Realismus, Authentizität und Differenzqualität. Das Projekt Dogma 95 untersucht an FESTEN (1998) & IDIOTERNE (1998)


Magisterarbeit, 2006

138 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


1. Einleitung

„Die DOGMA-Filme unterscheiden sich in Ausführung und Plot radikal voneinander. Das ist interessant.

Sie gleichen einander mehr in der Art der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit als in der Form.

Obwohl die DOGMA-Regeln und das Keuschheitsgelübde ein rein formales Regelwerk sind.

Daraus kann man ableiten, dass Form gleich Inhalt ist. Beinahe laboratoriumsmäßig. Form erzeugt also nicht Form, sondern Wirklichkeit.

Daraus kann man ableiten, dass die Wirklichkeit sich auf andere Art und Weise erschließt, wenn man sich ihr mit dogmatischen Regeln nähert. Und dass es also etwas gibt, um das man sozusagen nicht herumkommt.

Daraus kann man auch ableiten, dass es Wirklichkeit gibt. Das ist erhebend.“

(Mogens Rukov. In.: Hallberg/Wewerka 2001, 260)

Das zehnjährige Bestehen des Dogma-Manifestes im Jahr 2005 entfachte erneut die Diskussionen dieser kontroversen Bewegung in den Medien. Durch die Schließung des Dogma-Sekretariats im Jahre 2002 und der vehementen Verweigerung der Dogma-Brüder von weiteren Dogma-Filmen stellt sich einerseits die Frage nach der damaligen Ernsthaftigkeit, aber auch der möglichen Ironie dieser Bewegung. Die Beantwortung dieser Frage findet man im Ergebnis der Untersuchung von zwei inhaltlichen Schwerpunkten der Dogma-Arbeiten. Zum einen besteht eine Verbindung zwischen der Ironie und der Ernsthaftigkeit des Manifestes und dem Anspruch von Authentizität und Realismus. Zunächst werden ein vorhandener Realismus und die vorzufindende Authentizität in dieser Arbeit herausgearbeitet, um dann aber wieder kritisch in Frage gestellt zu werden. Zum anderen werden bei dieser Untersuchung die Abgrenzungen zur Autorenpolitik und zum klassischen Film mit seinem klassischen Realismus berücksichtigt, die eine Differenzqualität aufweisen.

Das 100jährige Jubiläum der Kinematographie nahmen Lars von Trier und Thomas Vinterberg zum Anlass, das Manifest „Dogma 95[1] “ vorzustellen. Das Manifest wurde zuvor von den Initiatoren am 13. März 1995 in Kopenhagen unterzeichnet. Diesen beiden Filmemachern schlossen sich auch Søren Kragh-Jacobsen und Kristian Levring an. Die Lokalität der Konferenz am 20. Mai 1995 im Odéon – Théatre de L’Europe in Paris stellte einen weiteren Verknüpfungsknoten zur Filmgeschichte her. 40 Jahre zuvor postulierte Francois Truffaut gemeinsam mit anderen Filmkritikern der Zeitschrift „Cahiers du cinema“ am gleichen Ort das Autoren-Kino.

Das Dogma-Manifest ist auf zwei Seiten verfasst, wobei das erste Blatt eine Analyse der Krise des Films beschreibt. Auf der zweiten Seite werden die 10 Regeln – das Keuschheitsgelübde „THE VOW OF CHASTITY“ – aufgelistet. Das Manifest macht sich die Rückkehr zu den Wurzeln des Filmemachens zum Ziel - entgegen modischen Effekten und technischen Spielereien - demnach als eine Abkehr vom klassischen Kino, besonders dem Hollywood-Kino und dem Hollywood-System im Allgemeinen, zu verstehen. Nicht nur diese Entgegnung ist aus dem Manifest herauszufiltern, sondern auch eine negative Haltung einer früheren Gegenbewegung des Genre-Kinos – die Autoren-Politik.

Auf der Webseite von Dogma 95 (www.dogme95.dk) wird entgegen der Autoren-Politik der 60er Jahre von einem nicht vorhandenen Individualismus im Dogma-Film gesprochen. Bezogen auf den technischen Fortschritt in der Filmlandschaft und die damit zusammengehörige Massenproduktion von Filmen, betonen die Dogma-Anhänger die Wichtigkeit der Avantgarde. Hier sprechen sie sich für die Notwendigkeit von Regeln aus.

„It is no accident that the phrase „avant-garde“ has military connotations. Discipline is the answer... we must put our films into uniform, because the individual film will be decadent by definition!” (Auszug aus dem Manifest www.dogme95.dk 14.02.2006)

Man sollte jedoch die Uniformität nicht als die wichtigste Instanz ansehen, sondern sich bewußt machen, dass die purity – die Nacktheit – das zentrale Moment in den Filmen ist. Weiter postulieren sie:

“The “supreme” task of the decadent filmmakers is to fool the audience. Is that what we are so proud of? Is that what the “100 years” have brought us? Illusions via which emotions can be communicated?... By the individual artist’s free choice of trickery? (Auszug aus dem Manifest www.dogme95.dk 14.02.2006)

Hiermit führen die Dogma-Brüder die Forderung nach Authentizität ein. Sie möchten die klassische Illusion des Kinos, die aus einer Künstlichkeit entsteht, umgehen, indem sie die Regeln des Manifests berücksichtigen.

Im Folgenden wird die Analyse-Methode dieser Arbeit begründet und ihr Vorgang zusammengefasst.

Um den Fokus auf den Realismus-Gehalt der Dogma-Filme zu legen, dient im ersten Teil dieser Arbeit lediglich das Manifest, sein Regelwerk und die Auseinandersetzung mit den Definitionen der zu behandelnden Begrifflichkeiten als Grundlage der Untersuchung der Filme. Theoretische Ansatzpunkte, die für die begriffliche Argumentation wichtig sind, werden hier ebenfalls gegeben.

Als filmanalytische Beispiele werden im zweiten Teil der Arbeit die ersten beiden und wohl auch populärsten Dogma-Filme Dogme#1 Festen (Dänemark 1998, Thomas Vinterberg) und Dogme#2 Idioterne (Dänemark 1998, Lars von Trier) herangezogen. Zunächst scheint diese Analyse ein wiederholter Vorgang, der in allen vorangegangenen Studien zu erkennen ist. Jedoch sind gerade für die Untersuchung der Realismus- und Authentizität-Thematik diese beiden Filme von entscheidender Bedeutung. Gerade Idioterne ist nicht nur der konsequenteste aller Dogma-Filme, er scheint auch die direkte Umsetzung des Manifestes im Film zu sein. Weitere Dogma- oder post-Dogma-Filme sollen hier lediglich im Ausblick genannt werden. In den unterschiedlichen Kategorien wird der Realismus, die Authentizität unter Beweis gestellt oder auch als fake -Charakter entlarvt. Die These, das Dogma-Projekt sei ein fake -Dokumentarismus, stammt von dem Hauptkritiker der Dogma-Filme Georg Seeßlen. Diese These wird ein zentraler Aspekt in der Arbeit sein. Die Weiterführung von Seeßlens These und die gängigste Argumentation von Dogma-Kritikern, das Dogma-Manifest sei nur eine Vermarktungsstrategie, wird von mir nicht übernommen (Vg. Seeßlen 2001). Ich konzentriere mich auf die Infragestellung des Authentizitätscharakters.

Die verwendete “primitive“ Filmtechnik, wie das Drehen mit einer Handkamera, kein Einsatz von künstlichem Licht und Special-Effects, das Drehen an Originalschauplätzen und das Verbot des Nachbearbeitens des Tons, sind die meist zitierten Charakteristika der Dogma-Filme. Außerdem soll der Regisseur nicht genannt werden, was erneut eine Rebellion gegen das Autorenkino aufzeigt. Diese Regel ist jedoch nur insofern realisiert worden, als dass der Regisseur lediglich im Abspann nicht aufgeführt wird. Im weiteren Rezeptionsverlauf bei Kritiken oder Diskussionen wird der Regisseur jedoch genannt. Den Medien und dem Publikum ist also bekannt, wer für den jeweiligen Film verantwortlich ist. Der Schwerpunkt dieser Regel liegt auf der Konzentration des Prozesses des Filmemachens und nicht darauf, wie ein Film vermarktet oder umworben werden soll.

Aufgrund der vielfältigen Ebenen, auf denen der Realismus umgesetzt wird, werden die Kriterien wie Dramaturgie und narrative Struktur, die vor allem im Kontrast zur klassischen Narration gestellt wird, Kamera, Darsteller, die Rolle des Betrachters, behandelte Thematiken und die Interviews in Idioterne einzeln betrachtet.

Aus dieser Unterteilung ergeben sich zwei Ebenen, auf denen der Realismus zum Ausdruck kommt: Die Umsetzung des Realismus der Form und die Verifizierung eines Realismus auf der Ebene des Inhalts und dessen kritische Betrachtung.

