch bleibt zu sagen, dass vielen Streitpunkten zwischen dem Westen und Osten völlig unterschiedliche Staatsauffassungen zugrunde liegen, die sich im Wesentlichen am Unterschied zwischen National- und Nationalitätenstaat festmachen lassen.
Das Phänomen divergierender Kräfte ist als eine alte Konstante in der historischen Entwicklung des Reichs der Mitte anzusehen, und so birgt jede Tendenz zur „Abnabelung“ Ansätze zur neuerlichen Zersplitterung Chinas. Dies macht die Herrschenden so empfindlich bei nationalistischen Fragen. Die Frage aber, wie China in der Vergangenheit seine Identität als Vielvölkerreich gefunden hat, wird in unserer Öffentlichkeit nicht gestellt. Chinas Versuche, eine solche Identität als multiethnisches Land zu bewahren, werden daher häufig als imperialistische Expansionsbestrebungen gedeutet. Die unterschiedlichen Staatsauffassungen in China (sowie in Tibet) und im Westen bedürfen der Erläuterung, um statt dem fehlenden gegenseitigen Verständnis für ihre einst völlig gegensätzlichen Staatskonzepte ein Überdenken verhärteter Positionen zu ermöglichen. Das unterschiedliche Geschichtsverständnis zu akzeptieren, ohne damit über die Frage von Einheitsstaat des einen oder Unabhängigkeit des anderen entscheiden zu wollen, dafür plädiert dieser Beitrag.
China und Tibet: Identitätsfindung im Spannungsfeld von Nationalismus und Regionalismus
Ein altes Phänomen divergierender Kräfte oder Ansätze zur neuerlichen Zersplitterung des „Reichs der Mitte“? Annäherungen an das fehlende gegenseitige Verständnis völlig gegensätzlicher Staatskonzepte
von Andreas Gruschke (Freiburg)
Die Frage, wie China in der Vergangenheit seine Identität als Vielvölkerreich gefunden hat , wird in unserer Öffentlichkeit eigentlich nicht gestellt.[1] Vielmehr deuten zahlreiche Äußerungen und Stellungnahmen darauf hin, dass bei uns an eine solche Identität gar nicht geglaubt wird, geschweige denn man deren Anzeichen wahrnimmt. Chinas Versuche, eine solche Identität als multiethnisches Land zu bewahren, werden daher häufig als imperialistische Expansionsbestrebungen gedeutet. Wohl ist dies etwas, was der Westen gut beurteilen zu können meint, da er hiermit ungleich mehr Erfahrungen und zudem auf globaler Ebene hat. Gewiss war und ist China nicht frei von derlei Bestrebungen, dennoch bleibt zu sagen, dass vielen Streitpunkten zwischen dem Westen und Osten völlig unterschiedliche Staatsauffassungen zugrunde liegen, die sich im wesentlichen im Unterschied zwischen National- und Nationalitätenstaat festmachen lassen.
Ein wesentlicher politischer Leitgedanke Chinas war stets der Hang zur Schaffung des Einheitsstaates, und zwar bei den meisten der diversen Reichsbildungen auf dem Boden des Reichs der Mitte, gleich ob sie nach- oder nebeneinander existierten. Das blieb nicht ohne gravierende Veränderungen des Territoriums: Die inneren Spannungen, die durch unterschiedliche Auffassungen über die Richtigkeit von Expansion bzw. Rückzug auf „chinesische Kerngebiete“ (die nei di - das „Landesinnere“) entstanden, ließen die Dynamik der Ausdehnung Chinas, die Motorik seines erneuten Zerfalls und der Schrumpfung an ein überdimensional pulsierendes Herz erinnern.[2] Dennoch: die letzten drei großen Dynastien - die mongolische der Yuan (1274-1368), ihre han-chinesische Nachfolgerin Ming (1368-1644) und schließlich das mandschurisch-chinesische Kaiserreich der Qing (1644-1911) - erreichten trotz der Veränderungen am Rande eine gewaltige Pertinenz des Großteils des Territoriums. Sie ermöglichten es, die Einigungs- und Integrationsprozessen mehr oder weniger erfolgreich abzuschließen. Während wir im Westen im Falle der Liao, Jin, Yuan oder Qing in aller Regel von Fremddynastien reden, waren diese in China selbst im Kern nicht als „nicht-chinesisch“ betrachtet worden, auch nicht von den han-chinesischen Machthabern der Ming. So berichten die Annalen des Ming-Kaisers Taizu[3]:
„Nachdem der Thron der Song gestürzt war, kamen die ‘nördlichen Barbaren’ [Hu[4] ] der Yuan ins Land und beherrschten China. Alle diesseits und jenseits der vier Meere unterwarfen sich ihnen. Dies war keine Sache menschlicher Kraft; es wurde ihnen durch den Himmel übertragen. Zu Beginn gab es fähige Herrscher und erleuchtete Minister, die imstande waren das Kaiserreich zu regieren.“
