Das projizierte Selbstbild gesunder und diabetischer Jugendliche - eine inhaltsanalytische Auswertung projektiver Narrative


Diploma Thesis, 2002

118 Pages, Grade: 2


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorie
2.1. Zur Definition von Lebensphasen
2.2. Jugendalter
2.2.1. Frühe Entwicklungstheorien der Adoleszenz
2.2.2. Neuere Entwicklungstheorien der Adoleszenz
2.2.3. Zusammenfassung
2.3. Entwicklungsaufgaben
2.3.1. Identitätsentwicklung in der Adoleszenz
2.3.2. Das Selbstkonzept im Jugendalter
2.3.3. Kritische Lebensereignisse im Jugendalter
2.3.4. Zusammenfassung Anforderungen in der Adoleszenz
2.4. Chronische Krankheit als non-normative Entwicklungsaufgabe
2.4.1. Diabetes mellitus; Prävalenz, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten
2.4.2. Wechselbeziehungen zwischen Diabetes mellitus und Entwicklungsaufgaben
2.4.3. Zusammenfassung Diabetes mellitus als non-normative Entwicklungsaufgabe

3. Hypothesen
3.1. Entwicklungspsychologische Fragestellung
3.1.1. Geschlechtsunterschiede
3.1.2. Altersunterschiede
3.2. Gesundheitspsychologische Fragestellungen
3.2.1. Gesundheitsstatus
3.2.2. Stoffwechselgüte

4. Methodik
4.1. Stichprobenbeschreibung und Gruppenbildung
4.1.1. Unabhängige Variablen
4.2. Der Thematische Apperzeptionstest (TAT)
4.2.1. Theoretischer Hintergrund
4.2.2. Auswahl der Testmaterialien
4.2.3. Die verschiedenen Auswertungsansätze des TAT
4.3. Die modifizierte Version des Bonner Auswertungssystems
4.3.1. Operationalisierung der Variable „Selbstkonzept“
4.3.1.1. Kodierung der Bezeichnung der handelnden Figuren
4.3.1.2. Kodierung der Eigenschaften / Gefühle der Figuren
4.3.2. Operationalisierung der Variable „Entwicklungsaufgaben“
4.3.3. Operationalisierung der Variable „Konflikte“
4.3.4. Operationalisierung der Variable „Abwehr“
4.4. Durchführung
4.4.1. Die Instruktion des TAT
4.4.2. Bildung des Kategoriensystems
4.4.3. Beurteilerübereinstimmung
4.5. Aufbereitung der qualitativen Daten für die statistische Auswertung

5. Ergebnisse
5.1. Entwicklungspsychologische Fragestellung
5.1.1. Entwicklungsaufgaben
5.1.2. Selbstkonzept
5.1.3. Konflikte Zusammenfassung der Ergebnisse zur entwicklungspsychologischen Fragestellung
5.2. Gesundheitspsychologische Fragestellung
5.2.1. Entwicklungsaufgaben
5.2.2. Selbstkonzept
5.2.3. Konflikte Zusammenfassung der Ergebnisse zur gesundheitsspezifischen Fragestellung

6. Diskussion
6.1. Interpretation der Ergebnisse
6.1.1. Entwicklungspsychologische Fragestellung
6.1.2. Gesundheitspsychologische Fragestellung
6.2. Methodische Kritik
6.3. Ausblick

Anhang

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Die Generalisierung und Spezifizierung der drei Identitätskomponenten (Haußer, 1995, S.26)

Abbildung 3: Abhängige und unabhängige Variablen, sowie deren Operationalisierungen

Abbildung 4: Gesamte Stichprobe

Abbildung 5: Stichprobe der diabetischen Jugendlichen

Abbildung 6: Übersicht über Hypothesen

Abbildung 7 : TAT-Instruktionen für Erwachsene nach Revers (1979)

Abbildung 8: Anschauliches Beispiel für die Kategorienbildung

Abbildung 9: Mittelwerte der positiven/negativen Eigenschaften

Abbildung 10: Mittelwerte der positiven/negativen Eigenschaften

Abbildung 11:Mittelwerte der inter- und intrapsychischen Konflikte

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Entwicklungsaufgaben, aufgestellt von Dreher & Dreher (1985a, S.36) nach Havighurst (1953).

Tabelle 2: Die Bezeichnung von Inhaltsbereichen und Aspekten des Selbst (Offer et al., 1981, S.529)

Tabelle 3: Problembereiche nach dem Problemfragebogen von Seiffge-Krenke (1984)

Tabelle 4: Ausgewählte Ziele des Jugendalters und Störeinflüsse des Diabetes mellitus (Petermann et al., 1987, S.102)

Tabelle 5: Kategorien für die Bezeichnungen der Figuren

Tabelle 6: Kategorien für die Eigenschaften / Gefühle der Figuren

Tabelle 7 : Tafeln und Beschreibung der thematischen Valenzen nach Revers (1979)

Tabelle 8: Kategorien der Valenzen

Tabelle 9: Kategorien der Konflikte

Tabelle 10 : TAT-Instruktionen für Erwachsene nach Revers (1979)

Tabelle 11: Ranges und durchschnittliche Werte von Kappa in den einzelnen Kategoriengruppen

Tabelle 13: Prozentuale Übereinstimmung in der Kategorie „Eigenschaften der Figuren“

Tabelle 14: Prozentuale Übereinstimmung in der Kategorie „Gefühle/Handlungen“ der Figuren

Tabelle 15: Prozentuale Übereinstimmung in der Kategorie „Valenzen“

Tabelle 16: Prozentuale Übereinstimmung in der Kategorie "Konflikte"

