Die reformpädagogische Bewegung unter Berücksichtigung von Maria Montessori


Dossier / Travail, 2006

50 Pages


Extrait


1. Die reformpädagogische Bewegung im Allgemeinen

In seinem Werk „Die reformpädagogische Bewegung: 1900-1932“, an dem sich die Kapitel 1 bis 2.2.2 der vorliegenden Arbeit grundlegend orientieren, gibt Wolfgang Scheibe einen Gesamtüberblick über die reformpädagogischen Richtungen und Tätigkeitsfelder[1].

Als Eckdaten der reformpädagogischen Bewegung nennt Scheibe die Jahre 1900 und 1932/33. Im Jahre 1900 erschien das Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ von der schwedischen Journalistin und Pädagogin Ellen Key, in dem die Autorin forderte, Kinder als eigenständige Subjekte zu akzeptieren und zu respektieren. Dieses Werk gilt als Auftakt der reformpädagogischen Bewegung, da die Autorin hierin als erste die Grundzüge der neuen Pädagogik und der „neuen Schule“ formuliert hat. 1932/33 wurde die reformpädagogische Bewegung durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten weitestgehend zerschlagen.

Der Begriff „reformpädagogische Bewegung“ meint eine Vielzahl von nationalen und internationalen pädagogischen Richtungen innerhalb einer Gesamtbewegung. Gemeinsames Ziel dieser in den pädagogischen Ansätzen zum Teil sehr unterschiedlichen Bewegung war die Umgestaltung des Erziehungs- und Bildungswesens. Zentrales Kennzeichen war die Frontstellung gegen jegliche autoritäre, vom Lehrer oder vom Stoff her konzipierte Erziehung, an deren Stelle eine Orientierung an kindlichen und jugendlichen Bedürfnissen treten sollte. Damit verbanden sich Ziele wie Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung, Individualisierung, aber auch Vorstellungen von "Gemeinschaftserziehung" sowie nicht zuletzt ein neuer, auf Ganzheitlichkeit, Entfaltung schöpferischer Kräfte und Erfahrungsbezug hin ausgerichteter Lernbegriff. Reformpädagogik in diesem Verständnis hat für die damalige pädagogische Diskussion wie auch das Regelschulwesen eine anregende Wirksamkeit entfaltet, mit Langzeiteffekten bis zum heutigen Tag.

Der führende Reformpädagoge Berthold Otto verwendete bereits 1912 in seiner Schrift „Die Reformation der Schule“ den Begriff der Bewegung als Kennzeichen pädagogischer Intentionen. Das Wort wurde zuvor für andere soziale Bewegungen verwendet, wie der Frauen-Bewegung und Jugend-Bewegung. Es bedeutete, dass „etwas Neues im Aufbruch war, starke Kräfte sich regten und vorwärts drängten“[2]. Der Begriff wurde u.a. entwickelt und verwandt von dem Berliner Philosophen und Pädagogen Wilhelm Dilthey. Bewegung meint die Dynamik gleicher Gesinnungen, Überzeugungen und Willensrichtungen auf Grund bestimmter geistiger Entscheidungen. Bewegung drängt zur Tat, will sich ausbreiten und Ziele verwirklichen. Der Schüler und Assistent von Dilthey, Herman Nohl, hat mit seiner ersten Darstellung der Vielzahl pädagogischer Richtungen jener Jahre „Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie“ (1935) diese nicht nur in einen Gesamtzusammenhang gestellt, sondern damit auch den Ausdruck „Reformpädagogische Bewegung“ zu einem festen Begriff in der Erziehungswissenschaft werden lassen.

1.1 Entstehungsgeschichte der reformpädagogischen Bewegung

1.1.1 Vorläufer der reformpädagogischen Bewegung

Als Vorläufer der Reformpädagogik gelten vor allem Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi. Sie haben die spätere reformpädagogische Bewegung nachhaltig beeinflusst.

