Christusnarren - oder jurodivye,wie sie im Verlaufe dieser Arbeit genannt werden sollen - haben ein lange Tradition in Russland und galten schon in der alten Rus‘ als feste Bestandteile von Dorfgemeinschaften. Zunächst heidnischen Ursprungs vermischte sich das Schamanenhafte, das ihnen eigen war, mit christlichen Elementen. Ihr Verhalten gleicht einem freiwilligen Martyrium; aus der Gesellschaft ausgeschieden, begibt sich derjurodivyjauf seine christliche Mission, die allgemeinen Missstände in der Gesellschaft durch sehr eigensinnige Methoden aufzuzeigen. Erkenntnis- und Wahrheitssuche sind dabei die hohen Ziele, die der jurodivyjv erfolgt. Die Poėma „Moskva - Petuški“ entstanden 1969 und durften erst 1989 in Russland veröffentlicht werden. In ihnen spiegeln sich Tendenzen jenes Dissidententums, das dem Autor Venedikt Erofeev zu Zeiten der Sowjetdiktatur vorgehalten wurde. Seine Figur „Venička“ fährt gleich einem Vagabunden mit dem Vorortzug von Moskau nach Petuški und schildert dem Leser seine kontroversen Weltanschauungen. Sein Stigma und seine Maske ist die fortwährende Alkoholisiertheit: Moralische Bewertungen und Einschätzungen erfahren ihre jeweilige Kanalisierung, wenn die entsprechende Trunkenheit eingetreten ist. Schon in der alten Rus‘ bestand eine gewisse Äquivalenz zwischen Narrheit und Trunkenheit - so würden sich Betrunkene von Narren nur durch ihre sittliche Unreinheit unterscheiden, der Betrunkene aber offene Ehrlichkeit demonstrieren. Die von der Figur Venička evozierten Werte und Überzeugungen wirken mitunter paradox und unsinnig. Seine Berichte sind von provokativem Gehalt und die Vermutung liegt nahe, dass sich hier des Gestus des klassischen jurodivyj bedient worden sein könnte. Nach Aufschlüsselung der fürjurodivyegemeinhin geltenden Charakteristika soll untersucht werden, inwiefern Venička einem jurodivyj ähnlich ist.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zur Phänomenologie des jurodivyj
- Die Gestaltung der Figur Venička als jurodivyj
- Genese der Rolle Veničkas
- Das Motiv der Erkenntnisreise
- Alkoholisiertheit als Stigma
- Die Funktion des Alter Ego
- Das Motiv des Schauspiels
- Die Mission Veničkas
- Die Provokation Veničkas
- Die Weltsicht eines Narren oder die Betrachtung einer närrischen Welt?
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht das Phänomen des jurodivyj, einer besonderen Form des Christusnarren in der russischen Literatur, anhand der Poéma „Moskva-Petuški“ von Venedikt Erofeev. Ziel ist es, die Figur Venička in Bezug auf die traditionellen Charakteristika des jurodivyj zu analysieren und zu beleuchten, inwieweit er als Vertreter dieses Typs betrachtet werden kann.
- Die Phänomenologie des jurodivyj in der russischen Literatur
- Die Rolle von Venička in „Moskva-Petuški“ als möglicher jurodivyj
- Die Motivwelt des jurodivyj: Erkenntnisreise, Schauspiel, Provokation
- Die Verbindung von Alkoholisiertheit und Narrheit als Stigma
- Die Weltsicht des jurodivyj und seine Mission
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung gibt einen kurzen Überblick über die Bedeutung des jurodivyj in der russischen Kultur und die Besonderheiten des Werks „Moskva-Petuški“. Kapitel 2 erläutert die Phänomenologie des jurodivyj, seine typischen Wesenszüge und seine Rolle in der russischen Gesellschaft. Kapitel 3 analysiert die Gestaltung der Figur Venička und seine Nähe zum jurodivyj, beleuchtet dabei die Motive der Erkenntnisreise, die Bedeutung der Alkoholisiertheit, die Rolle des Alter Ego und die Mission Veničkas.
Schlüsselwörter
Jurodivyj, Christusnarr, „Moskva-Petuški“, Venedikt Erofeev, Venička, Alkoholisiertheit, Erkenntnisreise, Provokation, Schauspiel, russische Literatur, Kultur, Phänomenologie, Identität, Dissidententum.
- Quote paper
- Anke Kell (Author), 2005, Das Phänomen des Christusnarrentums in "Moskva-Petushki", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61014