Tabelle 17: Mittelwerte für die Kategorien der Entwicklungsaufgaben

Tabelle 18: Mittelwerte der Kategorie Bezeichnung der Figuren

Tabelle 19: Mittelwerte der Kategorie Eigenschaften/Gefühle der handelnden Figuren

Tabelle 20: Mittelwerte der Kategorie Konflikte

Tabelle 21: Mittelwerte der Kategorie Valenzen

Tabelle 22: Mittelwerte der Kategorie Bezeichnungen der Figuren

Tabelle 23: Mittelwerte der Eigenschaften/Gefühle

Tabelle 24: Mittelwerte der Konflikte

Zusammenfassung

Das Jugendalter ist eine Phase, in der die Bearbeitung vielfältiger Übergänge und Entwicklungsaufgaben sowie die Herausbildung eines kongruenten Selbstkonzeptes erforderlich ist. Bei Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes kommt als zusätzlicher, non-normativer Stressor der Umgang mit einer chronischen Krankheit hinzu, die im Alltag ständig präsent ist und zu Einschränkungen in zahlreichen Bereichen des Alltags führt. In empirischen Studien wurde festgestellt, dass diabetische Adoleszente im Vergleich zu gesunden Altersgenossen Retardierungen bei der Bewältigung typischer Entwicklungsaufgaben aufwiesen. Zur Untersuchung dieser Fragen wurden 35 gesunde und 37 an Diabetes mellitus erkrankte Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren mit dem Thematischen Apperzeptionstest konfrontiert. Dieses projektive Verfahren wurde benutzt, weil es wenig durchschaubar ist und individuelle Persönlichkeitsdaten erhebt. In der vorliegenden Untersuchung wurden die TAT-Protokolle der Probanden hinsichtlich Selbstkonzept, Entwicklungsaufgaben und Konflikten anhand eines dafür entworfenen formal-inhaltlichen Kategoriensystem analysiert. Diese Daten wurden zum Alter, Geschlecht, Gesundheitsstatus und zur Güte der Stoffwechseleinstellung bei diabetischen Jugendlichen in Beziehung gesetzt. Neben Altersunterschieden bezogen auf die Tönung des Selbstkonzeptes wurden Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen gefunden. Männliche und weibliche Jugendliche haben ein deutlich verschiedenes Selbstkonzept: Mädchen beschreiben sich negativer, während die männlichen Jugendlichen über eher positive Anteile des Selbstkonzepts berichteten. Ein weiterer geschlechtsspezifischer Befund ist die höhere Relevanz zwischenmenschlicher Themen für weibliche Probanden, während männliche Jugendliche sich eher mit leistungsthematischen Aspekten befassen. An Diabetes mellitus erkrankte Jugendliche unterscheiden sich von der gesunden Kontrollgruppe in wesentlichen und entwicklungsrelevanten Variablen. Sie zeigten Behinderungen in jugendtypischen Entwicklungsaufgaben ( wie Ablösung von den Eltern, Aufbau enger Freundschaftsbeziehungen ) und weisen mehr intrapsychische Konflikte auf, während höhere Werte bei den interpsychischen Konflikten ausschließlich bei gesunden Jugendlichen gefunden wurden. Außerdem konnte diabetischen Jugendlichen ein vermehrtes Abwehrverhalten gegenüber der Enthüllung ihrer Persönlichkeit nachgewiesen werden.

1. Einleitung

„Ich hatte eine sehr behütete Kindheit. Deshalb habe ich das erste Jahr nach dem Abi und dem Auszug von zu Hause in jeder Hinsicht genossen. Ich fühlte mich zum ersten Mal frei in meinem Leben. Während meiner Jugend hatte ich sehr unter der Kontrolle gelitten, die meine Eltern mir aufgrund meiner Diabetes mellitus hatten zukommen lassen. Ich weiß, dass sie mich damit nur schützen wollten, aber sie haben damit in mir auch Ängste vor neuen und unberechenbaren Dingen ausgelöst [...].“

(www.diabetes.de, Stand: 20.03.2002)

Dieser Auszug aus einem Bericht einer diabetischen Jugendlichen zeigt, in welchem Ausmaß eine chronische Krankheit die Entwicklung während der Adoleszenz beeinträchtigen kann. Um die Auswirkungen einer chronischen Krankheit auf die Entwicklung eines Jugendlichen abschätzen zu können, soll zunächst der „normale“ Entwicklungsverlauf dargestellt werden. Der Übergang von Kindheit zum Status des Erwachsenen kann mehr oder weniger stürmisch verlaufen; so gaben einige Autoren diesem Lebensabschnitt das Etikett der universell bedingten turbulenten Periode. Anna Freud (1958) zum Beispiel war der Meinung, dass die durch die biologische Reifung bedingte Intensivierung des Sexualtriebes einen qualitativen Wandel in der Persönlichkeitsstruktur verursache. Neuere empirische Untersuchungen (z.B. Shell-Studie: „Jugend 2000“) widerlegen den Befund der „Sturm-und-Drang-Phase“ während der Adoleszenz, der Jugendliche wird nun vielmehr als Produzent seiner eigenen Entwicklung (Lerner, 1984) bezeichnet, der proaktiv seine Zukunft gestaltet und sich dabei mit Veränderungen körperlicher, geistiger, sozialer und emotionaler Art auseinandersetzen muss. Diese Veränderungen werden von Havighurst (1953) in seinem Konzept der „Entwicklungsaufgaben“ spezifiziert. In der vorliegenden Arbeit wir unter anderem untersucht, ob sich Jugendliche mit den postulierten Themen auseinandersetzen und inwieweit sich männliche von weiblichen Jugendlichen, sowie Pre- von Postadoleszenten bei der Bearbeitung unterscheiden. Bei Jugendlichen, die an Diabetes Mellitus erkrankt sind tritt zu den beschriebenen normativen Entwicklungsaufgaben noch eine chronische Erkrankung als non-normativer Stressor hinzu. Der Diabetes mellitus ist eine Erkrankung, die viele Bereiche des täglichen Lebens beeinflusst und zu deutlichen Einschränkungen führen kann. Besonders gravierend für die Entwicklung im Jugendalter ist die Hemmung der Spontaneität im Handeln, die eine starke Belastung sein kann (Seiffge-Krenke, 1994). Ein weiteres Ziel dieser Arbeit ist es, herauszufinden, ob diabetische Jugendliche einen abnormen Entwicklungsverlauf aufweisen und gegebenenfalls besonderer Unterstützung (beispielsweise von den Eltern) bedürfen.

