Handelnde Verfahren der Texterschließung von Gedichten in einer 4. Klasse


Examensarbeit, 2005

49 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gegenstand der Untersuchung
2.1 Begründung
2.2 Standpunkte

3. Handelnde Verfahren der Texterschließung
3.1 Handlungsorientierter Literaturunterricht
3.2.1 Metren und Rhythmen erspüren und verändern
3.2.2 Gedichte malend und zeichnend vergleichen
3.2.3 Gedichte musikalisch gestalten
3.2.4 Geschehenslyrik
3.2.5 Gedichte szenisch interpretieren
3.2.6 Konkrete Poesie
3.2.7 Lautmalereien

4. Überlegungen zur Unterrichtseinheit
4.1 Beschreibung der Lerngruppe
4.1.1 Sachstruktureller Entwicklungsstand
4.1.2 Materielle Bedingungen
4.2 Rahmenplanbezug
4.3 Intentionen / Lernziele

5. Planung der Unterrichtseinheit
5.1 Didaktische Vorüberlegungen
5.1.1 Begründung des Aufbaus der Einheit
5.1.2 Darstellung ausgewählter Verfahren
5.1.3 Zu den Gedichten
5.1.3.1 „Manchmal ein Wort“
5.1.3.2 „Freunde“
5.2 Die Unterrichtsstunden der Einheit „Gedichte handelnd erfahren“

6. Durchführung und Analyse
6.1 2. /3.Stunde mit dem Thema „Szenische Interpretation des Gedichts ´Manchmal ein Wort´“
6.1.1 Stundenziel und Teillernziele
6.1.2 Geplanter Stundenverlauf
6.1.3 Analyse
6.2 5. Stunde mit dem Thema „Komplettieren eines Gedichts am Beispiel ´Freunde´“
6.2.1 Stundenziel und Teillernziele
6.2.2 Zum Komplettieren von Gedichten
6.2.3 Geplanter Stundenverlauf
6.2.4 Analyse
6.3 9. Stunde mit dem Thema „Gedichtvortrag in Form eines Rap“
6.3.1 Stundenziel und Teillernziele
6.3.2 Geplanter Stundenverlauf
6.3.3 Analyse

7. Erkenntnisse und Schlussfolgerungen

8. Literaturverzeichnis

Gedichte sind Briefe

verschlossen

an dich

doch wenn du sie liest

öffnen sie sich

(Walther Petri)

1. Einleitung

Die Kultusministerkonferenz hat am 15.Oktober 2004 eine Vereinbarung über die Bildungsstandards u.a. für das Fach Deutsch im Primarbereich beschlossen und dabei als Aufgabe des Deutschunterrichts definiert „...den Schülerinnen und Schülern eine grundlegende sprachliche Bildung zu vermitteln, damit sie in gegenwärtigen und zukünftigen Lebenssituationen handlungsfähig sind. … Im kreativen Umgang mit Sprache erfahren sie die ästhetische Dimension von Sprache. Die Entwicklung ihrer Sprachhandlungskompetenz umfasst auch das Nachdenken über Sprache. Dazu ermöglicht der Deutsch­unterricht den Kindern erste Einsichten in Sprach­strukturen und macht sie mit elementaren Fachbegriffen bekannt.“[1]

In den letzten Jahren ist immer mehr die Rede von einem handlungs- und produktorientiertem Literaturunterricht. Dass die Schülerinnen und Schüler nicht nur auswendig lernen sollen (z.B. Gedichte), sondern das Gelernte auch verstehen, umsetzen und anwenden können, ist nichts Neues. Aber:

- Was ist handlungs- und produktorientierter Literaturunterricht?
- Welche Ziele verfolgt handlungs- und produktorientierter Literaturunterricht?
- Wie vollzieht sich handlungs- und produktorientierter Literaturunterricht?
- Welche Effekte bewirkt handlungs- und produktorientierter Literaturunterricht?