Das Ergebnis der gesamten Analyse wird zeigen, dass kein reiner unvoreingenommener, allgemeingültiger Realismus im Film existiert. Das Verständnis von Realismus entsteht aus einer Norm, einer Erfahrung des Vertrauten und die subjektive Empfindung von einem Realismus seitens des Rezipienten. Erst in der Abgrenzung – also auch mit der Aufnahme einiger ihrer Elemente - dieser Norm kann sich ein anderer “wahrscheinlicherer“ Realismus, wie er in den Dogma-Filmen vorzufinden ist, produzieren. Das bedeutet, dass das gesamte Konzept der Dogma-Brüder in Frage gestellt werden kann, da einer der Hauptintentionen widersprochen wird. Sie widersetzen sich zwar dem Mainstream und der Genrefizierung von Hollywood, gebrauchen diese Elemente aber gleichzeitig, um ihr Ziel zu erreichen. In diesem Teil der Arbeit entsteht die Diskussion zur Differenzqualität, die im weiteren Verlauf der Argumentation einen differenzierten Blick ermöglichen soll.

Anhand der Kontextualisierung des dänischen Manifestes mit anderen filmischen Bewegungen wie der Nouvelle Vague und dem Neorealismus sowie dem Bezug zum Dokumentarfilm über das Direct Cinema wird dieses Ergebnis bestätigt. Nach diesen Vergleichen werden theoretische Konzepte aus der Literatur-, Theater- und Filmwissenschaft zur Unterstützung der These herangezogen. Der Begriff der Verfremdung (ostranenje/defamiliarization) aus dem Formalismus und dem Neoformalismus nach Sklovskij und Thompson, die „Ästhetik der Identität“ und die „Ästhetik der Gegenüberstellung“ von Lotman und die Differenzqualität von Tynjanow sind zentrale Konzepte, die hier ihre Anwendung finden. Abschließend wird der Verfremdungseffekt von Brecht auf das Dogma-Manifest angewandt. Die Synthese von Gegensätzen soll nochmals anhand von Filmbeispielen die Untersuchungsergebnisse festigen. Die letzte Betrachtung widmet sich dem Spiel mit dem Realismus, das als Selbstreflexivität gesehen werden kann. Mit einem Ausblick auf post-Dogma-Produktionen bringen wir die gesamte Untersuchung zum Abschluss. Eine Zusammenfassung sorgt für ein abschließendes Fazit dieser Arbeit.

Aus diesem Überblick lassen sich drei Schwerpunkte dieser Arbeit festlegen. Erstens geht es um die Klärung der Begriffe Realismus und Authentizität und wie diese auf das Dogma-Konzept anzuwenden sind. Die zweite Ebene beschäftigt sich mit der These: Dogma als Differenz. Hier ist eine Differenz zum klassischen Kino mit seinem klassischen Verständnis von Realismus gemeint. Die Abgrenzung zu anderen Differenz-Bewegungen wird ebenfalls berücksichtigt. Der letzte Schwerpunkt behandelt die Diskussion um eine Wiederholung oder eine Innovation des Realismus-Gedanken beim Dogma-Konzept.

Ziel der Arbeit ist es also herauszuarbeiten, in welcher Form der Realismus in den Dogma-Filmen dargestellt wird und welchen Einfluss er auf das generelle Verständnis von Realismus hat. Darüber hinaus wird die Differenzqualität die Notwendigkeit der Neuformulierung von Normen darstellen.

2. Begriffsklärung

2.1. Dogma (95)

Der Begriff des Dogmas als Titel der Bewegung wird aufgrund seiner spezifischen Bedeutung untersucht. Welchen Einfluss hat seine Bedeutung auf das Verständnis und welche Gründe gibt es für den religiösen Gehalt des gesamten Manifestes? Die Auswahl dieses Titels lässt auf den gesamten Hintergrund schließen und gibt vor der Analyse eine Erklärung und Begründung der Bewegung.

Im herkömmlichen Duden Fremdwörterbuch ist Dogma als „festgelegte, religiöse oder philosophische Lehrmeinung, als Glaubenssatz mit dem Anspruch unbedingter Geltung oder als ungeprüft hingenommene Behauptung“ definiert (Vg. Der große Duden 5, 1960). Aus dieser Definition heraus ist schon vorab beim Titel des Manifestes der Fokus auf die Religiösität gelegt. Auch die Verwendung des Titels VOW OF CHASTITY – das Keuschheitsgelübde – für die Regeln bezieht sich auf die christliche Religion. Der Gebrauch von Wörtern wie „Sünde“ und „Geständnisse“ sind mit dem Manifest verbunden und erzeugen ebenfalls eine Verbindung zu einem religiösen Hintergrund. Regisseure der ersten Dogma-Filme setzten nach den Dreharbeiten Geständnisse auf, die das Verletzen einiger Regeln beinhaltet. Dabei entschuldigen sie sich in aller Form für die Regelverstöße (siehe Anhang 9.5./9.6.).

Nicht nur das Manifest hat durch seine Begrifflichkeiten und Aufbereitung einen religiösen Beigeschmack. Auch einige früheren Werke von Triers sind von einem großen religiösen Hintergrund geprägt. Gertrud Koch hat in ihrem Artikel über die Religion bei Lars von Triers Werken die religiösen Motive, die vor allem bei Breaking the Waves (Dänemark, Schweden 1996, Lars von Trier) zu finden sind, „als Träger eines kinematographischen Stils“ beschrieben, „mit dem noch einmal die Macht des Glaubens an die ästhetische Illusion des Films beschworen wird.“ (Koch 2003, 167). In diesem Zitat spricht Koch ein weiteres Thema dieser Arbeit an – der Glaube an die ästhetische Illusion des Films. Dieser Illusion wollten sich die Dogma-Brüder entziehen. Mit einer Hintergrundinformation ergänzt sie die Argumentation der religiösen Motive:

„…, dass er vielleicht zum Katholizismus konvertiert ist, weil er gerne daran glaubt, dass Katholizismus heißt, zu glauben, dass sich etwas in Bildern zeigt.“ (Koch 2003, 168).

Ein weiterer religiöser Aspekt ergibt sich über die Zentralfiguren in Lars von Triers Filmen. Karen in Idioterne, aber auch Bess in Breaking the Waves haben ein kindliches Verhältnis zu Gott. Beide sind sehr gläubig und naiv und handeln oftmals aus ihrem Glauben heraus, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen. Im Hinblick auf den zu untersuchenden Film Idioterne ist das “idiotische“ Verhalten mit der gleichen Naivität eines religiösen Verhaltens gleichzusetzen.

Das Manifest und sein Regelwerk als ein religiöses Gebot zu sehen, lassen jedoch schnell die Ironie dieses Gebots erkennen. Aufgrund des Anspruches, dass die Dogma-Filme frei von klassischen Regeln sein sollen und die Narration sich nicht an einem etablierten Realismus orientieren sollte, ergibt sich durch die Befolgung der Dogma-Regeln ein Widerspruch. Dem Regelwerk einen religiösen Namen zu geben, überspitzt die gesamte Bedeutung. Das Manifest und die Regeln als Dogma, als Gebot und unreflektierten Glaubenssatz anzunehmen, lässt sich mit der Allgemeingültigkeit der klassischen Narration gleichsetzen. Somit wird den Regisseuren und den Rezipienten erneut eine Form der Inszenierung vorgelegt. Die Unstimmigkeit von Freiheit und Unfreiheit lässt auf eine Ironie des gesamten Manifestes schließen. Eine Begriffsklärung von Peter Schepelern, einer der ersten Wissenschaftler, der sich theoretisch mit der Dogma-Thematik auseinandersetzte, fasst den religiösen Charakter und seine Ironie zusammen:

„Ein Dogma ist ein Glaubenssatz, ein Gebot, das man nicht anzuzweifeln, sondern lediglich zu bezweifeln hat – das gilt für die Dogmatik von Religionen und anderen irrationalen Ideologien. Mit den Worten des Philosophen Feuerbach von 1838: >>Dogma bedeutet nichts anderes als ein ausdrückliches Verbot zu denken.<< Dieser Aspekt steckt als ironische Schicht in DOGMA 95, denn das Dogmatische und das Bahnbrechende stehen hier in direktem Widerstreit.“ (Schepelern 2001, 355)

Feuerbachs Erklärung eines Dogmas als Denkverbot lässt sich auf den Filmregisseur und auf den dogmatischen Gebrauch der Manifest-Regeln beziehen. Diese Regeln veranlassen den Regisseur zu Eingrenzungen. Jedoch bewirken diese im Gegenzug auch eine Freiheit des Denkens – eine Freiheit gegenüber den klassischen Regeln. Auf den Zuschauer bezogen, fordern diese dogmatischen Regeln einerseits ein Verbot zu denken, indem ein Muster vorgelegt wird, was mit der Passivität des Zuschauers in der klassischen Narration und des klassischen Kinos gleichzusetzen ist, andererseits einen Denkprozess, da sich die Regeln von den klassischen Regeln differenzieren. Hier entsteht eine Aktivität beim Zuschauer. Das bedeutet also, dass genau dieser Widerspruch von Freiheit und Unfreiheit zu einer Ironie wird.[2]

Dass ein Dogma ein Glaubenssatz mit dem Anspruch unbedingter Geltung ist und eine Behauptung, die ungeprüft hingenommen werden soll, machen den zweiten wichtigen Aspekt von Scheplerns Definition aus. Danach hat ein Dogma einen Wahrheitsanspruch, der ohne Zweifel hingenommen werden soll. Das kann uneingeschränkt auf die Regeln des Manifestes und den Realismus-Gehalt der Dogma-Filme bezogen werden. Ohne Zweifel soll das Gezeigte als authentisch und realistisch gesehen werden. Die Begrifflichkeit Dogma fordert also über ihre Definition schon einen Anspruch auf Realismus a priori.