In seinem Erziehungsroman „Émile ou de l’éducation“ von 1762 entwarf Rousseau ein konkretes Erziehungsprogramm, dessen Ziel die Befreiung der Kinder von den Erwartungen der Erwachsenen ist, damit sich ihre Fähigkeiten frei entwickeln können. Rousseau forderte, Kinder und Jugendliche als Personen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen ernst zu nehmen. Er sah das Kind als „für sich lebend“, d.h. es kennt nur die „Welt der Dinge“ und „sich selbst nur im Verhältnis zu den Dingen“. Der Erzieher solle sich deshalb jeglicher direkter Einwirkung auf das Kind enthalten und stattdessen indirekt durch „Reize und Umweltsituationen“ auf das Kind einwirken. Als Jugendlicher gerate das Individuum durch das „Bedürfnis nach Liebe“ in die Abhängigkeit seiner Mitmenschen. Die „Welt der Dinge“ wandele sich nun in die „Welt der Gesellschaft“. Hier solle der Erzieher nun versuchen, die Erziehung durch behutsame Hinführung zu Kunst, Literatur und Religion weiterzuführen. In Rousseaus Roman wird die Erziehung Émiles durch die Liebe zu Sophie und eine Erziehung zur Liebe an sich vollendet. Mit „Émile ou de l’éducation“ beeinflusste Rousseau entscheidend die Diskussion über Erziehungsfragen und Bildung des Menschen im 18. Jahrhundert. Er wandte sich gegen ein Verständnis von Bildung als Bücherwissen. Sein Bildungsideal lag in der Entfaltung und Schulung der Sinne.

Pestalozzi nahm Rousseaus Ideen wieder auf. Im Mittelpunkt seiner Pädagogik standen der Mensch in seiner Individualbestimmung, der anthropologische Auftrag, zu sich selbst zu kommen, und die Beziehung zu Gott. Das Gleichgewicht einer Bildung von Kopf, Herz und Hand war für ihn Ziel und Methode zugleich. Er war für eine umfassend praktische Bildung. Weiterhin sollte nach Pestalozzi schulische Erziehung dazu beitragen, den Kindern und Jugendlichen Kenntnisse und Fähigkeiten für die Verbesserung ihrer Lebenssituation und sozialen Stellung zu vermitteln. Zum anderen vertrat er die Ansicht, dass die häusliche Erziehung, besonders die der Mutter, die wahre Grundlage der Erziehung sei. Aus dieser Idee heraus gründete er Erziehungsheime, um zu zeigen, dass das öffentliche Erziehungswesen durch die Nachahmung häuslicher Erziehung große Fortschritte erzielen könne. Der Gedanke der Schule als „erweiterte Familie“ wurde in der Reformpädagogik z.B. von Berthold Otto bei der Konzeption seiner Berliner „Hauslehrer-Schule“[3] aufgegriffen.

1.1.2 Kulturkritik

Die Kulturkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts bildete den Untergrund bzw. Keimboden für die reformpädagogische Bewegung, da diese von den negativen Erscheinungen ihrer Epoche ausging und aus dem Glauben, durch Erziehung eine bessere Gesellschaft herbeiführen zu können, ihre Kraft schöpfte. Darüber hinaus enthielt die Kulturkritik im Vorhof der pädagogischen Bewegung bereits Akzente einer „Bildungskritik“, d.h. einer Kritik, die sich unter pädagogischen Gesichtspunkten mit der Bildungslage und den Bildungsproblemen der Zeit auseinandersetzte. Dies war die Kritik am Rationalismus, am Intellektualismus und an der Verwissenschaftlichung der Bildung, getragen von den drei führenden Persönlichkeiten der Kulturkritik: Friedrich Nietzsche, Paul Anton de Lagarde und Julius Langbehn.

