Die Auswirkungen der Phylenreform des Kleisthenes in Athen: Von der Tyrannis bis zu Miltiades und Themistokles


Term Paper, 2001

34 Pages, Grade: 1


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Vorgeschichte
2.1. Solon und die Tyrannis der Peisistratiden
2.2. Die alkmaionidische Machtübernahme

3. Beweggründe für die Reform
3.1. Motive des Kleisthenes
3.2. Motive des Volkes bei der Parteinahme für Kleisthenes

4. Die Phylenreform
4.1. Gegebenheiten und Phylenneukonstruktion
4.2. Lage und Aufgabe der Trittyes
4.3. Dörfer und kleine Städte – Die Demen

5. Die innenpolitische Bedeutung der Reform

6. Die militärischen Folgen der Phylenreform
6.1. Das Athenische Heer
6.1.1. Politische Partizipation und Heeresdienst
6.1.2. Der Polemarchos und die zehn Strategen
6.2. Die Athenische Flotte
6.2.1. Der Dienst in der Flotte und sozialer Aufstieg der Theten
6.2.2. Themistokles – Der Initiator des Flottenbauprogramms

7. Athen in den Kriegen nach der Phylenreform
7.1. Angriff des Peloponnesischen Bundes
7.2. Der Ionische Aufstand in Kleinasien
7.3. Die Landkriegsführung des Miltiades - Die Schlacht von Marathon

8. Schlussfolgerungen und Ergebnisse

9. Zeittafel

10. Quellenverzeichnis

11. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Diese schriftliche Hausarbeit befasst sich mit der Phylenreform des Kleisthenes in Athen 509-507 v.Chr. Es wird untersucht, unter welcher Zielsetzung und aus welchen Motiven der Alkmaionide Kleisthenes die Reform durchführte und welche Auswirkungen sie auf die Polis hatte. Dabei stehen neben innenpolitischen vor allem militärische und außenpolitische Folgen im Mittelpunkt. Leitfragen sollen folglich sein: Welche Struktur hatte die Phylenreform? Wie kam sie zustande? Welcher Intention folgte sie? Und wie ist sie anhand der innen- und außenpolitischen Auswirkungen zu bewerten?

Zu diesem Zweck ist es unumgänglich zunächst auf die Gegebenheiten vor Kleisthenes einzugehen, da sie schon grundlegende Strukturen beinhalteten. Die Phylenreform wird in ihrem Ausmaß dargestellt und bildet das Zentrum, um die Hypothese zu überprüfen, dass sie der Ausgangspunkt für die Entwicklung Athens im 5. Jh. v. Chr. war. Die militärischen Auswirkungen der Reform werden anhand der Kriege Athens erläutert. Die Schlacht von Marathon unter der Führung des Miltiades des Jüngeren wird u.a. darüber Aufschluss geben. Die Darstellung bezieht sich zwar auch auf Themistokles und sein Flottenbauprogramm, stellt aber nur die Ergebnisse der Schlacht von Salamis dar, da eine tiefergehende Auswertung zu weit gehen würde. Ebenfalls wird auf die Darstellung des Ostrakismos verzichtet, der mit Kleisthenes in Verbindung gebracht wird, aber für das Thema nicht relevant ist.

Hauptquellen zur Phylenreform sind Aristoteles[1], Herodot sowie attische Inschriften. Während Aristoteles sich dem Thema aus verfassungsgeschichtlicher Sicht nähert, geht Herodot darauf nur kurz, dafür aber mehr auf soziale und geschichtliche Hintergründe ein. Über die Reform an sich ist eine Fülle von Literatur vorhanden. In den letzten Jahrzehnten wurden kaum neue Erkenntnisse gewonnen, dafür aber die bestehenden kontrovers diskutiert. Insbesondere die Frage nach der Intention des Kleisthenes ist in der Forschung umstritten.

Über das Leben des Kleisthenes ist wenig bekannt, dafür stand sein Werk, die Phylenreform, oft im Mittelpunkt der Forschung. Herodot sieht in der Reform die Einrichtung der Demokratie, nach Aristoteles war die Reform ein Mittel zur Mischung Attikas und Trennung von den Personenverbänden. Auf beides wird im Folgenden eingegangen. In der Literatur werden eigene Schlussfolgerungen gezogen. Christian Meier erkennt in der Reform die Begründung der Volksherrschaft durch das Prinzip der Gleichheit und durch die Institutionalisierung. Andere Autoren sind der Meinung, Kleisthenes habe sich nur selber gegen den Adel behaupten wollen, und Peter Siewert sieht in der Reform eine reine Heeresreform mit der Aufgabe, die verschiedenen Heeresabteilungen über zentrale Wege möglichst schnell zum Einsatz bringen zu können. Allerdings geht er dadurch nicht konform mit der geltenden Forschungsmeinung. Obwohl das tatsächliche Motiv des Kleisthenes schwer erfassbar ist, geht die Forschung heute davon aus, dass Kleisthenes das Volk mischen, Isonomie[2] herstellen und dabei natürlich auch politische Gegner ausschalten wollte. .