2.2. Realität - Realismus - Authentizität - Fiktion

„Das Mikrophon in einem Baum zu hängen oder zwei Zahnstocher statt eines gigantischen technischen Apparats zu verwenden – das führt zu einer Art filmischer Wahrheit. Zumindest wird es richtiger. Wahrheit heißt, ein Gebiet zu durchsuchen, um etwas zu finden. Wenn man jedoch schon von vornherein weiß, wonach man sucht, ist es Manipulation. Vielleicht bedeutet Wahrheit, etwas zu finden, wonach man nicht sucht…“ (Lars von Trier im Interview mit Peter Ovig Knudsen. 2001, 165)

Bevor hier die Diskussion über Realität, Realismus und Authentizität im Hinblick auf die Dogma-Filme entsteht, müssen zunächst diese Begrifflichkeiten definiert werden. Bei der Diskussion von Film im Allgemeinen und auch bei Dogma-Filmen werden diese Begrifflichkeiten oftmals unreflektiert verwendet. In diesem Fall werden sie nicht voneinander abgegrenzt und erzeugen Unklarheiten. Neben der Abgrenzung der Begriffe untereinander findet auch eine Differenzierung von unterschiedlichen Realismus-Begriffen statt, die auf eine Differenzqualität schließen lässt. Diese wird im Folgenden als Grundlage für weitere Diskussionen dienen.

Seit der Seinsphilosophie des 20. Jahrhunderts wird die strikte Gegenüberstellung zwischen menschlicher Wahrnehmung und Realität in Frage gestellt. Die Theorien der Filmgeschichte beschäftigen sich mit den Themen der Illusion in der menschliche Wahrnehmung, der Realität und inwieweit diese miteinander zu vereinbaren sind.

Die Realität ist also die Wirklichkeit, die tatsächliche Lage, eine Gegebenheit. Wenn wir von der Realität sprechen, so meinen wir das, was uns umgibt, beziehungsweise die subjektive Wahrnehmung von dem, was wir von unserer Welt realisieren. Realitäten können demnach im Hinblick auf den Film nicht reproduziert werden, denn Realitäten befinden sich im Hier und Jetzt und können somit nicht nachgestellt werden. Auch das Abfilmen von Realitäten aus dem Hier und Jetzt verliert durch die wiederholte Projektion auf der Leinwand seine Echtheit.

Der Realismus hingegen meint den Wirklichkeitssinn oder eine wirklichkeitsnahe Einstellung. Aus philosophischer Betrachtung heraus, ist er ein Standpunkt, „der eine außerhalb unseres Bewusstseins liegende Wirklichkeit annimmt, zu deren Erkenntnis wir durch Wahrnehmung und Denken kommen“ (Vg. Der große Duden 5, 1960). Der Realismus beruht also auf der individuellen Wahrnehmung. Im Hinblick auf den Film ist der Realismus eine „Wirklichkeit nachahmende, mit der Wirklichkeit übereinstimmende künstlerische Darstellung“ (Vg. Der große Duden 5, 1960), Repräsentation oder Beobachtung. Narrations- und Sehkonventionen haben die Definition von Realismus geprägt, und daher ist festzuhalten, dass etwas als “realistisch“ bezeichnet wird, was der Ansicht der Mehrheit, dem Mainstream, entspricht und nicht immer mit der „Wirklichkeit“ (Realität) zusammenhängt. Eine völlig künstlich inszenierte Filmwelt kann für den Zuschauer gänzlich realistisch wirken, obwohl sie nicht mit der Realität zu vergleichen ist. Das ist mit der von Metz als „realistisch“ und „irrealistischen“ Darstellung gemeint (Vg. Metz 1972, 20). Die Vorstellung, was für das Publikum als realistisch erscheint, ist ein immer veränderbarer Prozess. Aufgrund dieser Definitionen von Realität und Realismus haben wir es in Dogma-Filmen oder Filmen im Allgemeinen nicht mit einer Darstellung von Realität zu tun. Der Begriff des Realismus muss hier benutzt werden. In Idioterne kann man jedoch innerhalb der Filmerzählung auch “Realitäten“ entdecken. Hier sind nicht die “realen“ Realitäten gemeint, sondern diegetische, inszenierte und non-diegetische “Realitäten“ innerhalb der Inszenierung. Diese drei Ebenen von Realitäten erzeugen einen filmischen Realismus. Die erste ist die diegetische Realität, die den privaten Hintergrund der Figuren repräsentiert. Die zweite Ebene der Realität ist die Inszenierung der “Idioten-Welt“. Die Interviews zeigen die dritte Ebene einer Realität, die die Figuren außerhalb der gesamten Inszenierung zeigt. Darüber hinaus schaffen sie eine Unklarheit über die Trennung von filmischer und außerfilmischer Realität. Durch die parallele Verwendung von unterschiedlichen Realitäten verwischen die Grenzen der verschiedenen “Welten“. Die drei Ebenen der Realitäten ergeben einen Realismus, in dem die Inszenierung in einer Inszenierung präsentiert wird.

Einer der wichtigsten Aspekte zur Klärung des Begriffes des Realismus ist die Wahrnehmung. Der Zuschauer, also der Rezipient mit seiner individuellen Empfindung, ist notwendig, um einen Realismus überhaupt zu erkennen und zu bewerten. Denn Realismus ist nicht per se auf der Leinwand vorhanden. Es ist ein erfahrbarer Prozess. Daher ist eine Notwendigkeit der Rezeption zu verzeichnen.

Peter Wuss spricht im Hinblick auf die Dogma-Filme und die Wahrnehmung von Realismus von einem „Realitäts-Effekt“, der ebenfalls dem Rezipienten eine entscheidende Rolle zuteilt. Seine These rückt Dogma über den Dokumentarismus ins Licht der Fiktionalität.

„Trat der Realitäts-Effekt um die Jahrhundertmitte gleichsam dominant und pur auf, so dass er mit den anderen Stilkomponenten zu einer unauflöslichen, homogenen Einheit verschmolz, die dafür sorgte, dass die Filme der erwähnten Richtungen in ihren Gestaltungs- und Wirkungsweisen nahe den Dokumentarfilm rückten, so war jetzt von dem früheren Dokumentarismus kaum mehr etwas spürbar. Die Filme aus Dänemark stellten eher ihre Fiktionalität und Künstlichkeit aus.“ (Wuss 2000, 103)

Er bezeichnet die Dogma-Filme als Mischung aus einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad, das die Detailbeobachtung der Lebenswelt meint, und einem hohen Unwahrscheinlichkeitsgrad, eine offene Fiktion künstlicher Welten (Vg. Wuss 2000, 103). Daraus folgt seiner Meinung nach eine Brechung, eine Modifizierung der „Authentie-Eindrücke“[3]. Laut Wuss hängt die Authentizität im Film nicht vom Dargestellten, sondern vor allem von der Interpretation des Rezipienten ab. Hier greift er auf eine Interpretation von Rolf Richter, der sich auf Dziga Vertov bezieht, zurück.

[Dergestalt] ist die Authentizität das Ergebnis unserer Arbeit innerhalb des Kunsterlebnisses, das heißt, wir formulieren unsere eigene Beziehung zur im Film dargestellten Welt als – wie wir meinen – eine Beziehung zur wirklichen Welt.“ (ibid, 110)

Mit der Definition von Wuss werden zwei neue Begriffe genannt - Fiktion und Authentizität, die im Folgenden näher betrachtet werden. Der Begriff der Fiktion bezieht sich auf die „Erdichtung, Erfindung, Annahme oder Unterstellung einer Darstellung“ (Vg. Der große Duden 5, 1960). Auf den Film bezogen beschreibt die Fiktion die Geschichte, die erzählt wird. Es geht hier nicht um das “Wie“ einer Darstellung, sondern um das, “was“ dargestellt wird und um die Tatsache, dass es um eine konstruierte Geschichte geht. Demzufolge muss man zwischen dem Inhalt und der Form von Fiktion und Realismus unterscheiden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Fiktion mit dem Realismus nicht vereinbar wäre. Denn eine fiktive Geschichte kann durchaus realistische Elemente enthalten, die in ihrem individuellen Kontext aber veränderbar sind.

Authentizität ist als „Zuverlässigkeit“ und „Glaubwürdigkeit“ zu bezeichnen. Sie beschreibt die „Echtheit“ eines Objekts oder einer Darstellung, die als Original angesehen wird. In diesem Sinne ist die Authentizität vom Realismus zu unterscheiden. Die Authentizität meint die direkte physische Echtheit eines Objekts oder einer Situation aus der Realität. Wohingegen der Realismus sich eher auf die Wirkung von realistischen Momenten stützt und oftmals nicht mit der Realität übereinstimmt. Aus dieser Argumentation heraus kann von einer Authentizität in den Dogma-Filmen gesprochen werden. Die Übernahme von “echten“ Requisiten und Originalschauplätzen bewirken einen Authentizitätscharakter, der eine gewisse Realität repräsentiert.