In „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (1874) kritisierte Nietzsche die durch ein Übermaß von Geschichte korrumpierte, lebensfremde Bildung seiner Zeit. Nach Nietzsche solle die Geschichte und die Vermittlung von ihr im Dienste des Lebens, der Gegenwart und der Zukunft stehen, andernfalls bestünde sonst die Gefahr, entweder die Geschichte selbst zu verfälschen, sich nutzloses historisches Wissen anzuhäufen oder das Neue und Werdende zu verhindern und abzulehnen. Als Gegenmittel solle sich die Jugend dem „Unhistorischen“ zur Rettung der Bildung bedienen.

Der Gymnasiallehrer de Lagarde schrieb den Aufsatz „Über die Klage, dass der deutschen Jugend der Idealismus fehle“ (1885) als Antwort auf die zu jener Zeit vorgebrachte Klage über den kulturellen und ideellen Niedergang der deutschen Jugend. Er war der Auffassung, dass dieser Niedergang nicht von der Jugend, sondern von den Erwachsenen verschuldet sei, die ihrerseits einem fragwürdigen Idealismus, dem traditionellen Bildungsidealismus, huldigten. Die Jugend handle nach ihm richtig und tue gut daran, dem in Wahrheit eklektizistischen Idealismus ihrer Eltern nicht zu folgen. Ähnlich wie Nietzsche kritisierte de Lagarde ebenfalls den historischen Bildungsballast seiner Zeit. Weiterhin wendete er sich gegen zu große Klassen, die Stofffülle und Zusammenhangslosigkeit des Unterrichts.

Der Kunsthistoriker Langbehn beklagte in seinem anonym erschienenen Werk „Rembrandt als Erzieher“ (1890) den Verfall des geistigen Lebens und die Verkümmerung der individuellen schöpferischen Kräfte des Deutschen Volkes. Als Ursache dafür sah er die Herrschaft des Rationalismus und die Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche. Dadurch sei die Bildung einseitig und nur äußerlich, der Blick für das Ganze verstellt. Demgegenüber sei nach Langbehn die Kunst ihrem Wesen nach ganzheitlich und müsse als Vorbild für die deutsche Bildung dienen. Für ihn rückte damit eine von der Kunst geprägte Volksbildung in das Zentrum der pädagogischen Bemühungen.

1.1.3 Auslöser der reformpädagogischen Bewegung

Zu den Auslösern der reformpädagogischen Bewegung zählen vor allem die pädagogisch bedeutsamen Bewegungen der Jahrhundertwende, die soziale Bewegung und die Frauenbewegung, die für die Rechte der Frau auf eine höhere Bildung, Berufsmöglichkeiten und das Wahlrecht kämpfte sowie die Jugendbewegung.

Die Jugendbewegung leistete einen bedeutenden Beitrag für die pädagogische Reform und stand mit ihr in vielfältiger Wechselbeziehung. Als ein Beispiel kann hier der Wandervogel Verein in Steglitz genannt werden. Der Inhalt der Jugendbewegung war das Gemeinschaftsleben, bei dem das Wandern an erster Stelle stand. Wandern war für diese großstadtfeindliche Jugend eine freie und geistige Lebensbetätigung und drückte ein neues Verhältnis zum Volk aus. Indem man zurück zum Ursprünglichen, zum Landleben wollte, distanzierte man sich bewusst von bürgerlichen Konventionen.

Zunehmend wurden Brücken zwischen Schule und Jugendbewegung geschlagen, und zwar in neuen Reformschulen wie Landerziehungsheimen. Man brauchte neue Schulen, da das neue Heim der Jugend nur die Schule sein konnte. Das Kennzeichen dieser neuen Reformschulen war der Umgang von Lehrer und Schüler, der durch gegenseitiges Vertrauen (Partnerschaft) geprägt war. Schule war mehr Lebensgemeinschaft, in der die Schüler Mitverantwortung trugen, denn Unterrichtsanstalt. Aufgrund ihrer „contra Intellektualisierungs-Einstellung“ entstand auch die Kunsterziehungsbewegung und musische Bildung aus der Jugendbewegung.