Die schriftliche Darstellung wird durch eine Zeittafel ergänzt, was zur besseren Orientierung beitragen soll.

2. Vorgeschichte

2.1. Solon und die Tyrannis der Peisistratiden

Die Peisistratiden behielten die formale Ordnung, die Solon[3] den Athenern gegeben hatte, weitgehend bei, d.h. Institutionen und Gesetze Solons behielten ihre Gültigkeit[4], und nutzen sie in dem Maß, wie sie für sie von Vorteil waren. Karl-Wilhelm Welwei fasst das Machtverhältnis zwischen Tyrannen und Beamten des Volkes mit folgenden Worten zusammen:

„Die Belange der Polis [wurden] unter den Tyrannen nicht von politisch aktiven Gruppen des Bürgerverbandes in freier Selbstbestimmung entschieden. So fanden zwar weiterhin Beamtenwahlen statt. Die Funktionsträger konnten aber im wesentlichen nur durch Ausübung ihrer Aufgaben in der Rechtspflege ihr Sozialprestige mehren. Politischen Handlungsspielraum hatten sie in der von den Tyrannen dominierten Polis selbstverständlich nicht“.[5]

Peisistratos[6] war als Tyrann keine Institution der Verfassung, besetzte zum Beispiel nicht das höchste Amt des Archonten[7] und stand somit gestützt auf seine militärische Macht und unabhängig neben der Ordnung, dirigierte und manipulierte sie. Solons Verfassung hatte sich gegen die Aristokratie gerichtet. Entweder der einzelne Adlige verlor seinen gesamten Einfluss, oder er machte sich zu einem führenden Mitstreiter des Demos[8]. So konnte sich Peisistratos, der für besonders volksfreundlich gehalten wurde, gegen seine Konkurrenten durchsetzen, indem er sich an die Spitze der diákriroi (Diakrier), der Bewohner des Hügellandes, stellte und durch sie genug Macht für die Etablierung der Tyrannis erhielt[9]. Der Tyrann selbst machte sich zum Verwalter und zur Exekutive der Polis, oder wie es Jochen Bleicken ausdrückt: Er machte sich „zum Vormund einer noch unmündigen Gesellschaft“[10], die mit ihrer Macht noch nicht umzugehen verstand. Der Tyrann wurde von der großen Masse stillschweigend geduldet. Paradox klingt dies, wenn man bedenkt, dass gerade diejenigen, die Solon an der Polis beteiligen wollte, von denen er die Beteiligung auch einforderte, dass genau diese Athener sich jetzt freiwillig unter die Herrschaft eines Einzelnen begaben. Relativiert wird dies allerdings durch die Sehnsucht nach innerem Frieden. Die nachsolonischen Adelskämpfe, in die sich nun auch die Bürger einschalteten, um für ihre Rechte zu kämpfen, brachten Elend und Leid mit sich, und eine politische Beteiligung in Solons Sinne war durch die Wirren auch nicht zustande gekommen. Außerdem bedeutete die Zeit der Tyrannis eine Blütezeit für Attika[11].