„Beides, der Verzicht auf künstlerische Verschönerung und das Zulassen von Zufällen, bewirken einen Zugewinn an Authentizität.“ (Lorenz 2003, 63)

Durch die Veränderung des Kontextes, in dem die Gegenstände stehen, und durch die Inszenierung einer Geschichte um diese Realitäten herum, entsteht wiederum ein Realismus, der durch die menschliche Wahrnehmung produziert wird.

Betrachtet man jedoch die Verwendung des Begriffs in der Filmtheorie und Filmanalyse, so erkennt man, dass der Begriff der Authentizität an die Stelle des Realismus gesetzt wird. Es scheint, als sei der Begriff ein Mode-Wort beziehungsweise ein geschicktes Umgehen der vorherigen Diskussion zur Realität in Dogma-Filmen. Der Begriff der Authentizität beschreibt, wie auch der Begriff des Realismus, die glaubhafte Erscheinung der gesamten Filmerzählung und -darstellung[4]. Bei diesem Prozess ist erneut die Wahrnehmung des Rezipienten von großer Bedeutung.

„Authentizität ist ein Ereignis der filmischen Bearbeitung. Die Glaubwürdigkeit eines dargestellten Ereignisses ist damit abhängig von der Wirkung filmischer Strategien im Augenblick der Rezeption. Die Authentizität liegt gleichermaßen in der formalen Gestaltung wie der Rezeption begründet.“ (Hattendorf 1994, 67)

Eine gewisse Authentizität der Dinge und Situationen wird im Film übernommen und oszilliert zu einem Realismus, der wiederum, laut unserer Definition, oftmals wenig mit der Realität zu tun hat. Daher wird die Konstruktion von Realitätseffekten häufig mit den Mitteln des Irrealen[5], der Inszenierung, erzielt. Diese zwei unterschiedlichen Definitionen, die einerseits die Authentizität mit einer Realität oder mit Realitätseffekten gleichsetzen, sie andererseits als individuellen Wahrnehmungsmoment eines Realismus darstellen, lassen auf einen Widerspruch oder auf eine Veränderung der Begriffsdeutung schließen.

Eine andere Betrachtung des Begriffes erfolgt durch die Existenzphilosophie der Moderne – Authentizität als Ausgleich des „Eigentlichen“. Helmut Lethen führt hier die Ebenen der Authentizität ein, die in allen Formen des sozialen Lebens vorhanden seien.

„Dabei wird seit dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts das Wort <<authentisch>> oft zur Kennzeichnung der im Gegensatz zur modernen Gesellschaft in <<primitiven>> Kulturen noch bewahrten direkten und persönlichen Kontakte gebraucht.“ (Lethen 1996, 210)

Der Begriff des Authentischen wird im Kontrast und in Gegenüberstellung zum Bewährten, der Mehrheit gebraucht und definiert, was allein aus der Begrifflichkeit auf eine Differenz schließen lässt. Betrachtet man den Versuch der Abgrenzung der Begrifflichkeiten Realismus und Authentizität, so erkennt man ein Paradoxon, das sich im Manifest und in der Umsetzung dessen widerspiegelt. Das paradoxe Moment erscheint in der Form eines irrealen Realismus, der durch seine Illusionshaftigkeit authentisch wirkt. Die Authentizität bekommt eine Künstlichkeit durch ihre Illusion. Die wirkende Authentizität in den Dogma-Filmen erzeugt durch diese Definition also nur einen Schein von “realem“ Realismus. Gerade diese Illusion lässt die Dogma-Filme im Hinblick auf ihre Authentizität kritisch betrachten.

2.3. Realismus- filmtheoretische Grundlagen

„Finally, different film-theoretical positions argue in a wide variety of ways that ‚realism’ is not merely a question of aesthetic norms or of a certain view upon a specific area of the social world, but also arises from an experience of visual representations as ‘real’. This, realism might be understood, first and formost, as a specific relationship between media texts and their viewers." (Jerslev 2002, 8f)

Die Beschäftigung mit filmtheoretischen Grundlagen wird die unterschiedlichen Ebenen eines Realismus verdeutlichen. Dieser Aspekt markiert erneut die Differenz zu einem klassischen Realismus, aber auch die Differenz zu anderen Künsten. Darüber hinaus werden Voraussetzungen für das Verständnis von einem Dogma-Realismus gesetzt.

Für das gewöhnliche Mainstream-Publikum wird der Realismus im Film mit einer Plausibilität bezüglich der Narration und des Stils gleichgesetzt. Die Charakteristika orientierten sich nach einem psychologischen Realismus (eine Motivation der Protagonisten) und einer Wahrscheinlichkeit der Ereignisse. Dieser Realismus ist auch als Realismus der Illusion im klassischen Film zu bezeichnen. Oftmals wird die Darstellung mit Erfahrungen aus dem Alltag verglichen. In der Theorie und der Analyse ist der Begriff jedoch detaillierter zu betrachten. Hierzu werfen wir einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung in der Filmtheorie und -praxis.

Es gilt zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden. Erstens: Der Realismus des Mediums Film als Reproduktion der Wirklichkeit, zweitens: Der Realismus im Film, die realistische Darstellung der Erzählung.

Die Diskussion eines grundlegenden Realismus – Film als Reproduktion der Wirklichkeit - lässt sich in der gesamten Filmgeschichte und Theorie beobachten. Christian Metz zum Beispiel spricht über den generellen Realitätseindruck im Film.

„…vermittelt uns der Film das Gefühl, direkt an einem gewissermaßen realen Ereignis teilzuhaben (…). Der Film löst beim Zuschauer einen Prozess der „Partizipation“ aus, der in gleicher Weise die Wahrnehmung und die Gefühle betrifft (…), der Film trifft von vornherein auf eine bestimmte Form von Illusionsbereitschaft…“ (Metz 1972, 21)

Metz teilt sogar den Film in „realistische“ und „irrealistische“ Filmthemen ein. Das „Irrealistische“ wird deshalb von uns plausibel aufgenommen, da es den „Schein eines tatsächlich vollziehenden Ereignisses“ macht (Vg. Ibid, 21).

Metz macht hier den Vergleich zu anderen Künsten auf, vor allem den zur Fotografie. Denn auch die Fotografie bewirkt einen Realitätseindruck.

„aber die Realitätswirkung der filmischen Manifestation ist Koeffizient beider „Genres“, sie gibt dem ersten seine Vertrautheit und seine Macht, die Gefühle anzusprechen, dem zweiten seine Macht der Verfremdung, die so förderlich für die Einbildungskraft ist.“ (ibid, 22)

Der Unterschied zur Fotografie liegt beim Film in der Bewegung der Bilder.

„Die Verbindung zwischen der Realität der Bewegung und der Erscheinung der Formen erzeugt das Gefühl konkreten Lebens und den Eindruck einer objektiven Realität.“ (ibid, 21; nach Edgar Morin)

Durch die Illusion des „Da-sein“ und nicht des „Da-gewesenen“ wird ein überzeugender Realitätseindruck erzeugt. Im Gegensatz zum Theater, das durch die reale Erscheinung der Bühne und der Figuren eine Hemmung von einer Inszenierung bedeutet, wird beim Film ein “echter“ Eindruck erzeugt, eine Illusion von Realitätseindruck, der “realer“ als im Theater erscheint (Vg. ibid, 22).

Zu Beginn der Kinematographie stellten schon die Filmpioniere Lumière und Méliès in der Praxis die zwei Ebenen des Mediums Film gegenüber- den Realismus und die künstlerische Fantasie. Die filmtheoretische Debatte über die Unterscheidung von fiktionalen und dokumentarischen Aufnahmen wurde dann in den 10er Jahren weitergeführt. Hier ging es um die Frage, ob der Film als bloße fotomechanische Reproduktion der Wirklichkeit oder als eigene Kunstform mit einer neuen Form der ästhetischen Wahrnehmung zu sehen war. Im weiteren Verlauf der filmtheoretischen Auseinandersetzung beschäftigte man sich aber immer mehr mit der Konstruktion von Realismus, von realistischen Darstellungen und Erzählungen. Hier geht es um die ästhetische und inhaltliche Umsetzung von einem Verständnis von Realismus und nicht um einen realistischen dokumentarischen Charakter, der durch Technik erzeugt wird.

Die Bedeutung des Begriffs des Realismus muss generell von der geschichtlichen und der räumlichen Spezifik abhängig gemacht werden. In verschiedenen Kulturen und der dazugehörigen zeitlichen Einordnung sind unterschiedliche Auffassungen von Realismus vorhanden. Wie sich in der Definition des Begriffes herausgestellt hat, bezieht sich der Realismus auf die subjektive Wahrnehmung und Empfindung des Rezipienten. Daher ist ein Bezug zum Alltag herzustellen, der den Begriff immer wieder neu definiert. Aus diesem Grund ist der Begriff des Realismus ein wandelbarer, sich verändernder Begriff. Im Hinblick auf den Hollywood-Film und den Hollywood-Realismus gilt dieses laut Hallam und Marshment nicht.