1.2 Kritik an der traditionellen Schule

Die pädagogische Reflexion über die historisch-gesellschaftliche Situation in Anlehnung an die Kultur- und Bildungskritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts wird als das Neue der Reformpädagogik gesehen. Aus dieser Reflexion gingen eine Vielfalt unterschiedlicher Ansätze zur Erneuerung von Schule und Erziehung hervor. Die Grundmotive der reformpädagogischen Bewegung lagen in der kritischen Auseinandersetzung mit der überkommenen bürgerlichen Kultur, Bildung und Erziehung. Die Reformer kritisierten die traditionelle Schule, die durch den Primat der Wissensvermittlung eine reine Lern- bzw. „Buchschule“ war. Sie bemängelten an ihr den herbartianischen Methodenmonismus, die intellektualistische Verengung und Vernachlässigung facheigener Strukturen, den autoritären Lern- und Unterrichtsstil bzw. den Autoritätsmissbrauch durch die Bestrafungen körperlicher, psychischer, emotionaler und seelischer Art, die Persönlichkeit des Lehrers selbst, die Lernziele sowie den Lehrstoff, den Dogmatismus der Schule sowie die Kluft zwischen Schule und Leben.

Der Herbartianismus wurde von der Reformpädagogik kritisiert, da aus dessen Sicht von Herbarts Anliegen, über die Bildung des Intellekts den sittlichen Willen wecken zu wollen, nur noch ein starres Unterrichtsschema, der Methodenmonismus, übrig geblieben war. Vernachlässigt wurden dabei Herbarts Forderungen nach „eigener Beweglichkeit“ der Schüler und die emotionale Bildung ursprünglicher Werturteile an ästhetischen Beispielen. Seine „Formalstufentheorie“ war ursprünglich ein fortschrittlicher Ansatz. Doch die autoritäre Durchsetzung und schematisch-öde Anwendung dieser Theorie verschütteten den didaktischen Wert und führten zu dogmatischer Erstarrung. So kam es um die Jahrhundertwende in der Reformpädagogik zu mächtigen Gegenbewegungen.

1.3 Grundzüge der reformpädagogischen Bewegung – grundlegende Annahmen und Forderungen

Den pädagogischen Kern bildete eine neue pädagogische Orientierung „ vom Kinde aus “, die im Gegensatz stand zu den bis dahin die Erziehung bestimmenden Forderungen und Maßstäben der Erwachsenen als Träger ihrer gesellschaftlichen Ordnung. Dieses neue Bild enthielt folgende Züge:

- Das Kind ist nicht als kleiner Erwachsener zu sehen, sondern stellt eine eigene, besondere Form des Lebens dar und hat seine eigene Würde
- Jedes Kind ist ein Individuum und sollte als solches respektiert werden. Alle Erziehung hat ihren Ausgang vom Kinde her zu nehmen.

Die Reformpädagogik verstand Erziehung vorwiegend als ein Sichanschließen an die natürliche Selbstentwicklung des Heranwachsenden. Die spontanen geistigen Äußerungen und die aufbrechenden Interessen des Kindes nahm sie zu Ansatzpunkten ihrer bildenden Bemühungen. Wenn sie dabei das „Wachsenlassen“ besonders betonte, lag die Sorge zu Grunde, dass Zwang, starre Führung und Autorität der freien natürlichen Entwicklung Schaden zufügen könnte. Die Vorstellungen Rousseaus von einer freien Entwicklung der Persönlichkeit aufgreifend, kam die Reformpädagogik zu einer positiven Neubewertung des Spiels als ein wichtiges, natürliches, freies Selbstbildungsmittel, zur didaktischen Neuentdeckung des künstlerisch-musischen Bereiches (methodische Reform in Richtung des freien Zeichnens, des freien Aufsatzes, der freien rhythmischen Gymnastik etc.) sowie des natürlichen Bewegungsdrangs und der selbstständigen Aufgabenerarbeitung. Die Forderung nach einer Ausprägung des Individuums wurde durch das Prinzip freiheitlicher, gemeinsamer Erziehung ergänzt. Die Reformpädagogik erkannte die im Kind angelegte Spontaneität und Aktivität sowie seinen Drang nach Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit. Der Ansatzpunkt der Reformpädagogik beim einzelnen Kind, aus dem sich die weitreichende Forderung nach Individualisierung ergab, wurde durch das pädagogische Gemeinschaftsprinzip ergänzt.