Während der Tyrannenherrschaft konnte die athenische Bürgerschaft das solonische Werk, geschützt durch die Tyrannis und trotz der Abstriche bei der Macht des Volkes, verinnerlichen, wodurch es zu einer Selbstverständlichkeit im Leben wurde. Der Adel wurde 50 Jahre lang von der politischen Macht distanziert, die sozialen Bindungen der Geschlechter ruhten, und er hatte somit genug Zeit, sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen und sie akzeptieren zu lernen. Eine Rückkehr zur Adelsherrschaft war damit in sehr weite Ferne gerückt. Dies wurde an den Geschehnissen von 510 besonders deutlich, doch zunächst gilt es, die chronologische Abfolge zu beachten. Denn schon zu Beginn der peisistratidischen Herrschaft hatte sich eine Adelsfamilie um die Macht in Attika bemüht. Der Alkmaionide Megakles[12] hatte sich auf die Seite der parálioi (Paralier), der Küstenbewohner, gestellt und galt, laut Aristoteles, am ehesten als Verfechter einer mittleren Verfassung, während die Bewohner der Ebene, die pediakoí (Pedieis), unter ihrem Führer Lykurg die Oligarchie anstrebten[13]. Uta Kron sieht den Hauptgrund für die Niederlage des Megakles in seiner ständig wechselnden Bündnispolitik[14]. Nach dem Fehlschlag der Koalition zwischen Megakles und Peisistratos folgte somit nicht ohne Mitverschulden der Alkmaioniden ihre Verbannung, als Peisistratos sich letztendlich als Tyrann behaupten konnte. Kleisthenes, der Sohn des Megakles, musste von da an seine oppositionelle Politik aus dem Exil betreiben. 525/24 bekleidete er aber wahrscheinlich das Amt des Archonten. Anzunehmen ist, dass die Söhne des Peisistratos, Hippias und Hipparchos, nach seinem Tod zur Machtsicherung einen Kompromiss mit den höchsten Adelgeschlechtern anstrebten und die Alkmaioniden aus dem Grund zurückkehren und das hohe Amt besetzen konnten.

2.2. Die alkmaionidische Machtübernahme

Erst nach der Ermordung des Hipparchos wurde die Atmosphäre wieder gespannter und die Alkmaioniden wieder verbannt, bis 510 die peisistratidische Tyrannis schließlich beendet werden konnte. Sie erreichten die Unterstützung der Spartaner[15], nachdem sie eine Rückkehr aus eigenen Kräften nicht geschafft hatten. Im zweiten Versuch konnte schließlich durch den Spartanerkönig Kleomenes I. der Tyrann Hippias eingeschlossen und zur Aufgabe gedrängt werden[16].

Nach der Abdankung des Tyrannen flammten die Adelskämpfe erneut auf. Zwischen dem Alkmaioniden Kleisthenes und dem Sohn des Teisandros, Isagoras, „der ein Freund der Tyrannen war“[17], dessen Herkunft aber auch nicht Herodot näher bestimmen konnte, abgesehen von der Äußerung, Isagoras käme aus angesehenem Hause, kam es zum Kampf um die Zukunft Athens. Beide stützen sich zunächst auf adlige Freundschaftsgruppen und Anhänger, sog. Hetairien. Isagoras wollte die Restauration der Adelsherrschaft und konnte sich 509/08 einen Vorteil verschaffen. Er wurde, gestützt auf seine Hetairien, in der Ekklesia (Volksversammlung) zum Archonten für das kommende Jahr gewählt[18]. Kleisthenes wandte sich daraufhin dem Volk zu, wollte es als Bundesgenossen gewinnen und schuf die Phylenreform. Uta Kron nennt dies einen politischen Gesinnungswandel[19], diese Ansicht teilt auch Herodot, denn er sagt, dass Kleisthenes die Reform durchführte, „Nachdem er das von ihm früher abgelehnte Volk der Athener gänzlich auf seine Seite gebracht hatte“[20]. Daraus lässt sich auf das Verhältnis zwischen ihm und dem Volk vor der Reform schließen. Durch die Reformabsichten konnte er vor allem Zeugiten und Theten zu seiner Hetairie gewinnen, d.h. die unteren Besitzklassen und somit die breite Masse des Volkes.

Karl-Wilhelm Welwei vermutet, dass Isagoras das Archontat schon angetreten hatte, als Kleisthenes der Volksversammlung seine Pläne als Privatmann unterbreitete. Wahrscheinlich bekam letzterer nicht die Sondervollmachten, wie einst Solon, sondern wurde Vorsitzender einer Kommission, die eine für die Volksversammlung beschlussfähige Vorlage der Reform erarbeiten sollte, der dann 508/07 zugestimmt werden konnte.