„The Hollywood film industry, with it’s assumption of ‚universal’ criteria of what constitutes reality – powerfully reinforced by the worldwide appeal of it’s products (…) – tends to obscure this relational view of realism.“ (Hallam/Marshment 2000, xi)

Also hängt die Definition von Realismus im Hinblick auf den Film von lokalen Gegebenheiten, von dem, was vertraut ist und dem, was als “anders” definiert wird, sowie von den Erfahrungen des Zuschauers mit dem Mainstream-Film ab. Diese ist auch als eine realistische Ästhetik zu bezeichnen, die zu einer Konvention geworden ist. Da sich die Hollywood-Narration als Konvention etabliert hat, kann man sie deshalb als Standard und für die meisten Rezipienten als Norm bezeichnen. Hier geht es nicht um eine besonders wahrheitsgetreue Wiedergabe der Realität, sondern um das “Erfahrbarmachen“ einer realistischen Vorstellung. Daher ist der Realismus des Mainstream-Films ein „Realismus des Illusionismus“[6] und nicht immer mit der Realität zu vergleichen.

„So the film of illusion is no tone that encourages false beliefs about the presence or reality of fictional events. Rather, it is one that represents or encourages false beliefs about the world – and given the anti-bourgeois rhetoric, it seems to be false moral and political beliefs in particular that the manifesto has in mind. Further, the film of illusion aims at producing emotions which are unjustified and sentimental, in that they rest on such false beliefs.” (Gaut 2003, 90)

Erste formalistische Theorien von André Bazin in den 50er Jahren änderten die klassischen Ansichten. Bazin schuf eine Trennung von Regisseuren der Nachkriegszeit in zwei Kategorien: die, die an das Bild und die, die an die Realität glaubten. Auch diese Unterteilung ist in der Differenz zum klassischen Kino mit einem narrativen Realismus zu sehen. Sein Verständnis von Realismus bezieht sich mehr auf die Repräsentation der sozialen und psychologischen Erfahrungen des Alltags. Bazins Theorie des Realismus schließt ebenfalls an die Verbindung zum Zuschauer an, die auch im Dogma-Konzept eine große Rolle spielt.

„Bazin’s new form of realism was intended to give the spectators an experience in cinema, that was closer to our everyday perception of reality, and where the viewer would have to be more active in the interpretation of story and meaning than it was normally the case in genre films based on narrative realism.“ (ibid, 124)

Die Entwicklung dieses theoretischen Konstrukts ging mit dem italienischen Neorealismus einher. Der Realismus wurde nicht mehr klassisch über den Schnitt, der Montage erzeugt, sondern über die Aktivität des Zuschauers.

„…, sondern der Zuschauer selbst ist gezwungen, innerhalb des Prismas [Parallelepipeds] kontinuierliche Realität auf der Leinwand als Auswahlfläche das jeweilige dramatische Spektrum der Szene zusammenzustellen.” (Bazin 1075, 143)

Somit ergibt sich aus der realistischen Filmtheorie nach Bazin eine Ideologie geprägte Konstruktion von Realismus, die sich über die Freiheit und Autonomie des Rezipienten äußert. Diese Gegenbewegung baut auf einen selbst erstellten und ernannten Prototyp des klassischen Films auf. Bazin setzt also sein Verständnis von Realismus in Differenz zum klassischen Gebrauch von Realismus.

Neoformalisten wie Bordwell und Thompson übernehmen Bazins formalistische Ansichten und führen dieses Verständnis von Realismus in Differenz weiter. Sie sind der Überzeugung, dass ein Realismus nur in der Differenz zu gewohnten und konventionellen Darstellungsformen erreicht werden kann.[7]

„Defamiliarisation is the name given by the formalists to this process.“ (Hallam/Marshment 2000, 14)

Für Kristin Thompson sind vor allem die Motivationen[8] zentral, die einen Realismus im Film ausmachen. Diese Motivationen äußern sich in einer Verfremdung (defamiliarization) des klassischen Realismus. Die Motivationen können:

- kompositorisch (eine Verfremdung der narrativen Kausalität),
- künstlerisch (eine Verfremdung der technischen und physischen Mittel),
- transtextuell (eine Verfremdung der Konventionen aus einem bestimmten Genre),
- oder realistisch (eine Verfremdung unserer Vorstellung von Realität)

auftreten.

Eine andere neoformalistische Theorie baute Ib Bondebjerg, der viele Studien zum Realismus und der Ästhetik des skandinavischen New-Wave-Kinos erstellte, auf. Er unterteilt, ähnlich wie Bordwell, den Prototyp in drei ästhetisch verschiedene Formen:

- „narrative realism“, der mit dem Mainstream Genre und der klassischen Narration gleichzusetzen ist,
- „phenomenological realism“, der im Neorealismus und der Nouvelle Vague entwickelt wurde und der auch als Bordwells „art cinema narration“ bezeichnet werden kann
- und der „documentary realism“, der einen dokumentarischen Stil meint (Vg. Bondebjerg 2000, 119).

In diesem kurzen Abriss zu Realismustheorien in der Filmgeschichte lässt sich ein Hauptaspekt der Arbeit herauskristallisieren: die Verwendung der Differenzqualität. Erst der Vergleich mit Konventionellem und Bekanntem ermöglicht eine Abgrenzung des hier zu untersuchenden neuen Realismusbegriffs der Dogma-Bewegung. Der von Bordwell und Thompsons definierte klassische oder „realistische“ Stil schließt die Analyse der Hollywood-Industrie zwischen den 10er und 60er Jahren ein und ist als Abgrenzungsgrundlage für diese Untersuchung wichtig. Ebenso soll auf die von Bordwell und Thopmson klassifizierte „art-cinema-narration“ eingegangen werden, die Ähnlichkeiten zum Dogma-Manifest aufweist.

Mit der direkten Betrachtung des Dogma-Konzepts und der Realismus-Thematik werden die klassischen Diskussionen und die Theorien zum Thema Realismus im Film im Hinblick auf die technischen Veränderungen ab den 90er Jahren jedoch völlig in Frage gestellt. Die digitalen Aufnahmetechnologien und die Computer generierten Bilder bewirken eine Krise der klassischen und post-klassischen Repräsentation von Realismus. Nicht nur die technisch-ästhetischen Elemente, sondern auch das Verständnis von einem universal geltenden Realismus haben sich verändert.

Die Bewegungen der Filmgeschichte in der Nachkriegszeit sind als Protest gegen ein vorgefertigtes System zu verstehen. Hier wollte man nicht nur gegen die Hollywoodmaschinerie, sondern auch gegen bestimmte Ideologien kämpfen. Nach mehrmaligen Scheitern vieler Bewegungen steht das Kino bei Erstellung des Dogma-Manifestes erneut vor einer Krise – einer Krise der Repräsentation und des Erzählens. Dogma 95 strebt erneut, aber in radikalerer Weise als die Nouvelle Vague, eine Bewegung der Differenz an. Daraus ergeben sich mit der vorher erwähnten filmgeschichtlichen Auseinandersetzung zum Realismus im Film folgende Fragestellungen:

Mit welchem Verständnis wird der Realismus in den Dogma-Filmen präsentiert? Welche technischen und inhaltlichen Veränderungen bewirken einen Realismus der Differenz? Welche Bedeutung hat der Realismus für das Dogma-Projekt und seinen Initiatoren? Welche Veränderungen ergeben sich in der Rezeption und der Aufnahme unkonventioneller Methoden? Bewirkt diese Bewegung eine Veränderung in der Wahrnehmung von Realismus? Wird dadurch die Illusion der klassischen Narration und des klassischen Realismus in Frage gestellt?

3. Dogma 95 und die Umsetzung von Realismus und Authentizität – Analyse von Filmbeispielen

Bevor die einzelnen Kategorien in den beiden Filmen analysiert werden, geben die kurzen Zusammenfassungen und die Problemstellung einen ersten Eindruck des Inhalts und der Thematik. Zentrale Sequenzen werden beschrieben und erste Ergebnisse zusammengetragen, die zu einer detaillierten Analyse führen.

Inhalt: Dogme#1: Festen

Es ist mitten im dänischen Sommer. Der Gutsbesitzer Helge Klingenfeldt hat anlässlich seines sechzigsten Geburtstags zu einem großen Fest eingeladen. In seiner Festrede erzählt der älteste Sohn Christian davon, wie der Vater ihn und seine Zwillingsschwester Linda, die sich inzwischen das Leben genommen hat, als Kinder missbraucht hat. Aber niemand will Christians Rede ernst nehmen. Man hält ihn für verrückt, und das Fest geht seinen Gang. Erst nach mehreren Anläufen und der Präsentation des Abschiedsbriefes der Zwillingsschwester, den Christians andere Schwester Helene findet, gelingt es Christian, die Gäste davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sagt. Neben dieser Haupthandlung entwickeln sich weitere Konflikte zwischen den anderen Familienmitgliedern, die die gesamte Familiensituation entharmonisieren.