Allgemeine Tendenzen und zugleich Erträge der Reformpädagogik waren die Wiederbetonung der Eigenart und -wertigkeit der einzelnen Fächer, die neue Rolle des Lehrers als Partner, Helfer, Führer und Persönlichkeit sowie die Zuwendung zum einzelnen Schüler und die Hochschätzung von Schulleben und Gruppenprozessen. Schließlich war es Anliegen der Reformpädagogik, einer einseitig intellektuellen Verschulung entgegenzuwirken und den psychologischen Aspekt der kindlichen Entwicklung zu berücksichtigen. Als wesentlicher Bestandteil reformpädagogischer Konzepte spielt das selbstbestimmte Lernen eine wichtige Rolle.

1.3.1 Pädagogischer Leitgedanke: „vom Kinde aus“

Die neue pädagogische Orientierung, eine in ihrer Art und Intensität einzigartige Hinwendung zum Kind, indem es in seiner Bedeutung als Ausgangs- und Beziehungspunkt aller Erziehung und Bildung gesehen wurde, war der Kern der Reformpädagogik. Vorher wurde die Pädagogik von der Gesellschaft, den Erwachsenen, der Sachwelt, den objektiven Werten, den Bildungsgehalten bestimmt. Das Kind wurde sozusagen als kleiner Erwachsener betrachtet. Ihm kam nur wenig Beachtung und geringe Geltung zu. Wichtig war die Vorbereitung des Heranwachsenden auf seine Eingliederung in die Erwachsenengesellschaft. Die reformpädagogische Bewegung nahm Rousseaus Gedanken und seine Entdeckung der Kindheitsphase im menschlichen Leben mit seinen alterstypischen Merkmalen wieder auf, indem sie dem Kind eine neue Stellung gab. Diese neue Anthropologie des Kindes bildete die Voraussetzung für eine neue pädagogische Auffassung, in der das Kind eben nicht als kleiner Erwachsener, sondern als etwas Eigenes betrachtet wurde, mit seiner eigenen Würde, seiner eigenen Welt, seinen eigenen Sichtweisen und Fragen. Die Reformpädagogen forderten, jedes Kind als Individualität zu respektieren und dementsprechend zu behandeln. Nach Rousseau war das Kind im Grunde des Wesens immer unschuldig, daher war es die erste Aufgabe der Reformpädagogen, seine Unberührtheit vor schlechten Einflüssen zu schützen und seine Lebendigkeit, das Schöpferische und die geistige Regsamkeit hervorzuheben.

Das psychologische Verständnis von Kindern änderte sich auch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Vorher gab es keine spezifische Psychologie des Kindes. Der Entwicklungspsychologe Preyer begründete mit seinem Werk „Die Seele des Kindes“ (1882) die kinderpsychologische Forschung. Lhotzky vereinigte 1904 in seinem Werk „Die Seele deines Kindes“ die neuen psychologischen Einsichten vom Kinde mit den reformpädagogischen Intentionen.

Von den Erziehern forderte die Reformpädagogik, das Kind ernst zu nehmen, es zu verstehen in seiner Eigenart, seine Individualität zu respektieren, das Gute in ihm zu erkennen, die menschliche Nähe zu wahren und sich zu seinem Entwicklungsprozess entsprechend zu verhalten. Es galt, das Kind zu beobachten, zu ergründen und es zu verstehen, wobei man es „wachsenlassen“ sollte, sprich so selten wie möglich eingreifen, aber es trotzdem vor bösen Einflüssen schützen, die seine Entfaltung gefährden könnten.