Durch den Zuspruch für ihn und seine Reformvorschläge seitens des Volkes, sah sich Isagoras zum Handeln gezwungen. Er bediente sich dabei des Königs Kleomenes I. von Sparta, der ja gerade erst die Athener von der Tyrannis befreit hatte. Aristoteles beschreibt, wie sich die Bürger Athens gegen diese neue Bedrohung wehrten:

„Kleisthenes entfloh, bevor Kleomenes mit geringer Heeresmacht ankam und siebenhundert athenische Familien vertrieb. Im Anschluß an diese Maßnahme versuchte er, den Rat aufzulösen und Isagoras mit dreihundert seiner Anhänger als Herren des Staates einzusetzen. Als aber der Rat Widerstand leistete und auch die Menge sich versammelte, flohen diejenigen, die zu Kleomenes und Isagoras gehörten, auf die Akropolis. Das Volk ließ sich davor nieder und belagerte sie zwei Tage lang; am dritten Tag ließen sie Kleomenes und alle seine Leute mit ihm im Schutze eines Waffenstillstandes abziehen, Kleisthenes aber und die anderen Flüchtlinge riefen sie zurück. Das Volk errang also die Kontrolle über das Staatswesen, und Kleisthenes stand als Führer des Volkes an seiner Spitze.“[21]

Weshalb Kleomenes I. nun auf einmal Isagoras unterstützte, ist noch immer rätselhaft[22].

Welwei erklärt, der „Widerstand, der sich bald darauf gegen Kleomenes I. und Isagoras erhob, wurde von der Boulé organisiert.“[23] Daraus lässt sich erkennen, dass Kleisthenes damals nicht nur durch eine bestimmte Gruppe unterstützt wurde, da dem Rat der 400 nicht nur die Pentakosimedimnoi[24], sondern auch Hippeis und Zeugiten angehörten. Das Verhalten der Bürger zeigte die eindeutige Parteinahme zugunsten des volksfreundlichen Kleisthenes und seiner Reform und die Ablehnung einer oligarchischen oder aristokratischen Herrschaft, wie sie Isagoras anstrebte, der den Rat auflösen und mit 300 seiner Gefolgsleute besetzen wollte.

3. Beweggründe für die Reform

3.1. Motive des Kleisthenes

Die Motive des Kleisthenes werden, wie schon in der Einleitung angesprochen, in der Forschung kontrovers diskutiert. Hier wird ebenfalls die Frage, inwieweit Kleisthenes die Reform für sich oder für das Volk einführen wollte, erörtert. Im Vordergrund stehen aber weitgehend militärische Motive, die natürlich Auswirkungen auf die innen- und außenpolitische Gesamtlage hatten.

In Athen „gab [es] kein Rekrutierungssystem für die Aushebung von Schwerbewaffneten und Reiter im Kriegsfall.“[25] Vor der Tyrannis der Peisistratiden besaßen die einzelnen Adelshäuser ihre eigene Aushebungspraxis. Ein von Solon geschaffenes System ist nicht bekannt, und es hätte auf keinen Fall die Wirren nach seiner Zeit nicht überstanden. Die Peisistratiden hatten sehr wahrscheinlich eine eigene oder auch gar keine Rekrutierungsordnung, da sie sich auf Söldner stützten. Sehr wahrscheinlich waren die Athener nach der Tyrannis ohne eine militärische Ordnung[26] und deswegen nicht nur auf ausländische Hilfe angewiesen, sondern auch schutzlos. Folgende Gefahren bedrohten zu der Zeit die Polis: Kleomenes I. sann nach der Vertreibung auf Rache und sollte mit einem Aufgebot des Peloponnesischen Bundes zurückkehren, die Chalkidier von Osten her angreifen, der Boiotische Bund wollte Plataiai wieder eingliedern, und außerdem existierte das riesige, bedrohliche Perserreich im Osten. Athen befand sich in einer außenpolitisch und militärisch schwierigen Lage, während die Gegner des Kleisthenes nur darauf warteten, das geschwächte Athen wieder zu übernehmen. Die Gefahr der Restauration der Tyrannis war immer noch durch die Peisistratiden[27], ihre Anhänger und jede andere adlige Familie gegeben. Erneute Adelskämpfe hätten die Polis endgültig zerreißen und zerstören können. Somit hätten aber auch die Alkmaioniden ihren gerade gewonnen Einfluss wieder verloren[28].

Wie wir sehen, stehen bei den angeführten Motiven militärische Gründe und der Adel mit seinen für die Polis gefährlichen Machtkämpfen im Mittelpunkt[29]. Die Ziele waren deshalb die Schaffung einer Militärverfassung, welche die Masse der Schwer- und Leichtbewaffneten aus den drei Vermögensklassen[30] erfassen, ausheben, aktivieren, sie entsprechend ihres Bewusstseins und Selbstverständnisses als Polisbürger einsetzen konnte und die Neutralisierung des Machtstrebens des Adels durch Einbeziehung desselben.

