Die Moral in Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme


Hausarbeit, 2005

22 Seiten


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung

II. Luhmanns Begriff von Moral und seine Abgrenzung gegen die Ethik

III. Die historische Entwicklung der Moral
1. Die Moral in der segmentären und der stratifikatorischen Gesellschaft
2. Die Moral in der funktional differenzierten Gesellschaft

IV. Schluss: Zusammenfassung und Kritik

V. LiteraturverzeichnisS

I. Einleitung

Obwohl sich keine eigene Moralsoziologie herausbilden konnte, sondern vielmehr die deskriptive Ethik die Rolle einer solchen übernimmt, ist Moral ein Thema, das seit jeher in der Gesellschaftstheorie von großem Interesse ist und als zentral für die Frage nach der Koordination menschlichen Verhaltens und der sozialen Ordnung angesehen wird. Doch welche Rolle spielt die Moral heute noch für die Gesellschaft? In der funktional differenzierten Gesellschaft wird das Recht als eines der bedeutendsten Funktionssysteme verstanden und die Moral verliert demgegenüber an Bedeutung, da sie nicht mehr einheitlich bestimmt werden kann – auch wenn das Rechtssystem immer wieder auf moralische Kommunikation zurückgreift, zum Beispiel bei der Festlegung universeller Menschenrechte.

In dieser Arbeit werde ich Niklas Luhmanns systemtheoretische Sicht auf die Moral, also seine Sichtweise der gesellschaftlichen Funktion der Moral erläutern, die Luhmann in seinem grundlegenden Aufsatz „Soziologie der Moral“ von 1978 erstmals formuliert und ihn dann in weiteren Arbeiten, bis zu seinem Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, immer wieder aufgenommen und präzisiert hat. Dabei werde ich den Begriff der Moral bei Luhmann klären, einen Überblick über die historische Entwicklung der Moral liefern sowie insbesondere ihre Funktion und Position in der funktional differenzierten Gesellschaft beschreiben. Dabei wird sich herausstellen, dass Luhmanns Moralsoziologie eine ziemlich antimoralische ist.

Eine grundsätzliche Einführung in Luhmanns Theorie sozialer Systeme würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und deshalb setze ich hier die entsprechenden allgemeinen Begrifflichkeiten und Zusammenhänge voraus und erläutere lediglich einige Knackpunkte Luhmanns Theorie in Bezug auf die Moral.

II. Luhmanns Begriff von Moral und seine Abgrenzung gegen die Ethik

Wie alle kommunikativen Teilbereiche der Gesellschaft, betrachtet Niklas Luhmann die Moral unter der Fragestellung ihrer gesellschaftlichen Funktion. Er sieht dabei von der Betrachtung des Inhalts der Moral weitestgehend ab; eine Bestimmung der Moral als System bestimmter Werte und Normen, als Vorstellung vom „guten Leben“ käme ihm nicht in den Sinn. Ebensowenig zielt Luhmann auf die Bedeutung der Moral als wichtiges Element der sozialen Ordnung ab, über das Individuen in die Gesellschaft integriert werden. In der Einschränkung auf die Funktion der Moral in gesellschaftlichen Kommunikationen treten in Luhmanns Beschreibung insbesondere die destruktiven und konfliktfördernden Aspekte der Moral in den Vordergrund.

Jede Interaktion hat laut Luhmann das Problem der doppelten Kontingenz: zwei aufeinander treffende Personen bilden ein soziales System, indem sie miteinander kommunizieren, wobei die Situation zunächst vollkommen offen ist. Ego weiß nicht, was Alter tun (bzw. sagen) wird und Alter weiß nicht, was Ego tun (bzw. sagen) wird. Jeder stellt für den jeweils anderen eine unüberschaubare Komplexität dar, die innerhalb der Kommunikation nicht erfasst werden kann. Diese doppelte Kontingenz ist einerseits Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt, da sich daraus erst Handlungs-/Kommunikationsbedarf ergibt, andererseits ist es das Ziel der Kommunikation, diese Kontingenz zu überbrücken und so kommunikative Anschlussfähigkeit zu gewährleisten.