Inhalt: Dogme#1: Idioterne

Eine Gruppe junger Frauen und Männer kehrt der etablierten Gesellschaft den Rücken; sie wollen gemeinsam versuchen, ihren „inneren Idioten“ ausfindig zu machen. Gemeinsam leben sie in einer Art Kommune in einer alten, zum Verkauf stehenden Villa. Ihr Leben dort wechselt zwischen ihren natürlichen Charakteren und den Figuren, die sie zu Idioten werden lassen. Zudem provozieren sie ihre Umgebung, indem sie sich als Spastiker in der Öffentlichkeit gebärden. Doch während dieses „Herumspassen“ sich für die meisten von ihnen letztlich als harmloses Rollenspiel erweist, zieht die sensible Karen daraus Konsequenzen, die ihr Leben verändern. Müller formuliert das Ziel der Gruppe sehr treffend:

„Dennoch verfolgen sie mit ihrem Experiment auch Ziele, die ihren Horizont und ihre Persönlichkeit erweitern sollen. So wollen sie „die Distraktionen, die übertriebenen Gefühle, die Aggression, die Neugier und schließlich die gänzlich hemmungslose, egomane und primitive Sexualität“ in einer Art Suche nach den Ursprüngen ausleben und den ‚Urmenschen’ in sich entdecken.“ (Müller 2002, 245)

3.1. Problemstellung

Anhand von jeweils zwei Filmsequenzen der beiden ausgewählten Filme sollen erste Erkenntnisse, die Problemstellung und die Fragestellung der Untersuchung aufgezeigt werden. Hierzu gilt es, die ausgewählten Szenen zu beschreiben und erste Anzeichen des Realismus oder der Authentizität herauszufiltern. Darüber hinaus werden die Dogma-Merkmale der klassischen Narration gegenübergestellt. Die folgenden Sequenzen sind in zwei Kategorien aufzuteilen. Zum einen sind sie Beispiele für die formale, technische Umsetzung des Films, die einen dokumentarischen “realistischen“ Effekt erzeugt. Zum anderen stellen sie die filmische Thematisierung von Fantasie, “Realität“ oder Realismus (Wirklichkeit) und Wahrheitsfindung dar. Das funktioniert einerseits über die außerfilmische thematische Behandlung dieser Begrifflichkeiten, andererseits über die diegetische Diskussion dieser Thematiken seitens der Filmfiguren.

Einer der prägnantesten Szenen in Festen im Hinblick auf den formalen Realismus, der gleichzeitig auch in Differenz zum klassischen Realismus gesehen wird, ist die Sequenz 5: Paare auf den Zimmern[9]. Diese Sequenz ist gleichzeitig der erste Höhepunkt, der schon, entgegen der klassischen Narration, am Ende des ersten Akts zu verzeichnen ist. Sie stellt sich als Parallelmontage aus drei unterschiedlichen Handlungen dar, die die drei Geschwister Christian, Helene und Mikael miteinander verbinden. Man beobachtet Christian und Pia bei einer Unterhaltung auf seinem Hotelzimmer, anschließend nimmt Pia dort ein Bad. Helene besichtigt das Zimmer der verstorbenen Schwester Linda. (Hier stellt sich heraus, dass Linda sich in der Badewanne das Leben genommen hat.) Diese Handlung wird mit dem Spiel „Auf der Suche“ weitergeführt. Es werden Zeichen in dem Bade- und Schlafzimmer gesucht, die ein Versteck verraten sollen. Helene wird bei der Suche von einem Angestellten des Hotels unterstützt. Er nimmt zum Teil die Positionen der in der Badewanne liegenden Schwester ein. Die dritte Handlung der Parallelmontage zeigt Mikael und seine Frau Mette, wie sie sich durch einen Versöhnungs-Geschlechtsakt wieder bei dem anderen entschuldigen. Dieser Szene geht ein Streit des Paares wegen einer Belanglosigkeit voraus. Höhepunkt dieser intensiven und äußerst rasanten Montage ist die Entdeckung eines Abschiedsbriefes von Helenes toter Schwester. Nachdem Helene den Brief gelesen hat und zu weinen beginnt, versucht sie von der Situation der Trauer und Verzweiflung abzulenken, indem sie mit einem Schrei den Angestellten erschreckt. Nach dieser Einstellung sehen wir Mikael, der in der Dusche ausrutscht, Christian, der im schlafenden Zustand auf einem Sessel ein Glas Wasser fallen lässt und Pia, die aus der Badewanne auftaucht, nachdem sie ihr Gesicht für längere Zeit unter Wasser hielt. Die einzelnen Einstellungen dauern nur wenige Sekunden und erzeugen Momente der Spannung und des Schreckens. Die Spannung der Parallelmontage wird durch das häufige Wechseln der einzelnen Handlungsebenen gesteigert. Aus dem rasanten Schnitt entsteht ein Spannungs- und Erlösungseffekt, der drei Handlungen miteinander verknüpft. Durch das Wissen des Zuschauers über den Selbstmord der Schwester Linda in der Badewanne, erzeugt diese Montage auf verschiedene Ebenen ein Nachempfinden dieser Situationen. Die Reaktionen der einzelnen Körper erinnern an den Tod der Schwester. Christians Körper, der eingeschlafen schlaff im Sessel hängt, Mikael, der in der Dusche fällt und Pia, die hastig nach Luft ringt, als sie ihren Kopf aus der Wanne hebt. Das in die drei Szenen einbezogene Element des Wassers wird im Vorspann durch die Wasseroberfläche dem Zuschauer als Grundlage erneut deutlich gemacht.

Nach dieser Beschreibung stellt sich die Frage nach einer möglichen Widersprüchlichkeit der Parallelmontage und der Regeln des Manifestes. Die Regeln sprechen zwar kein direktes Verbot gegen eine Parallelmontage aus, die künstliche Aneinanderreihung zeitlich nicht zwingend zusammengehöriger Sequenzen aber führt zu einem konstruierten Spannungsaufbau und einem assoziativen Gedanken beim Zuschauer, der Selbstmord der Schwester. Was sich vor allem in der Handlung beziehungsweise in der Kontinuität dieser Montage zeigt, ist die Verbindung, aber auch Differenz zur klassischen Erzählung. Mittels der klassischen Parallelmontage, die durch das Zusammenlaufen verschiedener Handlungen einen Höhepunkt erreicht, wird einerseits ein Höhepunkt erzeugt, andererseits eine Parallelität der Handlungen suggeriert. Denn im Grunde gibt es keinerlei Anzeichen für die zeitliche Parallelität und inhaltliche Bezugnahme dieser Darstellungen. Nicht nur die wackelige und oftmals unkoordinierte Handkamera ist hier vorzufinden, sondern auch die häufigen Nahaufnahmen von Gesichtern der Figuren. Schnelle Schnitte innerhalb und zwischen den einzelnen Handlungen prägen die Montage. In allen drei Handlungssträngen ist der Effekt einer Überwachungskamera zu verzeichnen. Die Kamera befindet sich an der Decke des Hotelzimmers von Christian, an der Decke des Flurs und an Wänden in der Nähe der Zimmerdecke von Mette und Mikael. Die Kamera übernimmt hier ganz deutlich eine beobachtende Instanz. Somit fühlt sich der Betrachter als eine Art Voyeur, vor allem bei dem Geschlechtsakt zwischen Mette und Mikael.

Stilmittel des klassischen Handwerkes werden gebraucht, um auf andere Weise eine Illusion von Realismus zu erzeugen, die aber nichts mit dem klassischen Realismus gemein hat. Dieser Effekt wird durch den dokumentarischen formalen Realismus unterstützt. Demnach ist allein schon durch eine erste Betrachtung eine Entgegnung der klassischen Narration und der Kameraästhetik zu erkennen.

Als Beispiel für den formalen, dokumentarischen Realismus in Idioterne soll der establishing shot näher betrachtet werden. Bevor Karen im Restaurant sitzt, beginnt der Film mit zwei sehr kurzen Einstellungen, die Karen auf einem Rummelplatz an einem Glücksrad und in einer Kutsche sitzend durch einen Park fahrend zeigen. Im Restaurant angekommen, bestellt sie etwas zu Essen. Schon nach sehr kurzer Zeit wird die Aufmerksamkeit auf die im Raum speisenden Behinderten gelenkt. Susanna, die hier als Betreuerin fungiert, hat große Mühe, die beiden Behinderten unter Kontrolle zu halten. Stoffer wendet sich Karen zu, die von ihm fasziniert zu sein scheint. Nachdem er ihre Hand nicht mehr loslässt, schlägt Karen das Verlassen des Restaurants vor. Draußen vor einem Taxi angekommen, in das Karen grundlos mit einsteigt, stellt sich die Situation als fake heraus. Von einer Sekunde auf die andere wechseln die Figuren in ihre “realen“ diegetischen Charaktere und beginnen zu lachen. In diesem Moment wird auch Karen klar, dass sie sich in einer Situation befindet, die sie noch nicht vollkommen einschätzen kann. Verwirrende Blicke und die Zurückhaltung von Äußerungen sind Anzeichen dafür. Entgegen der klassischen Narration ist keine klassische Exposition vorhanden. Weder Karen noch die anderen Figuren werden eingeführt. Wir beobachten sofort eine für die gesamte Handlung wichtige Szene. Das gespielte Verhalten soll dramaturgisch nicht unsichtbar gemacht werden und entlarvt sich in den ersten fünf Minuten. Nach dieser Sequenz, die etwa eine Länge von fünf Minuten hat, ist das erste Interview in die Handlung geschnitten.[10] Sie zeigt die Befragung einiger Film-Figuren, die Karens Eintreten in die Gruppe kommentieren. Die wackelige Handkamera und die Nahaufnahmen sowie die Befragungssequenzen erzeugen einen dokumentarischen, authentischen Charakter. Sie wirken wie ein bewertender Rückblick auf ein Experiment.