In den nächsten Kapiteln wird erörtert, wie Kleisthenes diese Ziele umsetzte, doch zunächst ist noch die Meinung des Volkes zu betrachten, für das und unter dessen Schutz er die Reform durchführte.

3.2. Motive des Volkes bei der Parteinahme für Kleisthenes

Die Bürgerschaft hatte einen triftigen Grund, für Kleisthenes zu votieren. An erster Stelle stand der Wunsch der Athener, sich politisch neu zu organisieren, um die Möglichkeit der Adelseinmischung für immer auszuschließen. Christian Meier beschreibt, dass die ersten drei Zensusklassen nicht an Hunger oder dem Mangel an anderen materiellen Werten litten. Aber

„die Willkür, die ... [das Volk] von den Adligen Herren zu ... [ertragen hatte], deren Hochmut, deren Bestreben auf Vorrang ... [führten zu einer] Ungleichheit [, die] als eine andere Not empf.[u]nden [wurde]: als Ungerechtigkeit.“[31]

Ohne Zweifel lag dem ein starkes Selbstbewusstsein zugrunde. Offenbar nahmen die Athener die Polis nun als politische Einheit (bestehend aus dem Zentrum Athen und jedem einzelnen Bürger) wahr, um die sich jeder Bürger zu kümmern hatte und deren Fortbestehen ihnen sinnvoll erschien. Verinnerlichung und Polisbewusstsein sind die Schlagwörter, mit denen sich dieser Wandel beschreiben lässt. Zum zweiten Mal nach Solon bot sich hier eine Alternative zur Adelsherrschaft, die nun erkannt wurde und für die es lohnte, sich einzusetzen[32]. Dass jedem Athener die Tragweite der kleisthenischen Vorschläge zu der Zeit klar war, muss eher verneint werden, denn es darf nicht vergessen werden, dass sich der Staat in einer Krisensituation befand. Einsichtig für die Bürger waren aber die von Kleisthenes und Isagoras gegebenen Perspektiven; auf der einen Seite die Möglichkeit der politischen Mitbestimmung, auf der anderen die Aussicht auf Adelsherrschaft, wie man sie schon erlebt hatte. Aufgrund der Ereignisse wird deutlich, dass die Bürger dies diskutiert haben müssen und sich bewusst gegen Tyrannis, Oligarchie oder Aristokratie stellten und bewusst für etwas Besseres stimmten, das sie schon von Solon her kannten und dessen Verwirklichung sie nun erhofften.

Die Tatsache, dass Athen nach wenigen Jahren ein schlagkräftiges Heer ins Feld schicken konnte, beweist, dass die Wiederaufrüstung der entsprechenden Bevölkerungsteile recht zügig nach dem Ende der Tyrannis eingesetzt haben muss. Schon 506 konnten die Athener so die Boioter und Chalkidier besiegen. In der Zeit der Adelskämpfe nach dem Ende der Tyrannis muss es also einen breiten Konsens, etwas wie eine allgemeine Aufbruchsstimmung, gegeben haben, die auch fraktionsübergreifend war, denn die Wehrhaftmachung konnte kaum über die Köpfe der Bürger geschehen sein und hätte bei einer breiten Ablehnung auch nicht zu den militärischen Erfolgen geführt. Vielleicht ist es dieser Aufbruchsstimmung zuzuschreiben, dass Kleisthenes am Ende relativ problemlos seine Reform durchsetzen konnte und seine Gegner nichts entgegenzusetzen hatten. Eine Gegenreform gab es nicht. Seine Reformvorschläge fielen also konkurrenzlos auf fruchtbaren Boden.

4. Die Phylenreform

4.1. Gegebenheiten und Phylenneukonstruktion

Laut Aristoteles schuf der Alkmaionide Kleisthenes 508/507 die fällige Reform. Sehr wahrscheinlich ist aber, bei der Betrachtung der Komplexität und der tiefen Eingriffe in die athenische Gesellschaft, dass sie mehrere Jahre beanspruchte. Sie war nicht nur, wie im Folgenden dargestellt wird, eine Umstrukturierung Attikas, sondern parallel dazu eine Veränderung der Bedingungen, „unter denen in Athen politisches Handeln möglich war.“[33]

Bisher waren die Athener nach Personenverbänden in den vier solonischen Phylen[34] und nach Phratrien[35] organisiert. Jede Phyle besaß einen Phylobasileus an der Spitze, bestand aus drei Trittyes und zwölf Naukrarien. Je 100 Männer entsandte jede Phyle in den Rat der 400 (boulē).