In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung des Spiels aufgewertet, das helfen sollte die kindlichen Kräfte zu lösen, indem Angst und Hemmung gelöst werden. Die große didaktische Bedeutung des Spiels wurde vor allem darin gesehen, dass sich im Spiel die kindlichen Kräfte von selbst bildeten. Daher wurde nun auch in der Schule spielendes Lernen und lernendes Spiel bewusst gepflegt. Gerade die Schule als Ort der öffentlichen Erziehung war geeignet für die Verwirklichung der reformpädagogischen Ideen.

1.3.2 Die neue Schule

Neben der Forderung, das Kind als Mittelpunkt der Erziehung zu betrachten lag das grundsätzlich Neue an der neuen Schule vor allem in ihrem Freiheits- und Gemeinschaftsgedanken und der Nutzung der Aktivität des Kindes. Der Gedanke der liberté, der im 19. Jahrhundert nach Deutschland kam, wurde von der Reformpädagogik aufgegriffen, und zwar vor allem aufgrund ihrer Kritik am Zwangscharakter der Schule. Die Bedeutung von Freiheit lag darin, dass das Kind in der Schule nicht behindert werden sollte. Es sollte Freiheit haben für seine Entfaltung, und dazu sollte ihm der freie Raum gegeben werden zur selbsttätigen Entwicklung. Freiheit sollte auch dem Lehrer eingeräumt werden. Einmal eine „äußere Freiheit“, durch die Auflockerung der Lehrpläne, und eine „innere Freiheit“, indem der Lehrer sich nur vom Kinde beeinflussen lassen sollte. Es sollte eine innere Unabhängigkeit der Schule von Staat und Kirche gewährleistet werden, doch diese Forderungen konnten nur in Privatschulen umgesetzt werden mit der Hoffnung, dies dann in öffentliche Schulen weiter zu tragen.

Die Schule als „Lebensform“, „lebensnahe“ Schule und „Schulleben“ sollte statt organisierter, rationaler Zwecken dienender Anstalt die lebendige Form einer Schulgemeinschaft erhalten. Die Merkmale dieser neuen Schule waren Koedukation, persönliches Lehrer-Schüler-Verhältnis, ungezwungener Umgang zwischen beiden, Nähe von Elternhaus und Schule. Eine persönliche Atmosphäre und Vertrauen wurde als unabdingbar für die Entwicklung des Kindes angesehen. Da die Schule nun vom Kind und seinen Bedürfnissen bestimmt war, kam sie der natürlichen Gemeinschaft der Familie nah. Zudem sollte der geforderte Bezug zum Leben wiederhergestellt werden. Die künstliche Trennung von Schule und Leben sollte durch einen „undogmatischen Unterricht“ aufgehoben werden, indem der Alltag in ihr durch einen „Wirklichkeitsunterricht“ integriert werden sollte. Die „lebendige Schule“ sollte dem Leben dienen.

Vor allem Gurlitt, Otto und Kretschmann traten für den „natürlichen Unterricht“ ein. Sie griffen dabei den pädagogischen Hinweis von Rousseau auf, die Natur als Vorbild zu verwenden. Diese Forderung nach der „Rückkehr zur Natur“ wurde damit wieder neu aktiviert und für das reformpädagogische Erziehungs- und Unterrichtsdenken bedeutsam. Der Unterricht sollte sich an die natürliche Begabung des Kindes wenden und an seine natürlichen Interessen anknüpfen, z.B. durch eine natürliche Form des Wissenserwerbes durch Frage und Antwort im Gespräch.

Die aktiven Kräfte im Kinde sollten genutzt werden, indem es in seiner eigenen Selbsttätigkeit Schaffensfreude erlebt, was wiederum seine Aktivität fördert und seine Entwicklung vorantreibt.