Die Frage, die sich aus diesen Beobachtungen stellt, ist, wieso wir diese Art von Inszenierung als authentisch empfinden. Allein die Umsetzung des Regelwerkes des Dogma-Manifestes, welches sich primär auf technische Begebenheiten konzentriert, reicht nicht für einen innovativen Realismus im Film aus. Oder gibt das Dogma-Konzept nur vor, durch das Manifest und das Regelwerk einen “neuen“ Realismus im Film geschaffen zu haben? Dieser Frage soll anhand der detaillierten Analyse einzelner Elemente in weiteren Sequenzen nachgegangen werden.

Um die These einer Authentizität und eines neuen Realismus anhand von weiteren Filmbeispielen zu festigen, sollen im Folgenden Sequenzen für die inhaltliche Ebene von Realismus-Darstellungen beziehungsweise für die diegetische Diskussion von Realität und Fiktion genannt werden. In Sequenz 8 von Festen: „Christians erste Rede“, wird die erste Rede von Christian auf der Geburtstagsfeier seines Vaters gezeigt. Diese Rede beschreibt er selbst als Wahrheitsrede mit dem Titel: „Wenn Papa badete“. Hier trägt er in einer sehr charmanten, aber zynischen Art und Weise den eigenen Missbrauch und den seiner Schwester Linda durch seinen Vater vor. Nicht nur die Gäste im Film, sondern auch die Zuschauer sind irritiert und stellen sich die Frage nach der Glaubhaftigkeit dieser Geschichte. Ist es die Wahrheit oder nur der Anschein einer authentischen Geschichte, die Christian uns hier präsentiert? Im weiteren Verlauf, nach der zweiten Rede von Christian, in der er nochmals versucht, die „Wahrheit“[11] darzustellen, hält die Mutter Else eine Rede. Die Rede gliedert sich in zwei Aspekte. Im ersten Teil lobt sie ihren Mann und dankt ihm für die vielen schönen Jahre und im zweiten Teil geht sie liebevoll, aber auch mit negativen Untertönen auf ihre Kinder ein. Christian beschreibt sie als jemanden, der schon immer gut Geschichten erzählen konnte. Sie berichtet von einem imaginären Freund namens „Snoots“ aus Christians Kindheit, mit dem er gesprochen und Aktionen veranstaltet hat. Sie wirft ihm mit dieser Hintergrundgeschichte sein Versagen beim Unterscheiden von “Fantasie“ und “Wirklichkeit“ vor. Mit dieser Rede soll die Glaubwürdigkeit von Christian in Frage gestellt werden. Jedoch scheint niemand der Gäste die Wahrheit zu erkennen oder sich auf eine Seite stellen zu wollen. Es wirkt eher so, als wenn vor allem die Familienmitglieder, aber auch die Gäste, froh über eine Erklärung sind, um sich nicht weiter mit dieser Thematik konfrontiert zu sehen. Trotzdem entsteht für alle Beteiligten ein Gefühl von Erleichterung aber auch Lähmung, die buchstäblich in vielen Gesichtern der Gäste zu erkennen ist. Die fehlende Reaktion und Stellungnahme lässt die Gäste zu reinen Beobachtern werden.

In Idioterne wird die Thematik der diegetischen Diskussion von “Realität“ und “Fiktion“ überspitzt. Ein immer wiederkehrender Sprung zwischen “Fiktion“ und “Realität“ ergibt sich durch die diegetisch realen Figuren im Film und die gespielten behinderten Figuren. Das bedeutet eine Konfrontation von diegetischer Realität und diegetischer Fiktion. Das „spassende“[12] Verhalten der Idioten in der Gesellschaft, der ständige Rückzug Axels in seine diegetische reale Welt zu seiner Familie und seinem Beruf (die auch die außerfilmische Realität ist, wie wir in den Interviews erfahren), der Besuch von Menschen aus der diegetischen Realität, der Gesellschaft, in die diegetische fiktive Welt der Gruppe, in das Haus, in dem sie leben, sind Zeichen der Gegenüberstellung von Realität und Fiktion.

Die erste Untersuchung einiger Sequenzen zeigt, dass nicht nur die technische Ausführung des Filmens, sondern auch die inhaltliche Ebene zu einer “Authentizität“ und „Realität“ führt. Inwieweit diese Authentizität als “echt“, “real“ oder “realistisch“ betrachtet werden kann, soll nun im weiteren Verlauf der Untersuchung geklärt werden. Der Vergleich zum klassischen Kino und eines klassischen Realismus ist hier einbezogen.

3.2. Narration und Dramaturgie

„Eines der verstörendsten Momente des Films besteht denn auch darin, dass das Fest offenbar seinen eigenen Regeln folgt und sich die Gäste von diesen Regeln nicht abbringen lassen.“ (Götsch 2003, 42)

Der Gebrauch eines Regelwerkes lässt im Dogma-Konzept ein Paradoxon aufkommen. Da das klassische Mainstream-Kino ebenfalls einem bestimmten Kriterien-Katalog untergeordnet ist und sich die Dogma-Brüder genau gegen diese Vereinheitlichung wehren wollen, entsteht durch ein Konzept der Verweigerung ein neues Konzept zur Unterordnung. Welchen Einfluss die Regeln auf die Narration und die Dramaturgie haben wird im Folgenden herausgearbeitet. Der Realismus- und Authentizitätscharakter mit der Differenz zur klassischen Struktur stehen hier im Vordergrund.

Die filmische Struktur in Idioterne wird wie das gesamte Dogma-Konzept von Regeln festgelegt – hier sind es die selbst ernannten Regeln der Idioten-Gruppe. In Festen wird die Handlung nach den Regeln eines Festes festgelegt. Auf der ersten Untersuchungsebene ist schon eine Verbindung von Inhalt und Form zu erkennen. Im Vergleich zur traditionellen Erzählung sind die Dogma-Produktionsweisen eher unklassisch. Eine diskontinuierliche Bilderfolge entsteht aus den unterschiedlichen Kameraperspektiven durch mehrere gleichzeitige Kamerapositionen, Szenenwiederholungen und durch die Improvisation der Schauspieler. Daraus entwickelt sich eine Dramatisierung und Dynamisierung der bildlichen Darstellung und filmischen Erzählung.

„Außerdem weist FESTEN insgesamt einen relativ schnellen Schnittrhythmus auf, der die filmische Kontinuität trotz Handkamera auflöst und die Handlung qua Montage fragmentarisiert.“ (Sudmann 2001, 114f)

Des Weiteren ist die Dramaturgie des Dogma-Films im Vergleich zur geschlossenen Form des Mainstreams sehr offen. Einerseits ist die Montage für die Dynamisierung des Bildes von großer Bedeutung. Andererseits macht Andreas Sudmann auf die Priorität der Bildästhetik aufmerksam, die die Montage wiederum in den Hintergrund treten lässt.

„Außerdem trägt die besondere Kameraästhetik in FESTEN ihren Teil dazu bei, dass die Montage – trotz ihrer Auffälligkeit, in Bewegung zu schneiden – in den Hintergrund gedrängt wird oder, anders formuliert, dass der Schnitt in FESTEN deutlich hinter dem expressiven Stil der Bildästhetik zurückbleibt.“ (ibid, 117/118)

Wider Erwarten ist eine klassische Narrationsstruktur mit einer gewissen Vorhersehbarkeit in den Dogma-Filmen zu erkennen. Die Charaktere müssen eine Problematik lösen, wodurch ein Konflikt entsteht, der am Ende wieder gelöst wird. Jedoch wird der Zuschauer nicht in die klare Problematik oder einem spezifisch definiertem Ziel eingeleitet, sondern er wird in einem Überraschungseffekt mit dem Konflikt konfrontiert. Das Ende in den Dogma-Filmen ist im Hinblick auf die Problematik aufgelöst und einzelne Narrationsstränge kann man in das gesamte Konstrukt einordnen. In Festen erfahren wir erst mit der ersten Rede von Christian von dem Konflikt, der in der Narration auszuhandeln ist. Das Aufdecken des Spiels der Idioten-Gruppe in Idioterne geschieht zwar relativ schnell, jedoch erfahren wir erst später die Motivation dafür. Der eigentliche Konflikt, die Auflösung für Karens Verhalten wird uns erst am Ende des Films präsentiert. Die Motivation dieser Erzählung wird also entgegen der klassischen Narration nicht zu Beginn geklärt. Die Dramaturgie baut sich aber im klassischen Sinne auf. Das Dargestellte bewegt sich im klassischen Dreiakter und ist daher im Hinblick auf die Narration als Konventionell zu bezeichnen. Achim Forst sieht aber aus folgenden Gründen gerade in der Narration das Unkonventionelle und Provozierende.