Kleisthenes ersetzte die personale Ordnung durch eine lokale. Er schuf zehn neue geographische Bezirke, die wiederum Phylen hießen[36]. Dabei kam es zu einer Mischung der Gebiete Attikas in jeder Phyle, denn „er wollte ... [die Bürger] untereinander vermischen, damit mehr von ihnen an der Ausübung der politischen Macht Anteil nehmen könnten.“[37] Jede Phyle beinhaltete von nun an drei zusammengeloste Trittyes[38], von denen jede Trittys aus einem der drei Landschaftsteilen Attikas, der Stadt (ásty, Athen und das Umland im Umkreis von ca. zehn Kilometern mit der dortigen Küste), dem Binnenland (mesógaion, das im Norden an Boiotien grenzte) und dem Küstenland (paralía, die Regionen am Meer mit Ausnahme des ásty-Gebietes) bestand. Das hatte zur Folge, dass die Phylen keine zusammenhängenden geographischen Gebiete mehr waren, sondern sich über ganz Attika erstreckten. Jede Phyle repräsentierte so alle Bürger von Athen, gleich ob sie nun im Zentrum, in Athen selbst, oder an den entferntesten Grenzen wohnten. Alle waren so an den politischen Gremien mit demselben Status beteiligt und bildeten gleichsam den Staat der Athener (Isonomie)[39].

Aus den Phylen wurden wie bisher die Ratsleute (Buleuten), jetzt in den Rat der 500, entsandt. Zudem kamen aus den Phylen die neun Archonten, der Schreiber der Thesmotheten und später auch die Richter der Geschworenenhöfe sowie andere zahlreiche Beamtenkollegien. Außerdem stellte jede Phyle einen Strategen und ein Regiment von ca. 1.000 Hopliten, sowie Reiter und Bogenschützen[40]. Dadurch konnte man das Heer überschauen, d.h. man wusste nun endlich wie viele Soldaten eigentlich zur Verfügung standen, wo sie sich befanden und konnte sie schnell zusammenrufen.

[...]


[1] Die Literaturangabe für: Aristoteles; Dreher, Martin (Hrsg.): Der Staat der Athener, Stuttgart 1997, wird in den folgenden Fußnoten der Einfachheit halber nur noch mit Aristoteles, ‚AP’ für den Originaltitel (Athenaion Politeia) und der jeweiligen Kapitelnummer angegeben.

[2] Isonomie: ísos = gleich, némein = verteilen; Dahlheim geht bei seiner Begriffsdefinition von einer Gleichheit aller Athener, die Rechte in der Volksversammlung hatten, aus. Vgl. Dahlheim, Werner: Die griechisch-römische Antike, Herrschaft und Freiheit: Die Geschichte der griechischen Stadtstaaten, Paderborn u.a. 1992, S. 155. Auf den Begriff ‚Gleichheit’ wird im Folgenden noch Bezug genommen.

[3] Siehe dazu u.a. Aristoteles, AP 5-12, Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie, Paderborn u.a. 19954, S. 24ff.

[4] Es gab z.B. weiterhin die Ämter der Archonten u.a. Falsch wäre es aber an dieser Stelle zu vermuten, der Tyrann habe aus Liebe zum Volk an dem bestehenden System festgehalten. Das würde ihn und seine Funktion ad absurdum führen, da er sich gerade aus dem Grund zum Tyrannen machte, um über das Volk zu herrschen und nicht sich ihm zu unterstellen. Das bestehende Gefüge konnte er dafür besonders gut für sich nutzen, denn wenn die Menschen etwas zu tun hatten, wenn sie eingespannt waren, dann dachten sie weniger über das nach, was ihnen fehlte. Der Tyrann musste das Leben der Menschen nur kontrollieren und ggf. handeln, wenn es sich trotzdem einmal gegen ihn richtete.

[5] Welwei, Karl-Wilhelm: Das klassische Athen, Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert, Darmstadt 1999, S. 5.

[6] Peisistratos, Sohn des Hippokrates und vor 600 geboren, war von höchstem Adel, vor 561 Polemarchos gegen Megara und daraufhin Mitglied des Areopags. Er verstarb 527, nachdem er eine Tyrannis in Athen eingerichtet hatte, zwar mehrfach vertrieben worden war, doch sich schließlich mit brutaler Gewalt die Heimkehr nach Athen erkämpft hatte und fortan dort lebte. (Kinzl, Konrad: Peisistratos, in: DNP Bd. 9, Sp. 483f.)