Untersucht wurde dies mit dem Thematischen Apperzeptionstest (TAT) von Murray (1943). Die für die Fragestellung relevanten TAT-Tafeln wurden in der kolorierten Version von Kollmar (1991) vorgelegt. Der TAT ist ein projektives Verfahren, in dem die Probanden Geschichten zu Bildern erzählen sollen, die dann analysiert werden. Ein Vorteil des TAT im Rahmen der hier untersuchten Fragestellung besteht darin, dass das Verfahren den Jugendlichen die Möglichkeit gibt, ihr Thema in der Untersuchung relativ frei zu wählen. Die mangelnde Durchschaubarkeit ist ein weiterer Vorteil. Zur Auswertung des in protokollierten Narrativen vorliegenden Datenmaterials wurde das Bonner Auswertungsschema in einer modifizierten Version verwendet und durch ein eigens ausgearbeitetes formal-inhaltliches Kategoriensystem ergänzt.

Die Daten der vorliegenden Analyse gehen als Teilstichprobe in die Promotion von Kollmar (in Druck) ein. In dieser Promotion werden insgesamt zwei Teilstichproben integriert und in einen breiteren Kontext gestellt als dies hier möglich ist. Die Teilstichprobe der jungen Erwachsenen (gesund und diabetisch) wurde untersucht von Christiane Weland (2002). Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf gesunde und diabetische Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren und ist wie folgt aufgebaut:

Gegenstand des zweiten Kapitels sind die theoretischen Implikationen für die bearbeiteten Fragestellungen. In diesem Theorieteil wird zunächst allgemein auf die Definition von Lebensphasen und danach auf den Lebensabschnitt Adoleszenz und seine unterschiedliche Definitionen einschließlich Alterseingrenzungen eingegangen (Kapitel 2.1-2.2) . Die in der Adoleszenz zu bewältigen (non-) normativen Entwicklungsaufgaben werden in den folgenden Unterkapiteln betrachtet; näher beschrieben wird das Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (1953). Als besonders bedeutsame Aufgaben der Adoleszenz werden die Identitätsentwicklung, das Herausbilden eines Selbstkonzeptes sowie die Bewältigung kritischer Lebensereignisse vorgestellt. Anschließend wird in Kapitel 2.4 das Krankheitsbild des Diabetes mellitus -eine Erkrankung des endokrinen Systems- bezüglich Prävalenz, Therapiemöglichkeiten und Auswirkungen auf die Entwicklung im Jugendalter beschrieben.

Petermann et al. (1987) explizieren die Störeinflüsse des Diabetes mellitus auf typische Entwicklungsziele des Jugendalters, dabei liegt der Schwerpunkt auf der Krankheitsbewältigung im Sinne von Umgang mit Anforderungen des Alltags. Am Ende dieses Kapitels stehen beispielhafte empirische Befunde zur reziproken Beziehung zwischen Stoffwechseleinstellung und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben bei diabetischen Jugendlichen. Im dritten Kapitel werden aus der dargestellten Theorie und den empirischen Befunden Fragestellungen für die vorliegenden Untersuchung abgeleitet, die sich auf das Selbstkonzept, Entwicklungsthemen und Konflikte während der Adoleszenz beziehen und jeweils unter entwicklungs- und gesundheitspsychologischer Perspektive betrachtet wurden. Das gewählte methodischen Vorgehen ist Gegenstand des vierten Kapitels, in welchem der thematische Apperzeptionstest (Kap. 4.2) und das verwendete Auswertungssystem (Kap. 4.3) vorgestellt werden. Die Beschreibung des Auswertungsvorgehen (4.4), sowie die Aufbereitung der Daten für die statistische Analyse (4.5) werden ebenfalls in diesem Kapitel vorgenommen, um im fünften Kapitel die Ergebnisse der statistischen Berechnungen anschließen zu können. Den Abschluss bildet Kapitel 6 mit der Diskussion der Ergebnisse, Kritik an der Methode TAT und einem Ausblick auf zukünftige Forschung aus der vorliegenden Diplomarbeit.

2. Theorie

In diesem Kapitel wird der theoretische Unterbau der Diplomarbeit vorgestellt. Zunächst wird der Lebensabschnitt „Jugend“ näher definiert, dann werden typische Entwicklungsaufgaben erläutert, um schließlich abgrenzend einen non-normativen Stressor in Form des juvenilen Diabetes und seine Auswirkungen auf den Entwicklungsverlauf eines Jugendlichen darzustellen.

