Gabe und Gegengabe im europäischen Mittelalter - Klassische und moderne Austauschtheorie unter historisch-literarischem Aspekt


Term Paper (Advanced seminar), 2006

21 Pages, Grade: 1,3


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Inhaltsverzeichnis

I. Gegenstand der Arbeit

II. Geben und Nehmen
1. Ethnologie und Anthropologie
1.1. Marcel Mauss’ „Die Gabe“
1.2 Rezeption
2. Moderne Austauschtheorie
3. Mediävistik: Dichter und Mäzen im europäischen Hochmittelalter

III. Fazit

IV. Bibliographie

I. Gegenstand der Arbeit

Der Wechselwirkung von Gabe und Gegengabe in zwischenmenschlichen Beziehungen ist als Untersuchungsfeld in der Soziologie aus verschiedenen Blickwinkeln Aufmerksamkeit zuteil geworden. Inwieweit sie auch in der höfischen Gesellschaft des europäischen Hochmittelalters nachgewiesen werden kann, wird im Folgenden erörtert.

Die vorliegende Seminararbeit ist die Erweiterung und Spezifizierung der Thematik, die ich mit meinem Essay für das Hauptseminar „Zum Verständnis persönlicher Beziehungen“ vorgestellt habe. In diesem Essay wird mit Hilfe der Verknüpfung dreier wissenschaftlicher Gebiete, namentlich der Soziologie, der Geschichtswissenschaft und der Literaturwissenschaft das Sujet der interpersonalen Agitation auf eine Ebene außerhalb gegenwärtiger soziologischer Beobachtungsräume gebracht und untersucht, ob und inwieweit austauschtheoretische Konzepte mit der Germanistik und der Mediävistik in Verbindung zu bringen sind. Die klassische Ethnologie und Anthropologie sowie die moderne Austauschtheorie werden - mit besonderem Fokus auf das Verhältnis der Fürsten zu ihren höfischen Literaten - am Beispiel der fürstlichen Hofgesellschaft angewandt.

Diese Arbeit vertieft die Blickpunkte des vorangegangen Essays, indem die Teilaspekte spezifischer beleuchtet werden. Zunächst findet ein ausführlicher Blick auf die klassische Ethnologie und Anthropologie statt, wobei insbesondere Marcel Mauss’ Werk Die Gabe in den Mittelpunkt rückt. Auch deren Rezeption durch anderen Soziologen, Ethnologen bzw. Psychoanalytiker wird gesondert berücksichtigt.

Im darauf Folgenden wird die moderne Austauschtheorie unter besonderer Beachtung des Soziologen Peter M. Blau vorgestellt. Seine Theorie des Sozialen Austauschs ist neben Marcel Mauss’ Gabe die Hauptgrundlage meiner Betrachtung der mittelalterlichen höfischen Gesellschaft vor dem Hintergrund der Soziologie.

Innerhalb des Forschungsfeldes der Mediävistik untersuche ich die Anwendbarkeit beider soziologischer Schwerpunkte auf das Gebiet des europäischen Hochmittelalters. Gibt es dort das wechselseitige System von Gabe und Gegengabe?

Neben soziologischer wird besonders mediävistische und literatur­wissen­schaftliche Fachliteratur herangezogen, um den Hin- bzw. Nachweisen des Phänomens zu folgen.

II. Geben und Nehmen

1. Ethnologie und Anthropologie:

1.1. Marcel Mauss’ „Die Gabe“

1925 erschien erstmals der Essai sur le don des französischen Ethnologen und Anthropologen Marcel Mauss. Sir Edward Evan Evans-Pritchard, britischer Ethnologe und bedeutender Vertreter des Strukturfunktionalismus in der social anthropology, beschreibt diesen Essay als

„die erste systematische und vergleichende Studie über das weit verbreitete System des Geschenkaustauschs und die erste Deutung seiner Funktion im Bezugsrahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Mauss zeigt hier, was die eigentliche Natur und fundamentale Bedeutung solcher Institutionen wie des Potlatsch und des Kula ist […].

Der Vergleich (oder die Gegenüberstellung) von archaischen Institutionen, über die er schreibt, und unseren eigenen ist in seinem ganzen Essay implizit enthalten. Er fragt nicht nur, wie wir diese archaischen Institutionen verstehen können, er fragt zugleich, wie ihr Verständnis uns helfen kann, unsere eigenen um so tiefer zu erfassen […].“ [1]

In Bezug auf Marcel Mauss erweitert Friedrich Rost, dass das Geschenk bzw. die Gabe von der Soziologie und der Kulturanthropologie als Mittel zur Einleitung, Aufrechterhaltung und Verstärkung von sozialen Beziehungen sowie zur Beeinflussung des eigenen sozialen Status untersucht werde[2].