„… nicht die wackelnde Kamera, die spartanische Ausstattung, das Improvisieren der Schauspieler, die sperrige Dramaturgie, sondern die Weigerung, dem Drama einen Sinn zu geben und die Geschichte oder wenigstens eine der Geschichten auf konventionelle Weise zu Ende zu erzählen. Trier überlässt uns die Entscheidung, ob wir uns mit dieser neurotisch-empfindsamen Frau, die wie eine Schwester von Bess in BREAKING THE WAVES wirkt, identifizieren oder das ganze >>Idiotenspiel<< nur als großen idiotischen Witz betrachten wollen, den allein Karen wirklich ernst genommen hat.“ (Forst 1998, 183)

Seiner Meinung nach ist gerade das Fehlen der Sinngebung das Moment der Verweigerung – unabhängig von einer klassischen Struktur. Betrachtet man aber die Narration genauer, lässt sich durchaus ein durchdachtes narratives Gefüge erkennen, das eine klassische dramatische Steigerung der Geschehnisse und dramaturgische Zuspitzung beinhaltet. Obwohl Festen noch konventioneller mit der Narration und Dramaturgie umgeht, kann auch Idioterne in drei klassische Akte zerlegt werden. Schon in der ersten Szene werden alle entscheidenden Elemente und Figurenstrukturen in Idioterne deutlich. Als nachgereichte Exposition sind die Interviewsequenzen zu verstehen. Sie geben der Narration eine Vorwärtsbewegung. Manchmal kündigen sie Ereignisse an, an anderen Stellen nehmen sie auch die Handlung vorweg. An dieser Stelle können sie als Verbindungslinie der einzelnen Szenen gesehen werden. Andererseits geben die Interviews als zusätzliche Erzählebene auch eine sprunghafte Struktur vor. Die eigentliche Handlung erscheint als Rückblende. Hier kann konstatiert werden, dass die Interviews unterschiedliche narrative Funktionen erfüllen. Zum einen dienen sie der Aufklärung, was ein klassisches Mittel des Interviews ist, zum anderen fördern sie Verwirrung, indem sie die narrative Reihenfolge brechen. Über all dem sind sie in die Steigerungsphase der Geschichte eingebettet. Sie beziehen sich inhaltlich auf die Narration und erzeugen einen Spannungsbogen und einen Erwartungshorizont, der sich auf den Ausgang der Geschichte konzentriert. Trotz der Klärung vieler Dinge fehlt in den Interviews jegliche Einleitung zur Entstehung der Gruppe und Beginn des Experiments. Der zweite Akt wird mit Beginn der Sequenz 14 gesetzt, als Christians Onkel zu Besuch erscheint. Hier werden die ersten Problematiken deutlich und Konflikte entstehen, die im Laufe der Erzählung ihre Steigerung finden. Christians Onkel, der ihn mit dem Verkauf des Hauses beauftragt hat, ist über das kommunenhafte Zusammenleben der Gruppe nicht erfreut. Mit dieser Sequenz beginnt auch das vermehrte Eindringen der äußeren Realität in die diegetisch fiktive Welt der Gruppe. Sie ist fortan nicht mehr alleiniger Initiator der Konfrontation mit der Gesellschaft. In Idioterne sind drei Wendepunkte in der Geschichte vorhanden, die zu Höhepunkten der Geschichte überleiten. Der erste Wendepunkt ist mit der Begegnung der “echten“ Behinderten-Gruppe gleichzusetzen. Die Wendung bezieht sich auf Karens Veränderung. Nach der Konfrontation mit den “echten“ Behinderten findet sie ihre Ruhe und Trauer in einem spassenden Moment. Ihr Verhalten unterscheidet sich aber von dem der anderen. Sie spasst introvertiert an einem einsamen Ort, ohne es zu zelebrieren und zu präsentieren (Sequenz 21: Karens Veränderung). Weitere Konsequenzen aus vermehrter Konfrontation mit der Realität, wie Axels Besuch in der Firma oder letztendlich die Unterhaltung Stoffers mit dem Gemeindemitglied, sind Stoffers Nervenzusammenbruch, der den ersten Höhepunkt markiert und die Gruppensexszene, die den dritten Akt einleitet. Diese beiden Szenen sind von großer emotionaler Stärke und körperlicher Kraft geprägt. Der zweite Wendepunkt der Geschichte setzt mit dem Besuch von Josephines Vater ein (Sequenz 32). Aus dieser Sequenz folgt Jeppes nervlicher Zusammenbruch, der den zweiten Höhepunkt darstellt. Der dritte Wendepunkt ist mit dem letzten Höhepunkt des Films gleichzusetzen. Hier sehen wir Karen, die sich als Einzige in der Rolle der Idiotin in ihrem sozialen Umfeld darstellt. Alle drei Wendepunkte stellen eine Konfrontation mit der diegetisch realen Außenwelt dar. Ihre Reaktionen darauf äußern sich in den Höhepunkten. Die Schlusssequenz ist trotz Beendigung der Konflikte der klassischen Narration gegenüberzustellen. Das Ende ist offen und unbefriedigend in der Hinsicht, dass es keine Informationen über Karens Verbleib und Kontakt zu ihrer Familie oder zu den Gruppenmitgliedern gibt. Der Zuschauer erhält zwar eine Auflösung zum Ausgang der Geschichte im Hinblick auf Karens Hintergrund. Das zu Beginn der Erzählung unformulierte Ziel der Narration oder der Figuren wird aber nicht nachgereicht oder aufgelöst. So wie wir in die Geschichte eingeführt werden, so verlassen wir sie auch wieder. Das Fehlen von Informationen, Motivationen und Aufklärungen markieren die Narration. Jochimsens Aussage unterstützt diese Untersuchungsergebnisse.

[...]


[1] In der Literatur findet man unterschiedliche Schreibweisen für den Begriff „Dogma 95“. Die angegebene Schreibweise wird in dieser Arbeit im Fließtext konsequent verwendet. Andere Schreibweisen in Zitaten sind den Originalen zuzuweisen.

[2] Der Widerspruch von Freiheit und Unfreiheit bezüglich des Manifestes wird in Kapitel 4 zum Thema der Differenz nochmals aufgenommen und näher betrachtet.

[3] Mit diesem Begriff meint Wuss die Wahrnehmung von Authentizität auf Seiten des Rezipienten (Vg. Wuss 2000, 103).

[4] Daher sind im weiteren Verlauf diese beiden Begriffe mit der gleichen Bedeutung zu sehen. Die häufigere Nutzung des Begriffes des Realismus in der Theorie und der Authentizität in der Dogma-Diskussion liegt nur in der Tradition begründet und hat somit keinerlei Wertung.

[5] Der Begriff des Irrealen ist hier als filmische Situation zu verstehen, die in der Wirklichkeit so nicht vorfindbar ist.

[6] Der „Realismus des Illusionismus“ ist als Inszenierung zu verstehen. Der Realismus ist nur eine Illusion, die als „realistisch“ empfunden wird.

[7] Die (neo-)formalistischen Theorien werden in der Diskussion der Differenz nochmals aufgegriffen.

[8] „Motivation bezeichnet somit eine Form der Interaktion zwischen der Werkstruktur und der Aktivität des Zuschauers.“ (Thompson 1995, 36)

[9] Die Benennung der Sequenzen ist dem eigens erstellten Sequenzprotokoll im

Anhang zu entnehmen.

[10] Insgesamt gibt es neun Interviewsequenzen, die in die Filmsequenzen geschnitten werden. Sie sind meist von sehr kurzer Dauer und sprechen die Schauspieler als Filmfiguren und als reale Personen des Lebens auf den Film und die Handlung an. In Kapitel 3.7. werden die Interviews näher betrachtet.

[11] Die Begrifflichkeiten in Anführungszeichen sollen eine differenzierte Bedeutung zulassen. Die Diskussion einiger Begriffe folgt im Anschluss.

[12] Dieses Wort ist aus dem Film und der Literatur übernommen. Es ist dem Wort des Spastikers entnommen und beschreibt den Zustand und das Verhalten der Behinderten.

Ende der Leseprobe aus 138 Seiten

Details

Titel
Realismus, Authentizität und Differenzqualität. Das Projekt Dogma 95 untersucht an FESTEN (1998) & IDIOTERNE (1998)
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Film- und Fernsehwissenschaft)
Note
1,8
Autor
Jahr
2006
Seiten
138
Katalognummer
V61850
ISBN (eBook)
9783638552103
ISBN (Buch)
9783656813309
Dateigröße
937 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Realismus, Authentizität, Differenzqualität, Projekt, Dogma, FESTEN, IDIOTERNE
Arbeit zitieren
M.A. Nadine Breitenbruch (Autor:in), 2006, Realismus, Authentizität und Differenzqualität. Das Projekt Dogma 95 untersucht an FESTEN (1998) & IDIOTERNE (1998), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61850

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