2.1. Zur Definition von Lebensphasen

Wenn auch auf den ersten Blick für jedermann klar ist, was mit Entwicklung gemeint ist, fällt es doch schwer, diesen Begriff zu definieren und gegen andere Begriffe abzugrenzen. Unter Entwicklungspsychologen gibt es keinen vollständigen Konsens darüber, was unter Entwicklung zu verstehen ist. Nach Thomae (1959) erscheint Entwicklung beispielsweise als „Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen, die bestimmten Orten des zeitlichen Kontinuums eines individuellen Lebenslauf zuzuordnen sind“ (S.10). Wenn ähnliche Ereignisse bei verschiedenen Individuen an gleichen „Orten“ ihrer Biographie auftreten, erscheint eine Periodisierung des Lebenslaufes in definierte Abschnitte sinnvoll. Periodisierungen des Lebens finden sich in allen Kulturen und während aller geschichtlicher Epochen (vgl. zusammenfassend Endepohls, 1995). Sie resultieren aus der Annahme, dass die menschliche Ontogenese (Individualentwicklung) nach qualitativen und quantitativen Veränderungen gliederbar ist. Das Konzept der Lebensphasen stellt eine mögliche Art der Gliederung des Lebenslaufes dar, welche nicht zwangsläufig an bestimmte Altersstufen gebunden ist (vgl. Endepohls, ebd.). Es existieren keine einheitlichen, allgemeingültigen Kriterien zur Definition von Lebensphasen; grobe Übereinstimmungen hinsichtlich der Annahmen und Erwartungen, die mit bestimmten Lebensphasen verbunden werden, scheinen aber zu bestehen. Die Frage nach der Definition des Jugend- und Erwachsenenalters ist von hoher praktischer Relevanz, da sie für den einzelnen weitreichende Konsequenzen haben, so z.B. bei der Bemessung eines Strafmaßes. Auch zur Erklärung von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen ist es wichtig, psychologische Definitionen von Lebensphasen zu kennen. Schließt man sich der Theorie an, dass Jugendliche Produzenten ihrer eigenen Entwicklung sind (Lerner, 1984), stellt sich bei der Erklärung von Entwicklungsstörungen die Frage nach individuellen Entwicklungszielen, welche durch Definitionen des Jugendalters spezifiziert werden. So kann für Jugendliche Entwicklungsstress und damit eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten psychischer und/oder physischer Störungen entstehen, wenn die an sich selbst gestellten Entwicklungsanforderungen auf dem Weg zum Erwachsenwerden ihre Bewältigungskapazitäten übersteigen (Silbereisen, 1986; Silbereisen & Schwarz, 1992). Ob es dazu kommt oder nicht, ist abhängig davon, inwieweit ihre Definition des Erwachsenenalters, ihr Entwicklungsziel, ihren Lebensumständen angemessen und realistisch ist. Praktische Relevanz hat die Frage nach alltagspsychologischen Konzeptualisierungen von Lebensphasen darüber hinaus, weil alters- bzw. generationsspezifische Lebensphasenkonzepte zu Konflikten zwischen den Generationen führen können. Dieser Sachverhalt ist eine Folge der jeweiligen Operationalisierungen des Entwicklungszieles Erwachsenwerden; ist für die Eltern vielleicht das erfolgreiche Absolvieren der schulischen und beruflichen Ausbildung ein „Meilenstein“ auf dem Weg zum Erwachsenwerden, ist es für ihre Kinder das Erproben von Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, während die Ausbildung nur eine untergeordnete Rolle spielt (Endepohls, 1995). Um Interventionsprogramme entwickeln zu können, die auf Minderung von Entwicklungsstress abzielen und Jugendliche beim Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter in sinnvoller Weise unterstützen können, ist es notwendig, genauere Informationen über derzeit in unserer Gesellschaft vorhandene Definitionen des Jugend- und Erwachsenenalters zu erhalten. Im folgenden werden deshalb überblickartig verschiedene Definitionen und Entwicklungstheorien des Jugendalters dargestellt.

2.2. Jugendalter

Das Jugendalter wird normalerweise definiert als ein Lebensabschnitt, der mit dem Einsetzen der Pubertät beginnt, d.h. wenn die Fähigkeit zur Reproduktion besteht:

"Pubertät“ [lat., "Mannbarkeit"], der Zeitabschnitt im Jugendalter, in dem der heranwachsende Jugendliche die Geschlechtsreife erlangt. Die Pubertät beginnt in Mitteleuropa bei Mädchen ab dem 11., bei Jungen ab dem 12. Lebensjahr. In körperlicher Hinsicht ist sie durch das erste Auftreten der Regel (Menarche) beim Mädchen bzw. von Samenergüssen (z.B. als Pollution) beim Knaben sowie durch die endgültige Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale (z.B. Bartwuchs) geprägt. Außerdem kommt es bei der Reifung zum Erwachsenen zu einer seelischen Umstellung. Ausdruck dieser fast nie gleichmäßig, sondern in unregelmäßigen Schüben ablaufenden Entwicklung sind z.B. innere Unausgeglichenheit und nonkonformistische Neigungen ("Halbstarke", "Flegeljahre", "2. Trotzalter").

(Das Neue Taschenlexikon, Band 12, S. 298). Es ist eine Phase der biologischen, kognitiven und sozialen Veränderungen; kognitiv bildet sich in dieser Lebensphase eine persönliche Moral und eine eigene Meinung heraus. Die körperliche Reife wird je nach Ländern, Rasse, Milieu, Schichten usw. zu einem anderen Zeitpunkt erreicht; insgesamt hat sich die erste Regelblutung und der erste Samenerguss im letzten Jahrhundert erheblich vorverlagert (von ca. 17 auf 11 Jahre), wobei der Abstand zwischen den Geschlechtern erhalten blieb: Bei Mädchen ca. mit 10,5, bei Jungen mit ca. 12 Jahren. Während einer Phase der Vorpubertät vollziehen sich die hormonalen Veränderungen, das Längenwachstum steht zu dieser Zeit still. Die Hauptphase der Pubertät, die Pubeszenz (Undeutsch, 1967) setzt mit einem Wachstumsspurt nach Länge und schließlich auch Gewicht ein. Primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale bilden sich aus (vgl. zusammenfassend Benesch, 1987). Nicht ganz so eindeutig ist, wann die Adoleszenz endet und das Erwachsenenalter beginnt.

