Die männliche Geschlechtsidentität ist keinesfalls eine dem kleinen Jungen angeborene Qualität, sondern „Ausdruck [und Produkt] einer Geschichte, in der sich auf komplizierte Weise mehrere endogene und exogene Faktoren auf der Ebene der psychischen Realität überlagern und verdichten“. Wie aber konstituiert sich die Geschlechtsidentität und welches sind die Faktoren, die dabei eine besondere Funktion einnehmen und die männliche Psyche prägen? Auf welchem Wege erwirbt das männliche Kind die Eigenschaften bzw. die Dispositionen zu den Eigenschaften, die im bipolar gesetzten Geschlechterverhältnis gemäß dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit als „typisch männlich“ gelten? Bestehen innerhalb der Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität und demzufolge der Männlichkeit Zwangsläufigkeiten oder ließe sich - theoretisch - Männlichkeit vollkommen frei konstruieren?
All dies sind Fragen, die in Theorien zur Männlichkeit und zur Bildung der Geschlechtsidentität zu beantworten versucht werden. Dabei geht es um das Erlangen eines Verständnisses von den Ursprüngen (scheinbar) ausschließlich männlicher „Phänomene“ wie bestimmten Denk- und Wahrnehmungsstrukturen und deren Ausdrucksformen und Bedeutung bezüglich Wissenschaft und Kultur sowie Beziehungsmustern, aber auch hinsichtlich Neigungen zu aggressiven Affekten wie Wut, Hass und Gewaltbereitschaft, die sich oftmals gegen Frauen richten. Von der Analyse letzterer und der Rückverfolgung ihres Entstehens bis in die früheste Kindheit sollen Erkenntnisse gewonnen werden, ob und unter welchen Bedingungen sich männliche Gewalt gegen Frauen eindämmen lässt. Eine spezielle Richtung der Theorien, die sich mit der Konstitution von Männlichkeit beschäftigen, wird durch „Ent-Identifizierungstheorien“ vertreten, die der Ablösung des kleinen Jungen aus der Mutter-Kind-Symbiose für eine „erfolgreiche“ männliche Identitätsentwicklung den zentralen Stellenwert einräumen. Diese Ansätze gehen zurück auf die Thesen von Greenson, in denen er „die Beendigung der Identifizierung mit der Mutter und ihre besondere Bedeutung für den Jungen“ konstatiert. Darauf beziehen sich auch Hudson/Jacot in ihrem Modell der „männlichen Wunde“, in dem sie die beiden Schritte der „Ent-Identifizierung“ des Jungen mit der Mutter und die „Gegen-Identifizierung“ mit dem Vater als „existentiellen Abgrund“, aber auch als immerwährende „Quelle psychischer Energie“ des Jungen bzw. Mannes bezeichnen.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung.
- 2. Greenson's Modell der frühkindlichen Identifizierungsprozesse des Jungen
- 3. Das Modell der „männlichen Wunde“ von Hudson/Jacot..
- 4. Diskussion und Kritik
- 4.1 Die fehlende Erklärung des Ursprungs der „ Wunde“.
- 4.1.1 Das Ausklammern der Probleme der (männlichen) Sexualitätskonstitution und die Bedeutung der Rekategorisierung.....
- 4.1.2 Die Vernachlässigung historischer und soziokultureller Einflüsse für die Konstitution der männlichen Geschlechtsidentität.
- 4.2 Die,,Wunde\" als Legitimierung männlicher Hegemonie.
- 4.2.1 Der „männliche Mann“ als Basis des gesellschaftlichen Fortschritts und der Kultur
- 4.2.2 Die Abwertung von Frauen und „unmännlichen Männern“
- 5. Zur (Re-)Produktion hegemonialer Männlichkeit
- 6. Schlussbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit beschäftigt sich mit der Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität und untersucht die Theorien zur „männlichen Wunde“ von Greenson und Hudson/Jacot. Sie analysiert die Entstehung und die Folgen dieser „Wunde“ für das individuelle männliche Subjekt sowie den Einfluss historischer und soziokultureller Faktoren auf die Konstitution der männlichen Geschlechtsidentität.
- Die Bedeutung der Ent-Identifizierung des Jungen von der Mutter für die Entwicklung seiner Männlichkeit
- Die „männliche Wunde“ als Folge der Trennung von der Mutter und der Identifizierung mit dem Vater
- Die Kritik an den Ent-Identifizierungstheorien hinsichtlich der Vernachlässigung der Probleme der (männlichen) Sexualitätskonstitution und der soziokulturellen Einflüsse
- Die „männliche Wunde“ als Legitimierung männlicher Hegemonie und die Abwertung von Frauen und „unmännlichen Männern“
- Die (Re-)Produktion hegemonialer Männlichkeit und die Möglichkeiten einer Veränderung der Geschlechterrollen und Beziehungsmuster
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel führt in die Thematik der männlichen Geschlechtsidentität ein und beleuchtet die Frage, wie sich diese konstituiert und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Das zweite Kapitel stellt Greenson's Theorie der Ent-Identifizierung vor, die die Ablösung des Jungen von der Mutter als zentralen Schritt für die Entwicklung einer „gesunden“ männlichen Geschlechtsidentität begreift. Das dritte Kapitel behandelt das Modell der „männlichen Wunde“ von Hudson/Jacot, welches die Ent-Identifizierung als „existentiellen Abgrund“ und „Quelle psychischer Energie“ des Jungen bzw. Mannes beschreibt.
Das vierte Kapitel widmet sich einer kritischen Diskussion der beiden Modelle. Hier werden die Defizite der Ent-Identifizierungstheorien hinsichtlich der Vernachlässigung der Probleme der (männlichen) Sexualitätskonstitution und der soziokulturellen Einflüsse auf die Konstitution der männlichen Geschlechtsidentität beleuchtet. Des Weiteren wird die „männliche Wunde“ als Legitimierung männlicher Hegemonie und die Abwertung von Frauen und „unmännlichen Männern“ kritisiert.
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie hegemoniale Männlichkeit reproduziert wird und welche Möglichkeiten es für eine Veränderung der Geschlechterrollen und Beziehungsmuster gibt.
Schlüsselwörter
Männliche Geschlechtsidentität, Ent-Identifizierung, „männliche Wunde“, Hegemoniale Männlichkeit, Geschlechterverhältnis, Soziokulturelle Einflüsse, Sexualitätskonstitution, Weiblichkeitsabwehr.
- Citar trabajo
- Julia Haase (Autor), 2005, Die "männliche Wunde" - Ursprung und Konsequenzen: Zur Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62483