[7] Im Allgemeinen war Archon die Bezeichnung für alle Inhaber von Ämtern, doch der Begriff wurde häufiger auch als Titel eines besonderen Amtes benutzt, zumindest ursprünglich für das höchste Staatsamt. In Athen gab es ab 683/82 drei bestellte höchste Beamte: 1. Archon als ziviles Staatsoberhaupt, 2. Polemarchos als militärischer Kommandeur und 3. Basileus als religiöses Oberhaupt. Später kamen noch die sechs Thesmotheten als Gerichtsbeamte und ihr Sekretär hinzu. (Rhodes, Peter: Archontes, in: DNP Bd. 1, Sp. 1026ff.

[8] Im Wortsinn bedeutet ‚demos’ Volk und konnte entweder die gesamte Bürgerschaft einer Gemeinde bezeichnen oder nur die ‚gewöhnlichen Leute’ im Unterschied zu den privilegierteren Mitgliedern. Der Begriff diente auch zur Benennung der Versammlung der Bürgerschaft. (Rhodes, Peter: Demos, in: DNP Bd. 3, Sp. 463ff.)

[9] Zur Herrschaft der Peisistratiden siehe Bleicken, J., S. 32-41.

[10] Bleicken, J., S. 39.

[11] Unter den Peisistratiden herrschten drei Jahrzehnte Ruhe und innerer Frieden. Günstige Bedingungen für Landwirtschaft und Gewerbe wurden geschaffen und durch die Bodenertragssteuer die finanziellen Ressourcen konzentriert. Laut Aristoteles, AP 16,2, verwaltete Peisistratos „das Gemeinwesen maßvoll und mehr zum Nutzen der Polis als auf tyrannische Art und Weise.“ In Kap. 16,7 nennt er „die Tyrannis des Peisistratos ... [das] (goldene) Zeitalter unter Kronos.“

[12] Zu der Familie der Alkmaioniden vgl. Stanton, G.R.: Athenian Politics c. 800-500 BC, A Sourcebook, London/New York 1994, S. 200ff; Herodot; Feiz, Josef (Hrsg.): Herodot Historien, Bd. 1 und 2, München 1963, 6,125,1-6,132,1.

[13] Vgl. Aristoteles, AP 13,4. Zu den Verbindungen zwischen den Führern der parálioi, den pediakoí und den diákriroi, ihren Anhängern und der Lokalisierung in Attika siehe Lewis, D.M.: Cleisthenes and Attica, in: Historia, Bd. 12, 1963, S. 23f.

[14] Vgl. Kron, Uta: Die zehn attischen Phylenheroen, Geschichte, Mythos, Kult und Darstellungen,

in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung, 5. Beiheft, Berlin 1976, S. 15.

[15] Vgl. dazu Herodot 5,64,1-5,65,3.

[16] Siehe Aristoteles, AP 19; Vgl. auch Kron, Uta, 1976, S. 15f. Zum ersten Versuch der Spartaner siehe Herodot 5,63,1-5,63,4.

[17] Aristoteles, AP 20,1.

[18] Da Kleisthenes vermutlich schon vorher, wie oben angezeigt, das Amt des Archonten inne hatte, konnte er nicht persönlich noch einmal kandidieren. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass er ein Familienmitglied für diese Beamtenstelle favorisiert hatte, das Amt so für den Klan und somit auch seine Machtausübung besetzen wollte.

[19] Vgl. Kron, U., S. 16.

[20] Herodot 5,69,2.

[21] Aristoteles, AP 20,3-20,4. Diese Passage wird von Herodot 5,72,2-5,73,1, allerdings mit bunten Details versehen, unterstützt.

[22] Die Literatur verweist bei dieser Besonderheit des Seitenwechsels des Kleomenes I. auf seine inzwischen entstandene Freundschaft zum Hause des Isagoras. Wie und warum die Loslösung von den Alkmaioniden geschah, ist nicht überliefert, und es fehlen Lösungsansätze.

[23] Welwei, K.-W., S. 5.

[24] Zu den Pentakosimedimnoi, Hippeis und Zeugiten siehe unten die Fußnote 31.

[25] Bleicken, J., S. 41.

[26] Kleomenes I. hatte man nicht durch ein reguläres Heer vertrieben, sondern eher durch „lockere Haufen“ (Bleicken, J., S. 42).

[27] Peisistratos war bekanntlich mehrmals erfolgreich vertrieben worden und daraufhin doch wieder zur Macht gelangt.