Die Moral als besondere Art von Kommunikation, nicht etwa als Verfasstheit des menschlichen Charakters (ethos), eine bestimmte (innere) Gesinnung oder ein System von Normen, strukturiert die Anschlussfähigkeiten vor: sie gibt einen bestimmten Horizont an Möglichkeiten vor, man stellt bestimmte Erwartungen an das Verhalten seines Gegenübers. Die am sozialen System beteiligten Personen orientieren sich dabei auch an den jeweiligen Erwartungen ihres Gegenübers. Da es eine zu große Belastung für die Kommunikation und die beteiligten Bewusstseinssysteme wäre, dies ständig mitzureflektieren, wird die Ego/Alter-Synthese durch die Kommunikation von Achtung bzw. Nichtachtung überbrückt beziehungsweise vereinfacht. Die Kommunikation nimmt also moralische Qualität an, wenn sie Ausdruck menschlicher Achtung oder Nichtachtung ist. Im Unterschied zu gut/böse ist dieser spezifische Code empirisch fassbar. Moraläußerungen erscheinen dem Soziologen Luhmann so als soziale Tatsachen. Die Unterscheidung Ego/Alter ist also der Ausgangspunkt für Moralbildung und die Moral selbst führt die querstehende Unterscheidung von Achtung und Missachtung ein, wobei die Achtung über festgelegte Bedingungen in der Kommunikation mitläuft und je nachdem, wie mein Gegenüber reagiert, entscheidet sich, ob eine Ego/Alter-Synthese möglich ist, ob also integrierende Kommunikation gelingt oder misslingt. Die Summe der gesellschaftlichen Achtungsbedingungen macht die Moral aus.

Als Indikator für einen akzeptierten Einbau des Ego als Alter und als alter Ego in die Sichtweise und Selbstidentifikation seines Alter dient der Ausdruck von Achtung und die Kommunikation über die Bedingungen wechselseitiger Achtung. Ego achtet Alter und zeigt ihm Achtung, wenn er sich selbst als Alter im Alter wieder findet, wiedererkennt und akzeptieren kann oder doch [ent]sprechende Aussichten zu haben meint. Achtung fungiert also im Kommunikationsprozess als Kürzel für sehr komplexe zugrunde liegende Sachverhalte, die nur über diese symbolische Substitution überhaupt kommunikationsfähig werden. Das Gelingen perspektivisch integrierter Kommunikation wird durch Achtungserweis entgolten, das Misslingen durch Achtungsentzug bestraft, und all das in abstufbarer Dosierung. (LUHMANN 1978, S. 46f)

Die Moral ist in Luhmanns systemtheoretischer Sichtweise also das Produkt sozialer Systeme, nicht etwa eine Eigenschaft des Menschen oder ein System sozialer Normen. Es sind kommunikative und damit sozialsystemspezifische Erfordernisse, die zur Differenzierung von Achtung und Achtungsbedingungen führen und die damit den Anstoß zur Absonderung und Sedimentierung besonderer Moralvorstellungen geben. Diese Moralvorstellungen werden in einfachen Interaktionssystemen relevant und geben durch das Wahrscheinlich- beziehungsweise Unwahrscheinlichmachen spezieller Kommunikationen sozialen Systemen eine Struktur. Erst wenn eine Gesellschaft sich zunehmend funktional differenziert, wird eine Generalisierung der Moral in Form von Normen, Werten und Regeln notwendig.

Eine nähere Bestimmung des Kriteriums der Achtung und Missachtung lautet, dass es sich immer auf die Person als Ganze und auf ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft bezieht. Als menschliche Achtung unterscheidet sie sich somit von fachlichem oder sonstigem Respekt, der sich auf eine persönliche Leistung, zum Beispiel als Sportler, Handwerker oder Musiker richtet. Bei der Moral geht es also nicht um die Anerkennung besonderer Fähigkeiten oder Leistungen, sondern um die Inklusion von Personen schlechthin in die gesellschaftliche Kommunikation.

Moralische Kommunikation von Achtung beziehungsweise Missachtung ist also inklusiv durch die Einrichtung der Kommunikation, dass Bedingungen der Übereinstimmung symbolisiert und signalisiert werden können und darüber hinaus symmetrisch. Um anderen Verbindlichkeiten zuzumuten muss ich diese auch selbst akzeptieren und mich einschließen. Moral erzeugt somit Bindung. Durch die Differenz von Achtung und Missachtung wird die Selbigkeit von den Bedingungen von Ego und Alter erzeugt.