Dem Thema der Arbeit gemäß, richtet sich meine Auseinandersetzung schwerpunktmäßig auf die hier wirkenden handelnden Verfahren. Diese Wichtung soll den einen Bestandteil der handlungs- und produktorientierten Verfahren stärker beleuchten, ihn aber nicht aus seinem logischen Zusammenhang zu dem anderen reißen. Handlungsorientierung und Produktorientierung wirken oft zusammen, bedingen sich dann gegenseitig und sind nicht immer voneinander zu trennen. Daher erscheint die zweite Komponente auch in meinen Betrachtungen des Öfteren korrelierend zu den Darstellungen und Untersuchungen.

Ich will hier beschreiben, was unter handlungsorientiertem Literaturunterricht zu verstehen ist, daran die oben aufgeworfenen Fragen beantworten und so seine pädagogische Bedeutung nachweisen. Insbesondere werde ich mich auf den Lyrikunterricht beziehen, um handelnde Verfahren der Texterschließung, speziell anhand von Gedichten, und deren Wirkung auf die Lehr- und Lernergebnisse vorzustellen. Dazu soll eine Unterrichtseinheit ausgewählt, geplant, durchgeführt und ausgewertet werden.

Im Rahmen des Lehrervorbereitungsdienstes für das Amt des Lehrers mit zwei Lernbereichen habe ich seit August 2004 anleitenden und selbstständigen Unterricht in einer 3.Klasse erteilen dürfen. In dieser jetzigen 4.Klasse soll die vorgesehene Unterrichtseinheit vorgenommen werden. Wegen der geringen Klassenstärke in allen dritten Klassen wurde die Parallelklasse auf die beiden anderen Klassen aufgeteilt, so dass in diese Klasse nun acht weitere Schülerinnen und Schüler kamen, die mir nur aus Vertretungsstunden bekannt sind. Zwei Mädchen sind mit Beginn der dieser Hausarbeit zugrunde liegenden Unterrichtseinheit neu in die Klasse gekommen. Mit der geplanten Unterrichtseinheit soll neben den entscheidenden Fragen zugleich auch ein Beitrag zur Festigung der Klassengemeinschaft geleistet werden.

Mit der hier vorgelegten Arbeit will ich zeigen, dass insbesondere der handelnde Umgang mit Gedichten zur Förderung des kreativen Umgangs von Sprache beiträgt. Deshalb gehe ich hier speziell der Frage nach, ob durch dieses methodische Vorgehen alle Schülerinnen und Schüler eine höhere Motivation und ein größeres Interesse gegenüber Gedichten entwickeln.

Der erste Teil meiner Arbeit befasst sich mit den theoretischen Grundlagen zu handelnden Verfahren der Texterschließung insbesondere von Gedichten, den Zielen und der Notwendigkeit des kreativen Umgangs mit Sprache sowie den Erkenntnissen für die schulische Arbeit. Im zweiten Teil werden die theoretischen Kenntnisse in der Unterrichtseinheit „Gedichte handelnd erfahren“ des vorfachlichen Deutschunterrichts der 4.Klasse in der Praxis erprobt. Dabei werden handelnde Verfahren zur Text-erschließung von Gedichten untersucht, ohne die dabei in Sachzusammenhang stehenden produktorientierten Verfahren auszuschließen. Diese Verfahren sollen als ein Mittel zur methodischen Gestaltung des Unterrichts betrachtet werden. Zwar werden auch andere Möglichkeiten der Texterschließung von Gedichten vorgestellt, aber in meinen Untersuchungen nicht weiter verwendet. So wird sich diese Arbeit mit verschiedenen ausgewählten handelnden Verfahren, angefangen mit den ersten Vorüberlegungen und der Planung bis hin zum Einsatz, also ihrer Anwendung im Unterricht, beschäftigen. Der möglicherweise dabei entstehende Eindruck einer besonderen Betonung dieser Unterrichtsmethodik soll deren Stellung im didaktischen Komplex der Ziel-Inhalt-Methode-Relationen aber nicht heraus heben, sondern sie als eine gute Möglichkeit effektiver Unterrichtsgestaltung eben speziell erörtern.

