Individualität und Rolle bei Kriemhild und Hagen


Dossier / Travail, 2006

19 Pages, Note: 2,3


Extrait


Inhaltsangabe

1. Einleitung

2. theoretische Grundlagen zu Personendarstellungen
2.1 Strukturorientiertes und subjektorientiertes Erzählen
2.1.1 Subjektorientiertes Erzählen
2.1.2 Strukturorientiertes Erzählen
2.2 Charakter und Rolle

3. Hagen vs. Kriemhild
3.1 Kriemhild – Rolle oder Individualität
3.2 Hagen – Rolle oder Individualität
3.3 Diskussion

4. Hagen vs Kriemhild als Kampf zwischen höfischer Tradition und Individualität?

Bibliographie

1. Einleitung

„Das Mitleben und Mitleiden des Nibelungenepikers mit seinen Helden, insbesondere mit der Hauptgestalt Kriemhild, zeigt, dass sein Interesse nicht mehr nur und auch nicht primär den Geschehnissen, sondern vor allem auch den handelnden und leidenden Personen gilt.“[1] Der Nibelungenepiker war in diesem Sinne der Vorreiter in der mittelalterlichen Literatur und wurde in der Wissenschaft zu einem vieldiskutierten Forschungsobjekt. Die Frage der Personengestaltung soll der Inhalt der folgenden Arbeit sein. Vor dem Hintergrund einer theoretischen Erarbeitung zu den Unterschieden bei der Personendarstellung zwischen mittelalterlicher und moderner Literatur soll im zweiten Teil das Augenmerk auf die Figuren Kriemhild und Hagen gerichtet werden. Diese Untersuchungen sollen der Beantwortung der Frage dienen, ob der Dichter diese beiden Figuren mit dem Gedanken auf eine Darstellung des Konflikts zwischen den traditionellen Systemen und den Anfängen von Individualität entworfen hat.

2. Theoretische Grundlagen zur Personendarstellung

Wie wurden Figuren im Mittelalter, wie werden sie in der Neuzeit dargestellt? Wo genau liegen die Unterschiede, und kann man mit neuzeitlichen Methoden überhaupt mittelalterliche Literatur lesen? Wo hört das Rollenspiel auf, wo fängt die Individualisierung und die auf Persönlichkeitsbildung basierende Figurendarstellung an? Dies sind grundlegende Fragen, die es erst einmal zu klären gilt, bevor in die Diskussion mit konkreten Beispielen eingestiegen werden kann. Was hier zuerst rein theoretisch erörtert und diskutiert werden soll, dient als Definitionsgrundlage, um später an Kriemhild und Hagen die eigentliche Ausgangsfragestellung zu untersuchen.

2.1 Strukturorientiertes und subjektorientiertes Erzählen

Mit verschiedenen Ansätzen wurde versucht sich der Individualität in mittelalterlicher Literatur zu nähern. In ihrem Aufsatz widmet sich Annette Gerok-Reiter zwei solcher Ansätze, hält jedoch fest, dass eine dieser Methoden (die normativ-ästhetische) versuche, mittelalterliche Literatur auf neuzeitliche Vorstellungen und Ideale hin zu untersuchen und dadurch „in normativ-anachronistischer Weise“ Individualität zu finden suche. Zum anderen scheint auch eine „allgemeine Phänomenanalyse“ das Ziel zu verfehlen, indem sie sich nicht mehr auf die literarischen Produktionen konzentriere, sondern das Feld der Untersuchungen um weitere, nicht mehr in den Bereich der Literaturwissenschaft fallende Erscheinungen ergänze[2]. Die Ursache für das Verfehlen der verschiedenen Methoden liegt für Gerok-Reiter an der falschen Ausgangsposition. Was es zu untersuchen und beachten gilt, sei die Art der Darstellung der Figuren im Hinblick auf andere Denkstrukturen, die nicht miteinander verglichen und demnach auch nicht mit den gleichen Methoden untersucht werden können. Sie zieht den Vergleich zwischen neuzeitlichem Erzählen, was sie „subjektorientiertes Erzählen“ nennt und dem mittelalterlichen Stil, welchem sie den Namen „strukturorientiertes Erzählen“ gibt[3]. In der folgenden Gegenüberstellung sollen nun spezifische Merkmale beider Erzählweisen aufgeführt werden.