Als ein Staat mit kosmologischen Grundlagen, dessen wesentlichstes Kriterium die Entsprechung zwischen ihm und dem Himmel und damit die Aufrechterhaltung der entsprechenden Ordnung war, spielten ethnische Bezüge dabei eine geringe Rolle. Es waren die Umstände der Herrschaft, ihre schlechten Auswirkungen, die die Illegitimität von Dynastien begründeten, seien es jene der Han oder anderer Nationalitäten. Die sogenannten „Fremddynastien“ zogen in aller Regel erst den Hass der Han (u.a. Nationalitäten) auf sich, wenn sie in chauvinistischer Art und Weise deren Gebräuche unterdrückten und ihre eigenen Sitten und Wertvorstellungen den anderen aufzwangen - etwas, was wir von Han-Chinesen auch in der neueren Geschichte kennen und was bei denen das Schlagwort vom „Groß-Han-Chauvinismus“ (da Hanzu zhuyi) geprägt hat. Die Überbewertung der eigenen „Volkskultur“ und deren Überstülpen über diejenige der anderen Nationalitäten geschah im Laufe von vielen Dynastien, gleich welcher Ethnie diese angehörte. Als berühmteste Beispiele seien nur das an die Apartheid erinnernde Gesellschaftsklassen-System[5] der Mongolen oder der Mandschu-Zopf, den zu tragen auch den nicht-mandschurischen Untertanen befohlen war, genannt. Gerade letzterer ist ein typisches Beispiel für westliche Wahrnehmungen, ist er doch bei vielen von uns als etwas „typisch Chinesisches“ in Erinnerung, war aber als aufgezwungene Sitte der Mandschus den Han-Chinesen verhasst und sein Abschneiden zuletzt noch zum Symbol für die oppositionelle Haltung der jungen Nationalisten geworden. Dass darüber hinaus viele jener Werte und Kulturelemente (wie Konfuzianismus und Schrift), die meist eher mit den Han, also jenen, auf die im Westen der Begriff „Chinesen“ meist sehr einschränkend verwendet wird, verbunden werden, übersieht die historische Tatsache, dass es in aller Regel die „Fremddynastien“ selbst waren, die sich diese aktiv aneigneten und manchmal noch weiter entwickelten.[6]
[...]
[1] In der wissenschaftlichen Literatur dagegen gibt es in der Sinologie endlich vielversprechende Ansätze, einst begonnen von W. Eberhard und Herbert Franke, inzwischen in übersichtlicher, zusammenfassender Darstellung bei Schmidt-Glintzer 1997.
[2] Schmidt-Glintzer 1997.
[3] Ming Taizu Shilu, zit. nach Edward L. Farmer, Zhu Yuanzhang and Early Ming Legislation. The Reordering of Chinese Society Following the Era of Mongol Rule“, Leiden - New York - Köln 1995, S.1f.
[4] Der Begriff „Barbaren“ [griech. „die Lallenden“, ursprünglich geringschätzig für Nicht-Hellenen] als Übersetzung für die Bezeichnung verschiedener Randvölker Chinas - wie Hu, Yi, Man, Fan usw. - sollte im chinesischen Kontext endlich einmal hinterfragt werden. Zwar beinhalten die Begriffe sicher die ‘barbarische’ Konnotation; doch da bis zum Beginn der Moderne die meisten Nationen einen ethnozentrischen Standpunkt innehatten, ist diese chinesische Auffassung nichts Außergewöhnliches. Daß diese alten chinesischen Völkerbezeichnungen jedoch meist etwas unreflektiert in westlichen Sprachen mit dem einen Begriff ‘Barbaren’, allenfalls noch ergänzt durch atttribuierte Himmelsrichtungen, wiedergegeben werden, wird jedoch häufig als eine Besonderheit der chinesischen Haltung ausgelegt und dementsprechend argumentativ benutzt. Demgegenüber muß hier aber einmal festgehalten werden, daß die chinesische Kultur gegenüber den ‘barbarischen’ Randvölkern in aller Regel - zumindest im Falle ihrer Assimilation von als typisch chinesisch betrachteten Kulturgütern und Wertvorstellungen - sehr viel konzilianter, integrativer aufgetreten ist als dies die meisten europäischen Völker taten. Diese Grundkonstellation dürfte eine wesentliche Voraussetzung für das multiethnische Selbstverständnis Chinas sein.
Es stellt sich zudem die Frage, ob die Deutung „Barbar“ dieser Begriffe eine sekundäre Erscheinung ist, wofür m. E. u.a. die Existenz dieser verhältnismäßig großen Zahl von Barbar-Begriffen spricht. Auch meint David-Néel (1996, S.12): „Ob sie sich selbst so nannten, ist durchaus nicht sicher. (...) »I« [Yi] bedeutet »wild«. Vielleicht wurde aber für die Chinesen das Wort »I« zum Synonym von »wild«, weil jene Eingeborenen, die auf einer tieferen Kulturstufe standen als sie, sich selber die »Is« nannten.“
[5] Die dritte dieser unter den Mongolen in vier Bevölkerungsgruppen eingeteilten „Klassen“ wurde als jene der „han ren“ (Han-Menschen) bezeichnet, umfaßte aber interessanterweise alle Einwohner, gleich ob sie den Han-Chinesen, Kitan, Jurchen oder Koreanern angehörten. (Franke/Trauzettel 1968, 51981, S.230)
[6] Es ist ja ein unumstrittenes Phänomen, daß „sich die fremden Herrscher oft «chinesischer als die Chinesen» gaben“. (Schmidt-Glintzer 1997, S.23)
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