2. Gegenstand der Untersuchung

2.1 Begründung

„In der Grundschule erweitern die Kinder ihre Sprachhandlungskompetenz in den Bereichen des Sprechens und Zuhörens, des Schreibens, des Lesens und Umgehens mit Texten und Medien sowie des Untersuchens von Sprache und Sprachgebrauch. Die Kompetenzbereiche sind im Sinne eines integrativen Deutschunterrichts aufeinander bezogen. Das sinnvolle sprachliche Handeln der Schülerinnen und Schüler und der sorgfältige und angemessene Umgang mit Sprache stehen im Mittelpunkt. Sachbezogenes, methodenbezogenes und soziales Lernen sind im Deutschunterricht der Grundschule untrennbar miteinander verbunden.“[2]

A.Flitner sagt zum komplexen Zusammenwirken von Denken, Handeln und Wissen, dass „…Wege zu einem „Wissen“ zu finden (sind), das nicht gelehrt und zur Kenntnis genommen, sondern selber erlebt worden ist.“[3] Dabei geht es um solche „…Erfahrungen, die man mit eigenen Händen greifen, mit eigenen Sinnen vollziehen und mit eigener Aktivität bewältigen kann.“[4]

Ein nur analysierender und interpretierender Unterricht kann dem nicht gerecht werden. Handelnd-produktiver Umgang mit Lyrik umfasst das reflektierende, überlegte und kreative Beschäftigen mit Texten, das bewusste „Eintauchen“ in Situation, Raum und Zeit der (textlich) dargestellten Erscheinungen oder Geschehnisse und geht damit weit über Inhaltserfassung, Beschreibung und Wertung hinaus. Das wird der elementaren Aufgabe des Unterrichts viel mehr gerecht, nämlich umfassend zur Persönlichkeits-entwicklung der Schülerinnen und Schülern beizutragen, sie unter Einbeziehung aller ihrer Sinne voranzubringen in ihren Willens-, Wissens- und Könnensqualitäten. Der Erfolg wirkungsvollen Unterrichts hängt (schon bei seiner Planung) von den gewählten Methoden, der überlegten inhaltlichen Ausgestaltung, seiner didaktisch begründeten Organisation und dem Einsatz geeigneter Unterrichtsmittel und -methoden ab. In besonderer Weise kann hier durch handelnde und produktive Arbeitstechniken die „Individuelle Aktivität als das Grundprinzip des Erkenntniserwerbs, Lernen durch eigenen, inneren Antrieb und Problemlösungen durch das Auffinden neuer, origineller Zugänge.“[5] veranlasst und gefördert werden. Handelndes Lernen unterstützt zudem die Ausprägung sozialer Verhaltensweisen wie Kooperationsbereitschaft und Toleranz gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern.

Manchen Schülerinnen und Schülern fällt es schwerer, Wissen schnell aufzunehmen, Zusammenhänge gleich zu erkennen und Erlerntes fehlerfrei anzuwenden. Berücksichtigt man also die unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler, dann können die Lernziele mit dem Einsatz handelnder (und produktorientierter) Verfahren der Texterschließung für alle erreichbar gemacht und mit dem Lernerfolg Motivation und Lernfreude gesteigert werden. Für die Unterrichtseinheit zu meiner Arbeit habe ich verschiedene (handelnde) Verfahren zur Erschließung von Gedichten erprobt, die die unterschiedlichen Aspekte des Lernens berücksichtigen.

Hier sollte das selbstständige Arbeiten über eine aktive Auseinandersetzung mit dem Lernstoff durchgesetzt werden. Lösungen gestellter Aufgaben selbst herauszufinden, fordert und fördert Eigenaktivität und Kreativität, veranlasst die Reproduktion von Kenntnissen und dient so der Wissenssicherung und der geistigen Entwicklung (Analysieren, Zusammenhänge erkennen, Abstrahieren).

Damit werden echte Chancen für den Lernerfolg jedes einzelnen geschaffen. Das soll mit den von mir in dieser Arbeit vorgestellten ausgewählten Unterrichtsstunden gezeigt werden.