2.1.1 Subjektorientiertes Erzählen

Was heißt „subjetorientiertes Erzählen“? Die Benennung allein gibt schon fast die Antwort. Die Handlung, der Verlauf der Erzählung wird von der Figur selbst bestimmt, indem ihr bestimmte Eigenschaften zugesprochen werden, eine Persönlichkeitsbildung stattfinden kann. Die Figur gewinnt eine gewisse Eigenmächtigkeit, da ihr die Möglichkeit zu eigenen Entscheidungen offen steht, die durch die verschiedensten Einflüsse geprägt sein können. So haben die Figuren eine Geschichte, in der sie schon persönliche Erfahrungen gemacht haben, die sie zu denen gemacht hat, die sie nun sind und welche es zu berücksichtigen gilt. Sie entsprechen nicht einem einheitlichen Typ, einer Rolle, die sie zu erfüllen haben, ihr Charakter ist vielmehr vielschichtig, kann sich weiterentwickeln[4]. Diese Weiterentwicklung setzt natürlich auch voraus, dass die Figur die Außenwelt wahrnimmt, sie reflektiert und anhand dieser Reflexion und Verarbeitung der Außenwelt sich ihren Weg durch das Schicksal bahnt, der nicht stringent geradlinig verläuft, dessen Ziel noch im Dunkeln liegt. Es ist genau diese Offenheit des Ausgangs, die der Figur eine Eigenverantwortlichkeit zukommen lässt und ihr eine Vielzahl an möglichen Wegen zur Verfügung stellt[5]. Um die Entscheidungsfindung darzustellen, entstehen in der neuzeitlichen Literatur viele Möglichkeiten. So hat der Erzähler die Fähigkeit durch inneren Monolog den geistigen Etat der Figur in völliger Unmittelbarkeit zu präsentieren. Der Erzähler tritt so weit in den Hintergrund, dass er nicht mehr wahrgenommen wird. Die extremste Form den Zustand einer Figur darzustellen, ist der Bewusstseinsbericht, bei dem die Gedanken in höchst authentischer Weise festgehalten werden. Die unterschiedlichen Erzählperspektiven wie die Nullfokalisierung, interne und externe Fokalisierung allein ermöglichen eine Vielzahl an Darstellungsweisen, die wiederum in unterschiedlicher Weise eine Innenansicht der Figuren liefern können[6]. Gleichzeitig lassen sich hier sehr wohl die neuzeitlichen, psychologischen Methoden anwenden, anhand derer sich erklären lässt, wieso diese Figur jenen Weg gewählt, jene Entscheidung getroffen hat, anhand derer sich die Eigengesetzlichkeit, die die Figuren entwickeln und aus der sie nur selten ausbrechen können, der sie wie im Zwang folgen müssen, analysieren und erklären.

Es ist genau das, was wir seit der Entstehung von Autobiographien, Bekenntnisliteratur und Bildungsroman, wo sie in ihrer Komplexität den absoluten Höhepunkt erreichte, im modernen Sinne Individualität nennen[7]. Ist es möglich sich auf die Suche nach dieser Individualität in mittelalterlicher Literatur zu machen? Eindeutig scheint, dass es nicht mit den Methoden von Freud und anderen Psychoanalytikern in rückwirkendem Verfahren funktioniert, sich auf die Literatur einer Epoche mit anderem Selbstverständnis, mit einer anderen Gesellschaftsstruktur, mit einem anderen Menschenbild zu stürzen und diese Art von Individualität, wie wir sie aus unserer Zeit kennen, finden zu wollen.

2.1.2 Strukturorientiertes Erzählen

Die extremste Form strukturorientierten Erzählens findet sich in der Darstellung des Arthusromans wieder, wo die einzelnen Figuren klare Funktionen und Rollen haben, nach denen sie handeln, aus denen sie nicht herausfallen, die wichtig sind, um das vorgegebene Ziel zu erreichen. Eigenständigkeit, Reflexion und Entscheidungsfähigkeit erscheinen unmöglich, da diese das Ziel, den Sinn, den Verlauf der Erzählung gefährden könnten. Das Prinzip basiert auf Gegensätzen, auf Gegenüberstellungen. So finden wir entweder Böses oder Gutes, aber nie eine Figur, die beides vermittelt, die einen mehrschichtigen Charakter besitzt. Es gibt den guten, tapferen Held, den bösen Riesen, die an ihrem Leid sterbende Heldin. Wer gut, wer böse ist, ist dabei unschwer zu erkennen, da die äußere Erscheinung das Innenleben spiegelt; wer schön ist, ist gut, wer hässlich ist, ist böse[8].