Mit ihren weit reichenden Neuerungen wirkte sich die reformpädagogische Bewegung auch auf sozialpädagogische Aufgabenbereiche und auf die Erwachsenenbildung aus. Zudem trug sie zur Etablierung der Erziehungswissenschaft an den Universitäten bei. Dabei war die neue Volksschullehrerbildung am stärksten von den Reformen betroffen, da in den 20er Jahren die akademische Lehrerausbildung konstituiert wurde. Die pädagogischen Akademien waren an die Universitäten angeschlossene Übungsschulen zur Erprobung reformpädagogischer Ideen. Während der reformpädadogischen Bewegung wurden erstmalig ausschließlich pädagogische Lehrstühle errichtet, da die Pädagogik vorher vom philosophischen Lehrstuhl mitvertreten wurde. Die Aufwertung der Erziehungswissenschaft war wesentlicher Verdienst der Bewegung, da die Praxis und die Theorie der pädagogischen Bewegung eng miteinander verbunden waren und sich gegenseitig förderten.

2. Verschiedene reformpädagogische Richtungen

Auch wenn die meisten Reformpädagogen ähnliche Grundgedanken vorwiesen, gestalteten sich die verschiedenen Umsetzungen und Zweige sehr unterschiedlich, wodurch sich eine Unterteilung in verschiedene Richtungen innerhalb der reformpädagogischen Bewegung ergibt.

Nach Scheibe lässt sich Berthold Otto nicht einer bestimmten Richtung zuordnen. Otto übertrug den biologisch-organischen Begriff des Wachstums auf das Geistige im Sinne einer organischen Lebensanschauung. Aufgrund des „Erkenntnistriebes“ des Menschen setzte er das geistige Wachstum in Analogie zum organischen Wachstum. Sein radikaler Ansatz wurde häufig dahingehend kritisiert, dass er zu großes Vertrauen auf das spontane Wachstum und den Bildungstrieb des Kind setzte. Vielleicht bedurfte es jedoch diesem Extremismus, damit der Ansatz überhaupt erst einmal erkannt wurde.

Beim Konzept der Landerziehungsheime stand die Gemeinschaft im Vordergrund und das Individuum wurde zurückgedrängt. Die Heime bildeten eine Gemeinschaft, die die Heranwachsenden vor den Gefahren des seelenlosen Materialismus, der Vereinzelung und des gefühllosen Mechanismus der Gesellschaft bewahren sollten, da laut der Pädagogen der Landerziehungsheime die Familie dazu nicht mehr imstande war. Hermann Lietz als ihr Initiator wollte somit die Familie durch Internatserziehung substituieren.

Der Initiator der Kunsterziehungsbewegung war Alfred Lichtwark. Die Kunsterziehung sollte als ein „Erlebnisunterricht“ an den spontanen Bedürfnissen und der kreativen Natürlichkeit des noch unverstellt spielenden Kindes ansetzen. Kinder sollten in allererster Linie ihre schöpferischen Kräfte durch künstlerische Betätigung zu entfalten vermögen. Schon Langbehn und de Lagarde, die bereits die Jugendbewegung beeinflusst hatten, sahen in der Kunst die Funktion und die Möglichkeit, die Heterogenität der modernen Welt zu kompensieren. Die Kunsterziehungsbewegung setzte ausschließlich auf das zu erziehende Subjekt und vertrat darin gemeinsam mit anderen reformpädagogischen Richtungen einen lebensphilosophisch motivierten Vitalismus, der den irrationalen Kräften des Kindes, dessen Spontaneität und Schöpferdrang einen höheren Rang einräumte als den erst erzieherisch zu gestaltenden und zu schulenden Fähigkeiten der Reflexion, Intellektualität und Vernunft.

Die Einheitsschulbewegung war im Gegensatz zu den anderen Reformen eine äußere Schulreform. Von sozialen und politischen Intentionen motiviert, wollte die Einheitsschulbewegung bestimmte Spaltungen im Schulwesen abschaffen. So verlangte sie, die schulische Trennung nach Geschlechtern durch eine Schule der Koedukation aufzuheben, die Konfessionsschule durch die simultane sowie die traditionelle, ständisch orientierte Schulgliederung mit sozialen Privilegien und Benachteiligungen durch Gesamtschulen abzulösen. Allein Begabung und schulische Tüchtigkeit sollten für das Weiterkommen des einzelnen maßgebend sein.