2.2 Standpunkte

In der Schule und der Universität gerät die Literatur in die Hände von Mördern

(Paul Valery)

Es ist leichter, Gedichte zu machen, als Gedichte zu verstehen

(Michel de Montaigne)

Es ist leichter, Gedichte zu verstehen, indem man Gedichte macht

(Gerhard Haas)

In der Schule wird mit und an Gedichten operiert. Zu oft erleidet der Patient dabei den Tod

(Unbekannt)

Derartige kontroverse Aussagen lassen sich immer wieder im Zusammenhang mit dem Thema des kreativen Umgangs von Texten finden. Es zeigt sich darin, dass die Autoren die Effektivität solcher Verfahren diskutieren und eben zu unterschiedlichen Erkenntnissen gelangen. Die einen befürworten einen eher rein analytisch-interpretierenden Umgang mit Literatur, die anderen befürworten dagegen handlungs- und produktorientierte Ansätze. „Dies scheint vordergründig zu einer Polarisierung geführt zu haben, auf den zweiten Blick bemerkt der aufmerksame Betrachter jedoch, dass gerade die Verbindung von Analyse/Interpretation und von Synthese/Produktionsorientierung Literaturunterricht spannend, unterhaltsam und lehrreich macht, weil der Gesamtaspekt von Produktion/Rezeption deutlicher wird und Einblicke in literarische Arbeit mit all ihren Varianten und Schwierigkeiten erkennbar werden.“[6]

Bei Untersuchungen zum Zusammenwirken von Text und Leser wurde deutlich, dass der Leser eines Textes automatisch zum „Mitproduzenten“ des Autors wird. Die Bedeutung wird erst durch die Rezeption des Lesers geschaffen und kann nach dem gesellschaftlichen, biographischen oder historischen Systemzusammenhängen variieren. Selbst bei ein und demselben Leser kann es zu verschiedenen Zeiten der Rezeption zu unterschiedliche Ergebnissen kommen. Die Deutung eines poetisch-literarischen Textes besteht nicht darin, eine von der Lehrerin oder dem Lehrer entworfene, für alle einheitlich geltende Interpretation zu übernehmen.[7]

Im Konkreten bedeutet das, dass eine subjektive Beteiligung für den Umgang mit Lyrik unerlässlich ist. Somit sollte sich der Leser zuerst fragen, was ihm das Gedicht bedeutet. Welche Intension der Autor hat und welche Botschaft er vermitteln will, sind für den Umgang mit Lyrik zweitrangig, aber nicht unerlässlich. Ein kreativer Umgang mit Gedichten, also ein kreatives Denken, neue Lösungswege, Problemstellungen und Wahrnehmungsoffenheit bedingen sich nach K.Stocker.[8] Schon die Analyse von Gedichten, so Stocker, erfordert Kreativität. Ferner sollen die Schülerinnen und Schüler aber auch lernen, ihr Textverständnis gegenüber den anderen auszudrücken bzw. zu hinterfragen und sich mit ihrer Deutung kritisch auseinanderzusetzen. Dazu muss allerdings vorausgesetzt sein, dass die Schülerinnen und Schüler elementare Begriffe kennen, die zur Beschreibung der Wahrnehmungen und Beobachtungen am Text notwendig sind, wie z.B.: Reim, Vers, Strophe und Metrum. Die Schülerinnen und Schüler sollten auch Kenntnisse über die Grundformen der Gattungen erfahren (z.B. Lied, Ballade, Naturgedicht) und möglichst auch über den historischen Hintergrund bzw. über die jeweilige Epoche und über bestimmte Autoren.[9]