Eine ähnliche Kontrastierung liegt dem Prinzip der Doppelwegstruktur zugrunde. Die Gründe, warum der Held auf den Weg geschickt wird, spielen dabei eine weniger wichtige Rolle, sondern dienen allein der Motivation einen Weg auf ein bestimmtes Ziel hin zu beschreiten, auf dem verschiedene aventiuren bestanden werden müssen, meist um sich als Ritter zu bewähren. Die Struktur des Doppelwegs beinhaltet allerdings das Verfehlen des Helden im ersten Durchgang, doch wie das Schicksal es so will, bekommt der Tapfere eine weitere Chance im zweiten Weg, sich von neuem zu bewähren und seine vorher begangenen Fehler wieder gutzumachen. Die Struktur und der Verlauf des Erzählten sind vorgegeben. Die Aufgabe des Dichters besteht darin, die Figuren im Hinblick auf diese vorbestimmte Handlung zu entwerfen, ohne ihnen eine Eigenmächtigkeit zu erlauben. Sie müssen funktionieren und den Sinn und das Ziel garantieren. „ Es erscheint daher sinnwidrig, im strukturorientierten Erzählen nach Aspekten von Individualität suchen zu wollen.“ So Gerok-Reiter[9]. Wenn dem so wäre, wieso tritt die Diskussion immer wieder auf, wieso ist die Fragestellung dann so interessant? Wie schon erwähnt, den Höhepunkt erfuhr das strukturorientierte Erzählen im Arthusroman und an diesem Punkt ist anzuknüpfen. In der Hochzeit dieser Struktur wird ausgetestet, was innerhalb dieses Systems möglich ist und während dieser Experimentierphase entstanden Brüche in der Stringenz der Darstellungen, kleinste Überschreitungen der Struktur, der Rollen, der Normen können durch extreme Feinfühligkeit bemerkt werden. Dort, wo es zu Überschreitungen, zu Brüchen kommt, an denen sich auch viele Diskurse entfachen, muss die Frage nach Individualität in mittelalterlicher Literatur wieder gestellt werden. Hier besteht die Möglichkeit, Charaktere und keine Rollenfiguren mehr anzutreffen, zumindest einen Anschein dessen. Die Schwierigkeit darin besteht allerdings im Erkennen der oftmals unterschwelligen Brüche, dass sich in der mittelalterlichen Literatur keineswegs solch eindeutig als Charaktere definierte Figuren vorfinden lassen, wie es in der neuzeitlichen Literatur der Fall ist. Vielmehr treten sie nur in geringem Umfang aus der heroisch-höfischen Welt aus[10].

Ein weiterer Unterschied zur neuzeitlichen Literatur besteht in der Erzählsituation. Der mittelalterliche Erzähler begibt sich in eine Erzähltradition, wodurch er sich eindeutig nicht als selbstständiger „Schöpfer“, sondern als „Nacherzähler“ kenntlich macht, dessen Kunst im Formulieren des schon vorhandenen Stoffes besteht. Besonders im Nibelungenlied nimmt der Erzähler seit der ersten Strophe eher die Situation des „Berichterstatters“ ein[11]:

[...]


[1] Wahl Armstrong, M.: Rolle und Charakter. Studien zur Menschendarstellung im Nibelungenlied, S. 1

[2] Gerock-Reiter, A.: Auf der Suche nach Individualität in der Literatur des Mittelalters, S. 750

[3] Gerock-Reiter, A.: Auf der Suche nach Individualität in der Literatur des Mittelalters, S. 752

[4] Ebd., S. 751f

[5] Ebd., S. 751f

[6] Scheffel, Martinez: Einführung in die Erzähltheorie, S., 62-67, 163, 165

[7] Gerock-Reiter, M.: Auf der Suche nach Individualität in der Literatur des Mittelalters, S. 751

[8] Ebd., S.751f

[9] Gerock-Reiter, A.: Auf der Suche nach Individualität in der Literatur des Mittelalters, S. 751ff

[10] Ebd., S. 751ff

[11] Curschmann, M.: Dichter alter maere, S. 56

Fin de l'extrait de 19 pages

Résumé des informations

Titre
Individualität und Rolle bei Kriemhild und Hagen
Université
University of Freiburg  (Deutsches Seminar für ältere deutsche Sprache und Literatur)
Cours
Das Nibelungenlied - Proseminar
Note
2,3
Auteur
Année
2006
Pages
19
N° de catalogue
V62461
ISBN (ebook)
9783638556965
ISBN (Livre)
9783656802549
Taille d'un fichier
532 KB
Langue
allemand
Mots clés
Individualität, Rolle, Kriemhild, Hagen, Nibelungenlied, Proseminar
Citation du texte
Julia Rosenberger (Auteur), 2006, Individualität und Rolle bei Kriemhild und Hagen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62461

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