Doch die Moral kann nicht über Inklusion und Exklusion entscheiden, sie kann nur die Inklusion schematisieren, das ist die Funktion ihres Codes. Als Kommunikationsteilnehmer sind andere nicht zu eliminieren, es sei denn, man tötet sie. Man kann andere moralisch verurteilen und verachten, aber muss hinnehmen, dass sie ungestört weiterreden und ihre Ansichten verbreiten. Ihre Unmöglichkeit der Exklusion muss die Moral kompensieren. Hieraus ergibt sich in Luhmanns Beschreibung die Nähe der Moral zum Konflikt, die er sehr in den Vordergrund stellt. Die Vorstellung, dass über die Moral ein Konsens gefunden werden kann, kann laut Luhmann nur in einer normativen Moraltheorie Platz finden, da dort die Moral als etwas Gutes verstanden wird und immer Zustimmung einfordert; die Möglichkeit einer revisionistischen normativen Moraltheorie hat er offensichtlich nicht im Blick. Moral als Summe der Achtungsbedingungen verstanden, welche die Ego/Alter-Synthese vermitteln, lässt durchaus offen, ob integrierende Kommunikation gelingt oder misslingt. Für Luhmann ist es jedoch wahrscheinlicher, dass die Kommunikation misslingt.

Gegenüber einer vorherrschenden, allzu friedlich gestimmten Moralauffassung fallen somit eher die „polemogenen“, Streit entfachenden Züge der Moral ins Auge. Ego/Alter-Synthesen verschiedener Partner können in Situationen sehr leicht in offenen Konflikt geraten, wenn sie nicht voll komplementär sind und Alter dem Ego mitteilt, dass er die Folgerungen nicht akzeptiert, die dieser aus seinen Präferenzen zieht. (LUHMANN 1978, S. 54)

Moral ist laut Luhmann also polemogener Natur. Die Unmöglichkeit der Exklusion gibt ihr Emphase, Eifer, Aufdringlichkeit. Man kann nicht ausschließen, man kann nur bewerten. Das führt, wenn nicht Restriktionen eingebaut werden, sehr rasch zur Heftigkeit und Zornigkeit, zur kämpferischen Aufspreizung des moralischen Urteils. Wenn man nicht töten kann oder will, dann muss man etwas statt dessen tun. Moral hat eine Tendenz, Streit zu erzeugen oder aus Streit zu entstehen und ihn dann zu verschärfen. Moralisierungen tendieren dazu, den Konfliktstoff zu generalisieren, womit auch der Mechanismus der Selbstachtung auftritt. Selbstachtung wird ausgebildet, wenn die Achtungsbedingungen nicht mehr direkt in der Kommunikation ablesbar sind. Sie dient als Schutz davor, ständig wieder als Person in Frage gestellt zu werden. Selbstachtung bringt in der Kommunikation zum Ausdruck, dass man den eigenen Ego/Alter-Synthesen traut – damit hat man die Achtung anderer schon halb gewonnen. Durch die Symmetrie der Achtungskommunikation wirkt das Einsetzen der Selbstachtung konfliktverstärkend. Falls nämlich die Ego/Alter-Synthese misslingt, - ich auf Missachtung treffe – so wird gleichzeitig meine Selbstachtung in Frage gestellt. Man setzt bei moralischen Meinungsverschiedenheiten seine Selbstachtung ein und kann dann nur schwer den Rückzug antreten.

[...]

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Details

Titel
Die Moral in Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Veranstaltung
Grundbegriffe soziologischer Theorien
Autor
Jahr
2005
Seiten
22
Katalognummer
V61525
ISBN (eBook)
9783638549615
ISBN (Buch)
9783656786412
Dateigröße
506 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit erläutere ich Luhmanns systemtheoretische Sicht auf die gesellschaftliche Funktion der Moral, die er in dem grundlegenden Aufsatz 'Soziologie der Moral' von 1978 erstmals formuliert und dann in weiteren Arbeiten, bis zu seinem Hauptwerk 'Die Gesellschaft der Gesellschaft', immer wieder aufgenommen und präzisiert hat. Dabei stellt sich heraus, dass Luhmanns Moralsoziologie eine ziemlich antimoralische ist.
Schlagworte
Moral, Niklas, Luhmanns, Theorie, Systeme, Grundbegriffe, Theorien
Arbeit zitieren
Felix Denschlag (Autor:in), 2005, Die Moral in Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61525

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