Zu behaupten, dass ein handlungsorientierter Ansatz im Umgang mit Gedichten keinen Wert auf die Vermittlung eines Allgemeinwissens legt, wäre falsch. Der kreative Umgang mit Gedichten wird anders als in traditionellen Konzepten als ein Verständigungsprozess verstanden, ,,in welchem die Schüler ausgehend von ihren Lektüre- und Welterfahrungen und mit den Mitteln ihres Denkens über den Sinn von Texten" sprechen. ,,Aufgabe des Unterrichtenden ist, die Schüler für diesen Dialog zu motivieren" und sie mit den dazu notwendigen Kompetenzen auszustatten.[10] F.Payrhuber geht davon aus, das der kreative Umgang mit Gedichten den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, Zugänge zu Gedichten zu erschließen und sie für Gedichte zu interessieren, so dass sie sich auch über das Ende der Schulzeit hinaus mit ihnen befassen werden.[11]
G.Waldmann vertritt ebenfalls diese Auffassung, indem neben dem produktiven Umgang mit Lyrik ein Umgang mit ihr stehen muss, der sich im Erlesen, Nachsinnen und Betrachten, in Analyse, Reflexion und Kritik auf sie einlässt und einen interpretativen Umgang zulässt. Natürlich ermöglicht eine traditionelle Vorgehensweise mit Analyse und Interpretation des Textes, den Unterrichtsverlauf einfacher aufzubauen und den Erfolg besser und frühzeitig überprüfen zu können. Doch wirken nicht nur die Methoden auf viele und vor allem auf schwächere Schülerinnen und Schüler demotivierend, sondern schränkt es eben auch die persönliche Entfaltungsfreiheit ein. Bei Unterrichtsformen, in denen das Schema der Textbehandlung streng vorgegeben ist, lassen Vorstellungskraft und Entdeckerfreude der Kinder zu wünschen übrig. Gerade diese sind aber für den Umgang mit Lyrik so wichtig.[12]
Der handlungsorientierte Unterricht soll eben gerade die Individualität der Schülerinnen und Schüler fördern. Im Literaturunterricht mit handlungsorientierten Formen bedeutet das eine individuell geprägte Begegnung mit Literatur, die für eine aktive Auseinandersetzung mit dem poetischen Text sorgt.
Auch die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz haben detaillierte Forderungen zur Texterschließung erstellt, die den traditionellen und modernen Ansatz im Umgang mit Literatur vereinen. Entsprechend haben sich die Rahmenlehrpläne dahingehend geändert, dass eine Balance zwischen traditionellem und modernem Umgang mit Literatur angestrebt werden muss. Ein Beispiel zeigt der Rahmenlehrplan Berlin:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Abbildung: Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport (Hrsg.): Rahmenlehrplan Grundschule. Deutsch. Berlin: Wissenschaft und Technik Verlag 2004, S.37)

Während meines Studiums wurden verschiedene Seminare zum kreativen Umgang mit Texten im vorfachlichen Unterricht angeboten, damit die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer dazu das notwendige Handwerkszeug erwerben konnten. Seitens der Schülerinnen und Schüler besteht gegenüber handelnden Verfahren große Aufgeschlossenheit (siehe Kap. 3.2) - besonders im vorfachlichen Unterricht. Diese Erfahrungen konnte ich selbst in meiner Klasse machen. Erstaunlich war und ist der Ideenreichtum, den die Schülerinnen und Schüler dabei entwickeln. Aber es besteht auch die Gefahr der Überforderung einzelner Kinder, die Schwierigkeiten haben, Texte mit und ohne Vorgaben zu kreieren. Das könnte deren Lernerfolg eher behindern. Zusätzlich kann sogar die Zensierung selbst zum Hindernis werden. So finden sich auch in der (o.a.) Literatur Anregungen zu Kompromissen in der Bewertung. In der von mir geführten Unterrichtseinheit „Gedichte handelnd erfahren“ habe ich mich dazu entschlossen, keine Noten zu vergeben. Ich schließe mich dabei der Auffassung J.Niederführs an, besser die Schülerinnen und Schüler erste Erfahrungen mit dieser Art des Umgangs mit Lyrik machen zu lassen. Und ich wollte ihnen Möglichkeiten für die Reflektion oder Verteidigung von Textprodukten ihrer Mitschüler anbieten, wodurch Lernerfolge auch eine Würdigung bekommen. Mein eigener Standpunkt dazu ist, den Schülerinnen und Schülern ein Feld zu geben, auf dem sie sich im handelnden Umgang mit Gedichten ganz frei entfalten können, wo sie experimentieren, sich im Gestalten der Texte ausprobieren und sich interaktiv mit Poesie erleben können. Das soll ihnen ihre eigenen Kräfte vergegenwärtigen, sie anregen, ihnen Freude vermitteln und ihren ganz persönlichen Erfolg erlebbar machen. Für die vorgesehene Unterrichtseinheit gehe ich von der Erwartung aus, dass mit dem handelnden Umgang von Gedichten