Vom Gesetz her wird der Erwachsenenstatus vom Alter abhängig definiert; für verschiedene „erwachsene“ Aktivitäten wie Alkohol trinken, Autofahren, ohne Erlaubnis der Eltern heiraten, zum Militär gehen und Wählen gibt es jedoch unterschiedliche Altersgrenzen in den westlichen Industriestaaten. So wird im Sozialgesetzbuch SGB VIII, § 7 (1) Kinder und Jugendhilfegesetz (KJHG) das Jugendalter in Deutschland gesetzlich festgeschrieben:

„1. Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist
2. Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist
3. junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist
4. junger Mensch, wer noch nicht 27 Jahre alt ist “

Petersen & Leffert (1992) unterscheiden drei Phasen der Adoleszenz: Die frühe Adoleszenz (10 bis etwa 13 Jahre) ist charakterisiert durch pubertäre und schulische Veränderungen. Die mittlere Adoleszenz (etwa 14 bis 16 Jahre) ist die Phase, die auch dem Alltagsstereotyp von „Jugend“ entspricht; eine Abgrenzung von den Erwachsenen erfolgt durch Haarstil, Kleidung, ein bestimmtes Auftreten und eine „Jugendkultur“. Die späte Adoleszenz wiederum (etwa 17 bis 20 Jahre) ist bereits durch den Übergang zum Erwachsenenalter (berufliche Aspirationen, Aufbau von Partnerschaft, Auszug aus dem Elternhaus) gekennzeichnet. Ein Jugendlicher erwirbt seine persönliche Identität, indem er sich selbst als körperliches Wesen annimmt, d.h. indem er ein realistisches Bild seiner körperlichen Erscheinung entwickelt und sich so akzeptiert.

Im Laufe dieses Prozesses definieren Jugendliche die sozialen Bestandteile ihrer in der Entwicklung stehenden Identität. Das schließt ein, dass sie sich darüber klar werden, was für ein Mensch sie jeweils sein wollen und welcher Art die Beziehungen sein sollen, die sie eingehen. In unserer heutigen Gesellschaft verlängert sich die Jugendphase durch die Ausdehnung des Bildungsprozesses, z.B. Studium, und den damit verbundenen späteren Eintritt in das Berufsleben. Diese Entwicklungen vergrößern nicht nur den Zeitrahmen für die Adoleszenz, sie erfordern außerdem schon früh eine selbstbestimmte Lebensplanung, die zu einer zunehmenden Verindividualisierung des Jugendalters führt. Im Rahmen der Shell Jugendstudie von 2000 fand Fritzsche (2000) eine Metapher für diese Veränderungen: „Festlegen auf Zeit, das kompetente Managen der eigenen Biografie, das Aufspringen bei attraktiven Mitfahrgelegenheiten - dies rückt an die Stelle von Langestrecken-Zugfahrten auf fremdvorgegebenen Lebenslauf-Gleisen, weil die Reiseziele andere geworden sind, weil sie sich plötzlich unterwegs verändern können und weil sie mit anderen Mitteln erreicht werden müssen. Jugendliche wachsen hinein in eine Erwachsenenwelt, in der biografisch improvisiert werden muss (und kann) wie nie zuvor“ (S.156). In Anbetracht individuell sehr unterschiedlicher Entwicklungsmöglichkeiten stellt sich die Frage, wie Jugendliche die neu auftretenden veränderungsintensiven Anforderungen und Angebote bewältigen, warum es manchmal zu problematischen Verhaltensweisen kommen kann, welche Strategien sie verwenden können, um besser mit den anstehenden Entwicklungsaufgaben und Problemen zurecht zu kommen und wie diese Strategien aufgebaut werden können.

2.2.1. Frühe Entwicklungstheorien der Adoleszenz

Nach den klassischen Lehrbüchern der Jugendsoziologie und Entwicklungspsychologie wird die Jugend als biographische „Übergangsphase“, als „Statuspassage“ von der Kindheit zum Erwachsensein verstanden (vgl. Oerter & Montada, 1998). Dem Jugendlichen kommt deshalb so etwas wie eine „Zwischenstellung“ zu: „Einerseits ist er kein Kind mehr, andererseits wird er aber auch noch nicht als Erwachsener akzeptiert“ (Oerter & Montada ebd., S.310). Während des Mittelalters existierte diese „Übergangsphase“ laut Ariés (1977) nicht; eine eigenständige Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter war gesellschaftlich nicht vorgesehen. Das traditionelle Bild von der Jugend als der „Sturm-und-Drang-Zeit“ sieht in diesem Zwischenstadium eine einzigartige wildbewegte Lebensphase, die durch extreme Stimmungsschwankungen und durch unberechenbares, problematisches Verhalten charakterisiert ist. Diese Ansicht lässt sich bis zu den Schriftstellern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Später wurde das Sturm-und-Drang-Konzept der Adoleszenz von G. Stanley Hall aufgegriffen. Er war der erste Entwicklungspsychologe, der längere Abhandlungen über die Adoleszenz verfasste; in seinem Werk „Adolescence: Its psychology and its relations to physiology, antrophology, sociology, sex, crime, religion and education“ (1904) vertrat er die Ansicht, dass die psychische Entwicklung weitgehend durch physiologische Faktoren bestimmt sei, auf genetischer Grundlage geschehe und daher Entwicklung überwiegend durch innere Reifeprozesse gesteuert ist. Mit diesem Ansatz ist Halls Theorie den biogenetischen Anlagetheorien der Adoleszenz zuzuordnen, die evolutionär geformte, von Vererbung abhängige Mechanismen bei der Erklärung individueller Entwicklung heranziehen. Die menschliche Lebensspanne spiegelt demnach evolutionäre Übergänge innerhalb der Entwicklung der menschlichen Art wider, die Adoleszenz als „Sturm-und-Drang-Periode“ ist eine Zeit extremer Ausprägungen des Erlebens und Verhaltens, die von innerpsychischen Spannungen und interpersonellen Konflikten begleitet ist (Hall, ebd.).