Laut Scheibe war es „wohl nicht zu viel gesagt, wenn die Jena-Plan-Schule Peter Petersens als das ‚reifste Ergebnis der Reformbewegung’ bezeichnet worden ist“[4]. 1927 wurde der Schulversuch des international bekannten deutschen Universitätspädagogen Petersen aus Jena als Jena-Plan bezeichnet. Die Jena-Plan-Schule sprengte die starre Form der Klasse durch eine differenzierte Durchgliederung des Schullebens und der Schularbeit, um sich den Bedürfnissen der Schüler anzupassen. Der Frontalunterricht wurde durch selbsttätige Gruppenarbeit ersetzt. Es gab viele offene Unterrichtsformen, der Unterricht war viel werklich, künstlerisch gestaltend, freier und kindgemäßer. Der Gruppenunterricht wurde dabei unter Beratung und Beaufsichtigung von Lehrern gehalten, wobei die Schüler sich aber den Lernstoff weitestgehend selbstständig erarbeiten sollten. Die Vereinigung von Individualität und Gemeinschaft war die eigentliche Aufgabe der Erziehung, die erreicht werden sollte, indem es Gruppen statt Klassen gab. Der Unterricht wurde in Blockstunden abgehalten, denn für eine intensive Arbeit seien konzentrierte und längere Unterrichtseinheiten nötig. Das Spiel war didaktisches Mittel, das Gespräch die didaktische Form, denn nach Petersen waren das Spiel, das Gespräch, die Arbeit und die Feier Grundformen, in denen der Mensch nach außen tätig wird im Verein mit anderen. Statt Zeugnissen wurden ein objektiver Bericht für Eltern und ein subjektiver Bericht für das Kind (auf seine Selbsterziehung zielend) verfasst. Das Zusammenleben in der Schule war ganz im Sinne der schulreformerischen Tradition gestaltet – an der Jena-Plan-Schule gab es weder Zwang noch Strafe, sondern ein durch die selbsttätigen Gesetze der Gemeinschaft geordnetes, durch die Gewöhnung an beste Umgangsformen und gute Sitten gepflegtes Zusammenleben der Kinder in engem Verein mit den Erziehern und auch mit den Eltern.

[...]


[1] Scheibe, Wolfgang. Die reformpädagogische Bewegung: 1900 -1932. Eine einführende Darstellung. 8. Aufl. Beltz. Weinheim, Basel: 1982.

[2] Scheibe: 1.

[3] (Berthold-Otto-Schule, gegründet 1906)

[4] Scheibe: 316.

Fin de l'extrait de 50 pages

Résumé des informations

Titre
Die reformpädagogische Bewegung unter Berücksichtigung von Maria Montessori
Université
Free University of Berlin  (Erziehungswissenschaften und Psychologie)
Auteur
Année
2006
Pages
50
N° de catalogue
V61460
ISBN (ebook)
9783638549158
ISBN (Livre)
9783640319411
Taille d'un fichier
860 KB
Langue
allemand
Annotations
Es handelt sich hierbei um die obligatorische wissenschaftliche Arbeit zur Vorbereitung auf die Staatsexamensprüfung in Erziehungswissenschaft für das Lehramt (Studienrat). Die Arbeit bietet einen ausführlichen Überblick über die reformpädagogische Bewegung, wobei die Arbeitsschulbewegung sowie die Freien Waldorfschulen insbesondere betrachtet werden. Es folgt danach eine kritische Betrachtung der reformpädagogischen Leistung Maria Montessoris.
Mots clés
Bewegung, Berücksichtigung, Maria, Montessori
Citation du texte
Jasmina Murad (Auteur), 2006, Die reformpädagogische Bewegung unter Berücksichtigung von Maria Montessori, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61460

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