- alle Schülerinnen und Schüler ein größeres Interesse am Lesen von Gedichten
entwickeln
- die Schülerinnen und Schüler kreativer im Umgang mit Gedichten werden
- mehr dazu motiviert werden, sich mit Gedichten auseinanderzusetzen
- ihre persönliche Ausdrucksfähigkeit gestärkt wird
- mehr über den Inhalt eines Gedichtes nachgedacht wird
- schwächere Schülerinnen und Schüler besser integriert werden, weil sie ihr

Lerntempo selbst bestimmen und den Lerninhalt selbst entdecken.

Außerdem habe ich die Erwartung, dass die Schülerinnen und Schüler nach der Unterrichtseinheit noch größere Freude beim Lesen und Verstehen von Texten im Allgemeinen und im Besonderen von Gedichten haben bzw. die erlernten handelnden Verfahren auch ganz selbstständig nutzen und anwenden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3. Handelnde Verfahren der Texterschließung

3.1 Handlungsorientierter Literaturunterricht

Die Idee des Handelns impliziert aktives Tätigsein im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel. G.Haas formuliert zum handlungsorientierten Literaturunterricht: „Hauptziel ist immer zuerst die Herstellung eines engen, intensiven Kontakts mit dem Text durch handelndes Reagieren auf ihn und produktives Agieren mit ihm.“[13] Im handelnden Umgang mit literarischen Texten können die Schülerinnen und Schüler Wissen erfahren und verstehen. Der Schwerpunkt liegt nun nicht mehr allein auf der Kopfarbeit, sondern es werden alle Sinne mit eingebunden, so dass die Schülerinnen und Schüler selbst aktiv werden. Auch K.Spinner formuliert den Begriff ,,handlungsorientiert" allgemein in dem Sinne, dass der Unterricht auf die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler zielt. Man geht dabei von der Theorie des ganzheitlichen Unterrichts bzw. Tuns aus: kognitiv, affektiv und sinnenhaft. Oder anders gesagt: Mit Kopf, Herz und Hand.[14] Von einem ,,ganzheitlichen Tun" spricht auch H.Meyer bereits 1987. Er betrachtet den handlungsorientierten Unterricht als einen schüleraktiven und ganzheitlichen Unterricht, in dem die gemeinsam vereinbarten Handlungsprodukte die Organisation des Unterrichts leiten und somit ein ausgewogenes Verhältnis von Kopf- und Handarbeit entsteht. [15]

Was bewirkt der handelnde Umgang für die Gedächtnisleistung? In der Lernpsychologie gab es verschiedene Untersuchungen, die das nachhaltigere Lernen bestätigen, wenn verschiedene bzw. alle Sinne aktiviert werden. Das Handeln ist eng mit der Gedächtnisleistung verbunden. Sachverhalte und Zusammenhänge werden besser in unserem Gedächtnis behalten, wenn wir sie nicht nur hören sondern auch sehen. Nach L.Witzenbacher werden 20 bzw. 30% des Lernstoffes behalten. Beschreiben und drücken wir diese selbst aus, werden sogar 80% davon gespeichert. Führen wir Sachverhalte selbst aus, sind es sogar 90%.[16] „Learning by doing“ oder das bekannte Sprichwort von Konfuzius

„Was man gehört hat, vergisst man wieder.
Was man gesehen hat, daran erinnert man sich.
Was man gemacht hat, das kann man.“