Nach Hall wurde die Ansicht von einem „Störreizmodell“ der Entwicklung im Jugendalter hauptsächlich von Psychoanalytikern der Freudianischen Richtung vertreten (beispielsweise Anna Freud,1958, 1960). Für sie bedeutet die Pubertät ihrem Wesen nach die Unterbrechung einer Periode friedlichen Wachstums; “das Fortbestehen von innerem Gleichgewicht und Harmonie ist eine abnorme, nicht normale Erscheinung, die dringend einer Behandlung bedarf“ (A. Freud, 1960, S.21). Die Jugend gestaltet sich ihrem Ansatz nach turbulent, da sich durch die sexuelle Reifung der Sexualtrieb bzw. die libidinösen Energien des Es erhöhen. Das Es richtet seine Impulse in dieser Entwicklungsphase undifferenziert auf alle verfügbaren Libidoobjekte. Ödipale Wünsche drücken sich in Tagträumen aus und das ambivalente Verhalten, wie z.B. emotionale Stimmungsschwankungen, sind als Reaktivierung psychosexueller Konflikte zu verstehen. Die Konflikthaftigkeit des Jugendalters beruht nach A. Freud also auf gesteigerten internalen Anforderungen, die aus der sexuellen Reifung und der damit verbundenen Intensivierung des Sexualtriebes hervorgehen.

Die Arbeit von Erik Erikson (1981/68) als Weiterentwicklung Freudscher Gedanken führte zu der Ansicht, dass das Phänomen der Adoleszenz eine Notwendigkeit darstellt, die wesentlich zur Integration in die Gesellschaft beiträgt. Durch die Postulierung von acht psychosozialen Phasen der Ich-Entwicklung, die sich von der Geburt bis ins hohe Alter erstrecken, lehnt er die Auffassung Freuds ab, für die die Persönlichkeitsentwicklung auf die Kindheit beschränkt blieb. Außerdem integriert er im Gegensatz zu Freuds psychodynamischer Theorie persönliche und soziale Komponenten, weshalb seine Herangehensweise als psychosozialer Ansatz bekannt wurde. Diese psychosoziale Herangehensweise wird in den von ihm formulierten acht Krisen deutlich, die sich im Lebenslauf aus der Einbettung der Person in die Sozialordnung nacheinander ergeben und gelöst werden müssen. Die Krise im Jugendalter nannte er „Identität versus Identitätsdiffusion“. Damit deutete er die beiden möglichen Ergebnisse dieser Herausforderung an, nämlich entweder eine aktiv erworbene Selbsterkenntnis und Zukunftsperspektive oder aber einen anhaltenden Zustand der Verwirrung, der es Jugendlichen erschwert, die folgenden Krisen zu meistern.

Aus den oben gemachten Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass das Jugendalter lange Zeit als Lebensphase angesehen wurde, die durch eine normative Krisenhaftigkeit gekennzeichnet ist. Dies wurde zum einen auf das Erleben intrapsychischer Veränderungen bezogen, zum anderen auch auf das Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt. Die dahinterstehende Annahme war, dass die weitreichenden körperlichen Veränderungen zu Beginn des Jugendalters im Sinne eines Störreizes fungieren würden. Es wurde davon ausgegangen, dass aufgrund dieser körperlichen Veränderungen und der insgesamt auftretenden Kumulierung von Entwicklungsanforderungen in der Jugendphase eine Destabilisierung der psychischen Strukturen erfolge, was zu einer besonderen Labilität sowie zu Verhaltensunsicherheiten beitrage (vgl. beispielsweise A. Freud, ebd.).

In neueren Theorien der Entwicklung im Jugendalter zeichnet sich eine veränderte Auffassung des Jugendalters, aufgrund einiger den Krisentheorien widersprechenden empirischen Befunden und einem Paradigmenwechsel ab, der die isolierte Betrachtung einzelner Lebensalter zugunsten einer menschlichen Entwicklung über die gesamte Lebensspanne aufgibt (vgl. Oerter & Montada, 1998; Oldham, 1978). Im nächsten Abschnitt werden nun einige dieser neueren Theorien exemplarisch dargestellt.