In seinen Untersuchungen zieht Marcel Mauss Kollektive heran und beschränkt sich auf gruppendynamische Erscheinungsformen des Gebens und Nehmens in archaischen Gesellschaften[3]. Hierbei spricht er von einem System der totalen Leistung, in dem die in Ergänzung wirkenden Komponenten des Nehmens und Geben zusammenlaufen. Im Potlatsch sei dieses System zweier Phratrien in den australischen und nordamerikanischen Stämmen gegeben. Riten, Heiraten, Erbschaft, Rechts- und Interessenbindungen, Militär- und Priesterränge ergänzten einander und setzten die Zusammenarbeit beider Stammenshälften voraus. Das Wort Potlatsch bedeute ernähren bzw. verbrauchen[4]. In diesem Zusammenspiel sieht Marcel Mauss Pflichten, ohne die das System nicht funktioniert, nämlich (1) Geschenke zu machen und (2) Geschenke anzunehmen. Im Prinzip ist hierin also ein Vertrag zwischen mindestens zwei Vertragspartnern zu sehen, denn ein Clan, eine Hausgemeinschaft oder ein Gast habe nicht die Freiheit, Gastfreundschaft abzulehnen, Geschenke nicht anzunehmen, nicht zu handeln oder Bindungen nicht einzugehen. Analog käme die Weigerung, etwas zu geben oder jemanden einzuladen einer Kriegserklärung gleich, da es die Verweigerung der Freundschaft und der Gemeinschaft hieße[5].

Marcel Mauss schließt sein Werk mit der verallgemeinernden Schlussfolgerung, die Gesellschaften hätten „in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und schließlich ihre Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern[6]. Das Geben und Nehmen sieht Marcel Mauss also als den Grundbaustein und die Voraussetzung eines gesellschaftlichen Friedens, da die Menschen, um Güter oder Einvernehmlichkeiten austauschen zu können, zunächst die Waffen niederlegen mussten.

[...]


[1] E. E. Evans-Pritchard, aus dem Vorwort zu Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1990, S.11f.

[2] Vgl. Friedrich Rost, Theorien des Schenkens. Zur kultur- und humanwissenschaftlichen Bearbeitung eines anthropologischen Phänomens, Essen 1994, S. 36.

[3] Marcel Mauss, Die Gabe, S. 21f.: „Zunächst einmal sind es nicht Individuen, sondern Kollektive, die sich gegenseitig verpflichten, die austauschen und kontrahieren; die am Vertrag beteiligten Personen sind moralische Personen: Clans, Stämme, Familien, die einander gegenübertreten, seis als Gruppen auf dem Terrain selbst, seis durch die Vermittlung ihrer Häuptlinge, oder auf beide Weisen zugleich.

[4] Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe, S. 22f.

[5] Vgl. Idem, S. 36f.

[6] Idem, S. 181.

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Details

Title
Gabe und Gegengabe im europäischen Mittelalter - Klassische und moderne Austauschtheorie unter historisch-literarischem Aspekt
College
Humboldt-University of Berlin  (Institut für Sozialwissenschaften)
Course
HS Zum Verständnis persönlicher Beziehungen
Grade
1,3
Author
Year
2006
Pages
21
Catalog Number
V63833
ISBN (eBook)
9783638567824
ISBN (Book)
9783656778820
File size
531 KB
Language
German
Notes
Der Wechselwirkung von Gabe und Gegengabe in zwischenmenschlichen Beziehungen ist als Untersuchungsfeld in der Soziologie aus verschiedenen Blickwinkeln Aufmerksamkeit zuteil geworden. Inwieweit sie auch in der höfischen Gesellschaft des europäischen Hochmittelalters nachgewiesen werden kann, wird im Folgenden erörtert.
Keywords
Gabe, Gegengabe, Mittelalter, Klassische, Austauschtheorie, Aspekt, Verständnis, Beziehungen
Quote paper
Katrin Eichhorn (Author), 2006, Gabe und Gegengabe im europäischen Mittelalter - Klassische und moderne Austauschtheorie unter historisch-literarischem Aspekt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63833

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