entsprechen den Erkenntnissen aus der Lernpsychologie. Basierend auf diesen Feststellungen, erzielt Unterricht größere Wirkung, wenn die Schülerinnen und Schüler selbst etwas erfahren, erleben und dann mit eigenen Worten ausdrücken. Die Schülerinnen und Schüler sollen also Literatur und deren Besonderheit nicht nur kognitiv-analytisch erlernen, sondern auch sinnlich erfahren und verstehen können. Man will zurückkehren zum ursprünglichen Zweck von Literatur und den Schülerinnen und Schülern wieder Lesegenuss bereiten. Denn traditionelle Methoden, wie die der Textanalyse, liegen weit entfernt von einem natürlichen Lesen und von dem wirklichen Spaß an Literatur.[17] H.Gudjons ist der Überzeugung, dass sich solch ein handlungsorientierter Unterricht positiv auf die Motivation der Schülerinnen und Schüler auswirkt. Wenn Schülerinnen und Schüler selbst etwas herstellen, untersuchen oder experimentieren, wachsen auch die Motivation und die Neugier. Sie identifizieren sich mit dem eigenen Handeln und erkennen, wie sinnvoll und spannend (nicht nur) Literaturunterricht ist, wodurch wiederum die Motivation gesteigert wird.[18] Wie schon oben angeführt, kann ein handlungsorientierter Ansatz aufgrund einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Lernstoff (speziell mit Literatur) auch eine Chance für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler bedeuten. Den Schülerinnen und Schülern wird ermöglicht, sich über einen längeren Zeitraum, in eigenem Lerntempo mit dem Lernstoff auseinanderzusetzen, so dass niemand aufgrund mangelnder Zeit resignieren muss. Nach Haas bekommen dann die Schülerinnen und Schüler Mut, sich generell am Unterricht zu beteiligen. Speziell im Literaturunterricht kann dadurch ein ,,lebenslanges, positiv getöntes" Leseinteresse aufgebaut werden.[19] Aber nicht nur die Steigerung der Motivation bzw. das Differenzieren sind Ziele und Möglichkeiten eines handlungsorientierten Unterrichts. Darüber hinaus muss bei einem solchen Ansatz gewährleistet bleiben, dass dieser kooperationsfördernd für den Unterricht ist. Das kann durch Partner- oder Gruppenarbeit und durch Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern erreicht werden. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, Rücksicht zu nehmen, sich durchzusetzen, Konflikte zu lösen und teamfähig zu werden. Das Lernen von- und miteinander, bei dem die Interaktion nicht allein vom Lehrer gesteuert wird, ist ein weiteres Ziel des handlungsorientierten Unterrichts.[20] Allerdings wirft der handlungs- und produktorientierte Ansatz, im Besonderen in Verbindung mit Literatur, die Frage auf, inwieweit die eigene Produktion neuer Texte, die eigentliche Aussage des Autors verfälscht und letzten Endes keine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem Text stattfindet bzw. die anschließende Reflektion, auf den Ausgangstext bezogen, zu kurz kommt. Wichtiger scheint aber vielen Vertretern bei handlungs- und produktorientierten Verfahren der Texterschließung die Kreativität und Individualität der Schülerinnen und Schüler. Sie meinen, dass die selbstverfassten Texte nicht unbedingt einer begrifflichen Einordnung bedürfen. Außerdem gehen sie von einem ,,Wechselspiel der subjektiven Verarbeitung und Herausforderung durch den Text" aus.[21] Der handelnde Umgang mit Texten bedeutet ja nicht, dass keine theoretischen Kenntnisse darüber vermittelt werden. Allerdings scheint es gerade so, als würden theoretische Grundlagen vernachlässigt, und das Allgemeinwissen bliebe ein wenig auf der Strecke. Trotz dessen betonen und fordern die Vertreter dieses Ansatzes dessen theoretische Fundierung, legen aber das Hauptaugenmerk auf Kreativität und Individualität. Aber warum wird gerade in der Literatur ein handelnder Umgang mit ihr gefordert? Literarische Texte besitzen die Eigenschaft, etwas „Gestaltetes“ zu sein. Ein Autor wählt bestimmte Ausschnitte aus der ihm bekannten Wirklichkeit aus, um daraus einen literarischen Text herzustellen, sei es ein Gedicht oder eine Erzählung. Dazu kombiniert, formt, schmückt und verändert er sie mit seiner eigenen Phantasie immer wieder neu. Er gestaltet also einen Text. Das Herstellen oder Produzieren eines literarischen Textes ist allerdings kein „willkürliches Jonglieren mit Wirklichkeits- und Phantasieteilen“[22]. Der Autor wendet literarische Regeln und Techniken bei der Herstellung eines Textes an. Er verwendet bspw. Stilmittel, eine literarische Sprache, wählt eine bestimmte Erzählhaltung aus, entscheidet sich für eine oder mehrere Perspektiven und setzt den Inhalt seines Werkes in eine entsprechende literarische Form und erzielt auf diese Weise eine bestimmte Wirkung. Der Autor entwickelt also aus einer Vielzahl von alternativen Möglichkeiten die Gestalt und den Inhalt des Textes.[23]

[...]