2.2.2. Neuere Entwicklungstheorien der Adoleszenz

Zu Beginn dieses Jahrhunderts bemerkten Kulturanthropologen wie Margaret Mead (1979a,1979b) und Ruth Benedict (1955), dass die Sturm-und-Drang-Theorie für zahlreiche nichtwestliche Kulturen nicht gelte. Sie beschrieben Kulturen, deren Kinder sukzessive Verpflichtungen der Erwachsenen übernahmen, ohne dass es einen plötzlichen krisenhaften Übergang oder eine Zeit der Unsicherheit gegeben hätte. Man verstand, dass die eher negative Sicht des Jugendalters u.a. auch mit einer nicht repräsentativen Auswahl von Jugendlichen, wie psychosozial auffälligen Gruppen, z.B. neurotischen (A. Freud, 1960) , zusammenhing und dass die Befunde dann auf die Entwicklung im Jugendalter allgemein generalisiert worden waren. Im deutschen Sprachkreis untersuchte Nickel (1975) die klassische entwicklungspsychologische Konzeption des Jugendalters. Das daraus resultierende, derzeit meinungsbildende Ergebnis besagt, dass der Übergang von der Kindheit in die Adoleszenz eher von Stabilität und kontinuierlichen Entwicklungssträngen gekennzeichnet ist als von Aufruhr und Destabilisierung. Er weist außerdem darauf hin, dass gesellschaftliche, kulturelle, sozioökonomische sowie schulische und familiäre Bedingungen den Entwicklungsprozess im Jugendalter in hohem Maße modulieren. In den siebziger Jahren setzten schließlich, ausgehend von den USA, große Längs- und Querschnittstudien ein, in denen zum ersten Mal die Entwicklung normaler Jugendlicher über einen Zeitraum von mehreren Jahren verfolgt wurde. Die Ergebnisse solcher Studien waren eindeutig: Wenige Jugendliche erfahren die laut Theorie erwartungsgemäße innere Zerrissenheit und zeigen das zugehörige unberechenbare Verhalten (Offer, Ostrov & Howard 1981; Shell 2000). Als Beispiel sei hier eine Untersuchung von Offer und Mitarbeitern angeführt, die über 20000 Jugendliche zu ihren persönlichen Erfahrungen und ihrem Selbstbild befragten. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass normale Jugendliche „gut angepasst leben, sich guter Beziehungen zur Familie und zu Freunden erfreuen und die Werte der Gesellschaft akzeptieren“ (Offer et al., 1981, S.116). Fuchs-Heinritz (2000) untersuchte 2000 die Zukunftsorientierungen von Jugendlichen und kommt zu folgendem Schluss: „In der Sache spricht wenig für die Annahme, die Jugendliche wüssten angesichts von fortdauernder Arbeitslosigkeit, von Flexibilisierung, Globalisierung und rasantem Wandel in allen Bereichen des Lebens nicht aus noch ein, eher im Gegenteil. Einigermaßen zuversichtlich versuchen sie, ihre Lebensperspektive vorzubereiten, ihre Möglichkeiten im Beruf auszuschöpfen und ein befriedigendes Privatleben zu erreichen. Sie sind insgesamt nicht aufgeregt oder gar verängstigt, ja, sie wirken hin und wieder geradezu entschlossen, die vor ihnen liegenden Herausforderungen zu meistern.“ (S.92). Die Persönlichkeitsentwicklung scheint also von der frühen Adoleszenz bis zum Erwachsenenalter viel konstanter zu verlaufen, als es das traditionelle Konzept der Unruhe und Unausgeglichenheit erwarten lässt. In der Folge änderte sich auch die Theoriebildung. Das Bild des Jugendlichen, der mehr oder weniger passiv und „automatisch“ bestimmte Entwicklungsprozesse durchläuft, hat sich gewandelt zu einem Bild von einem aktiv den Entwicklungsverlauf beeinflussenden Adoleszenten. Das Individuum wird nun als „Produzent seiner eigenen Entwicklung“ (Lerner, 1984, 1987) verstanden, es kann den sozialen und physikalischen Kontext, der ihn beeinflusst, wiederum selbst beeinflussen. Die enorme Koordinationsleistung, die somit bei der Bewältigung alterstypischer Entwicklungsaufgaben geleistet werden muss, wird in der Fokaltheorie Colemans (1990) erläutert. Diese Theorie geht davon aus, dass Jugendliche durch Hierarchisierung, Fokussierung und das sukzessive Bearbeiten der Entwicklungsaufgaben selbst dazu beitragen, dass trotz der Kumulation von Entwicklungsanforderungen das Jugendalter nicht zwingend einen krisenhaften Verlauf nehmen muss. Die unterschiedlichen Entwicklungsanforderungen (z.B. Selbstbild, heterosexuelle Beziehungen) haben in verschiedenen Stadien des Entwicklungsprozesses jeweils ihren Höhepunkt. Nach Coleman ist die Lösung eines Problems keine Voraussetzung für das Erreichen der nächsten Entwicklungsstufe, bestimmte Entwicklungen sind nicht an Altersstufen gebunden und die Abfolge der Entwicklung ist nicht unabänderbar. Stabile, gesunde Jugendliche konzentrieren sich jeweils nur auf einen Problembereich. Bei Jugendlichen, die durch summierte Belastungen (z.B. chronische Krankheit, verspätete Pubertät und Probleme in der Schule) gezwungen sind, mehrere Probleme gleichzeitig zu bewältigen, ist es wahrscheinlicher, dass Anpassungsschwierigkeiten auftreten (Hendry, Gendinning, & Shucksmith, 1996).

Weiterhin weist schlechte Anpassung während der Jugend auf schlechte Anpassung im Erwachsenenalter hin. Die Implikationen dieser Ergebnisse sind bedeutsam: Erleben Jugendliche tatsächlich die oben beschriebene innere Zerrissenheit oder Krise, so sollte das ernstgenommen werden. Ihre Probleme sollten nicht als Bestandteil einer normalen „Entwicklungskrise“ wegerklärt werden. Auch im Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst (1953, 1972) wird der Jugendliche als Agent dargestellt, der durch die Konfrontation mit realen Anforderungen Fertigkeiten und Kompetenzen erwirbt, die zur konstruktiven und zufriedenstellenden Bewältigung des Lebens in einer Gesellschaft notwendig sind. Havighursts Ansatz wird in Kapitel 2.3. ausführlicher dargestellt.