[28] Zur Erinnerung: Die Alkmaioniden hatten sich nie aus eigener Kraft gegen die anderen Adligen durchsetzen können und waren immer unterlegen.

[29] Auf egoistische Ziele des Kleisthenes, wie in der Literatur teilweise erwähnt, wird hier nicht mehr eingegangen, da diese Vorwürfe m.E. nicht eindeutig genug sind. So wird z.B. bei der folgenden Phylenstruktur in der Forschung bemerkt, Kleisthenes habe sie so geschaffen, dass seine Familie in mehreren Teilen vertreten war. Dies setzt aber Informationen über den Wohnort des Kleisthenes voraus, welche die Literatur schuldig bleibt. Sehr wohl richtig und zu beachten ist, dass Kleisthenes durch diese Reform sowohl seine Anhängerschaft vergrößerte, als auch die Rivalen im Adel entmachtete und seiner Familie allein Prestige und Ansehen sicherte. Allerdings geschah dies ohne den praktikablen Gewinn an Einfluss und Macht wie z.B. in der Tyrannis, denn das Führen des Staates gab er ab, es lag nun in den Händen des Volkes.

[30] Timokratie Solons: 1. „500 Scheffler – Pentakosimédimnoi“ = reichste Grundbesitzer mit mehr als 500 Scheffel an festen und flüssigen Erträgen, 2. „300 Scheffler – Hippeis“ = Reiter, Ritter mit 300 Scheffel, 3. „200 oder 150 Scheffler – Zeugiten“, (4. Besitzlose – Theten). Es muss dabei beachtet werden, dass die Übergänge zwischen den Vermögensstufen fließend waren.

[31] Meier, Christian: Athen, Ein Neubeginn der Weltgeschichte, München 1995, S. 185.

[32] Bisher hatte sich die breite Masse nicht zu Aufständen gegen die Machthaber durchgerungen, denn das Ergebnis wäre ja doch nur eine neue Variante des Beherrschtwerdens gewesen.

[33] Martin, Jochen: Von Kleisthenes zu Ephialtes, Zur Entstehung der athenischen Demokratie, in: Chiron, Bd. 4, 1974, S. 12.

[34] Jede Phyle war unterteilt in drei Trittyes zu je vier Naukrarien. Insgesamt gab es bei Solon also 4 Phylen, 12 Trittyes und 48 Naukrarien.

[35] Zu den Phratrien siehe unten Kapitel 4.3.

[36] Vgl. Herodot 5,66,2 und 5,69,2.

[37] Aristoteles, AP 21,2.

[38] Mehr Informationen zu den Namen und örtlichen Lagen der Trittyes liefert D.M. Lewis in seinem Aufsatz (siehe Lewis, D.M., S. 27ff).

[39] Es stellt sich die Frage, ob sich dieser Gleichheitsgedanke von der Theorie in die Praxis umsetzen ließ und ob wirklich die am entferntesten lebenden Athener sich an der Tagespolitik beteiligten, wenn nicht das Los auf sie viel und sie somit gezwungen wurden. Das anfängliche Politikinteresse ebbte jedoch nicht ab, und viele Bürger kehrten nicht in ihre altes Leben zurück. Es scheint, als wäre die Polis zu einer wirklichen Privatangelegenheit geworden.

[40] Die ersten Dienstgrade unter den Strategen waren die Taxiarchen, welche die Hopliten anführten. Außerdem standen Hipparchen und Phylarchen, die bis zur Schaffung der Strategenämter ca. 501/00 noch die Abteilungen der Phylen kommandiert hatten, der Reiterei vor.

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Details

Title
Die Auswirkungen der Phylenreform des Kleisthenes in Athen: Von der Tyrannis bis zu Miltiades und Themistokles
College
University of Hamburg  (Seminar für Alte Geschichte)
Course
Proseminar Alte Geschichte: Die Entstehung der athenischen Demokratie
Grade
1
Author
Year
2001
Pages
34
Catalog Number
V61343
ISBN (eBook)
9783638548175
ISBN (Book)
9783638688673
File size
613 KB
Language
German
Keywords
Auswirkungen, Phylenreform, Kleisthenes, Athen, Tyrannis, Miltiades, Themistokles, Proseminar, Alte, Geschichte, Entstehung, Demokratie
Quote paper
Björn Böhling (Author), 2001, Die Auswirkungen der Phylenreform des Kleisthenes in Athen: Von der Tyrannis bis zu Miltiades und Themistokles, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61343

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