[1] http://www.kmk.org : Kultusministerkonferenz Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich (Jahrgangsstufe 4) 2004, 21.07.2005 13:38:11

[2] ebd.

[3] vgl. Menzel, Wolfgang: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Praxis Deutsch: Heft 123/ 1994.

[4] ebd.

[5] Bartsch, Barbara und Norbert: Der Arbeitsbogen im Sachunterricht. In: Lehrmittel aktuell, 3/ 1977, S.38

[6] http://www.deutschnetz.de/kreatives/ks01.html: Anregungen für einen kreativen und produktionsorientierten Literaturunterricht 2005, 21. Juli 2005, 13:28:09

[7] vgl. Payrhuber, Franz-Josef (Hrsg.): Gedichte im Unterricht - einmal anders. Praxisbericht mit vielen Anregungen für das 5. bis 10. Schuljahr. München: R.- Oldenbourg- Verlag, 4. Aufl 1999, S.16

[8] vgl. Stocker, Karl: Wege zum kreativen Interpretieren: Lyrik. Sekundarbereich. Schneider Verlag Hohengehren 1993, S.10

[9] vgl. Payrhuber, Gedichte im Unterricht - einmal anders. München 1999, S.17

[10] vgl. Payrhuber, Gedichte im Unterricht - einmal anders. München 1999, S.18

[11] ebd.

[12] Spinner, Kaspar H.: Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht. In: Bogdal, Klaus-Michael/Korte, Hermann (Hrsg.): Grundzüge der Literaturdidaktik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2002, S.29ff

[13] Haas, Gerhard: Handlungs- und Produktionsorientierter Literaturunterricht. Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung. Seelze 1997

[14] vgl. Spinner, Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht München 2002, S.247

[15] vgl. Meyer, Hilbert: Unterrichtsmethoden. Band I. Frankfurt am Main: Scriptor-Verlag 1987, S.214

[16] vgl. Spinner, Kaspar H.: Umgang mit Lyrik (in der Sekundarstufe I). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2000, S.107

[17] vgl. Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht: Grundriss einer produktiven Hermeneutik. In: Deutschdidaktik aktuell. Hrsg. von Günter Lange, Karl Schuster, Werner Ziesenis. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren 1998, S.53

[18] vgl. Gudjons, Herbert: Didaktik zum Anfassen: Lehrer/in - Persönlichkeit und lebendiger Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2. Aufl. 1998, S.107

[19] vgl. Haas, Handlungs- und Produktionsorientierter Literaturunterricht Seelze 1997, S.40ff

[20] vgl. Gudjons, Didaktik zum Anfassen Bad Heilbrunn 1998, S.111

[21] vgl. Spinner, Handlungs- und produktionsorientierter Literaturunterricht München 2002, S.255f

[22] Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit Literatur. In: Taschenbuch des Deutschunterrichts: Grundfragen und Praxis der Sprach- und Literaturdidaktik; hrsg. von Günter Lange. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren 1994, S.467

[23] ebd.

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Handelnde Verfahren der Texterschließung von Gedichten in einer 4. Klasse
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
49
Katalognummer
V62556
ISBN (eBook)
9783638557726
ISBN (Buch)
9783656797944
Dateigröße
999 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
2. Staatsexamensarbeit für das Amt des Lehrers
Schlagworte
Handelnde, Verfahren, Texterschließung, Gedichten, Klasse
Arbeit zitieren
Kristin Jankowsky (Autor:in), 2005, Handelnde Verfahren der Texterschließung von Gedichten in einer 4. Klasse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62556

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