2.2.3. Zusammenfassung

In der vorausgehenden Darstellung der verschiedenen entwicklungspsychologischen Theorien wurde die Adoleszenz als Lebensabschnitt zwischen Kindheit und Erwachsensein beschrieben und unterschiedliche Alterseingrenzungen (z.B. Petersen & Leffert, 1993) vorgestellt. Aus Sicht A. Freuds ist die Jugend eine „turbulente Phase“, in der viele Kindheitskonflikte wieder auftauchen und gelöst werden müssen. Erikson betont in seinem psychosozialen Modell den Aufbau der Ich-Identität. In diesen frühen Theorien wurde das Jugendalter als Sturm-und-Drang-Zeit angesehen, während Kulturanthropologen wie Mead oder neuere empirische Untersuchungen (z.B. Offer et al. 1981) zeigen, dass dieser Lebensabschnitt von einem großen Teil der Betroffenen nicht turbulent und krisenhaft erlebt wird. Coleman (1990) nimmt an, dass Jugendliche den summierten Stress in der Adoleszenz deshalb so gut bewältigen, weil sie zu einer Zeit nur ein Problem fokussieren. Lerner (1984, 1987) betont zusätzlich, dass Jugendliche ihre Entwicklung nicht passiv erleben, sondern auch Produzenten ihrer eigenen Entwicklung sind.

Im Anschluss werden nun zunächst normative Anforderungen konzeptualisiert durch Entwicklungsaufgaben beschrieben, um danach eine chronische Krankheit als außergewöhnlichen Stressor im Leben eines Jugendlichen darzustellen.

2.3. Entwicklungsaufgaben

Unter Entwicklungsaufgaben werden in der psychologischen Diskussion die kulturell und gesellschaftlich vorgegebenen Erwartungen und Anforderungen verstanden, die an Personen einer bestimmten Altersgruppe gestellt werden. Sie definieren für jedes Individuum in bestimmten situativen Lebenslagen objektiv vorgegebene Handlungsprobleme, denen es sich stellen muss. Sie fungieren als Bezugssysteme, innerhalb derer die personelle und soziale Identität konstruiert werden muss (Havighurst, 1953, 1972). Das Konzept der Entwicklungsaufgaben wurde von Havighurst definiert und beschreibt den Lebenslauf als eine Folge von Problemen, denen sich das Individuum gegenüber sieht und die es bewältigen muss. Die zu bestehenden Hauptaufgaben betreffen das Selbst- und das Sozialkonzept, die sich gegenseitig bestimmen, im speziellen Annehmen der körperlichen Reife und der ausgereiften Sexualität, Neubestimmung sozialer Rollen, einschließlich der Loslösung von den Eltern und der Festlegung von Berufszielen. Jedes dieser Anliegen ist Bestandteil der Gesamtaufgabe, eine integrierte Identität aufzubauen. Im Einklang mit Eriksons (1981, 1994) Beschreibung des sozialen Identitätskontextes kann jede dieser Aufgaben als ein spezieller Entwicklungspfad betrachtet werden, der es Jugendlichen ermöglicht, sich selbst in bezug auf andere zu definieren. In der Festigung der sozialen Rolle sieht Erikson (1968/1981) eine wichtige psychosoziale Krise des Jugendalters, in der sich die Jugendlichen zwischen Identitätsfindung und Rollendiffusion bewegen. Eine ziemlich weitgehende Zuordnung bestimmter Themen zu Altersstufen nahm Nesswetha (1970) aufgrund der Analyse vieler von ihm erhobener Lebensläufe vor. Dabei diente eine biographische Zuordnung (Lehr & Thomae, 1965) bestimmter Konfliktformen und – arten als Orientierungshilfe. Ihm zufolge bildet die soziologische Gliederung des Lebenslaufs einen zwingenden Rahmen: „In der Kindheit häufen sich signifikant Themen, die mit Schule, Ausbildung, der Selbstdurchsetzung, dem Bereich der Eltern und Verwandtschaft zu tun haben. Vom 15.-24. Lebensjahr stehen im Vordergrund Themen der Berufswahl und Ausbildung, des Arbeitsplatzes , des gesamten sozialen Bereichs und besonders die Partnerwahl“ (Nesswetha, 1970, S.163).

Havighurst geht davon aus, dass die verschiedenen Anforderungen, die in einem bestimmtem Lebensabschnitt erfüllt werden müssen, durch eine besondere Kombination von inner-biologischen (z.B. physische Reifung), soziokulturellen (z.B. kulturelle Erwartungen) und psychologischen (z.B. individuelle Bestrebungen) Einflüssen erwachsen. Die Entwicklungsaufgaben, die Personen im Laufe ihres Lebens meistern müssen, entstehen also als Anforderungen durch besondere Konstellationen in der physischen Reife, in den soziokulturellen Einflüssen, und individuellen Fähigkeiten und Bestrebungen. Die Festlegung einer Aufgabe, die die Gesellschaft an den Einzelnen stellt, ist normativ, die Altersgrenzen für Entwicklungsaufgaben sind jedoch eher als deskriptives, variables Element dieses Konzeptes zu verstehen. Ebenso variiert der Grad der normativen Verpflichtung; einige Entwicklungsaufgaben sind als Angebote mit Empfehlungscharakter zu verstehen, andere sind durch Sanktionen gestützte Forderungen. Nicht alle Aufgaben sind jedoch vorgegeben, ein weiterer Teil setzt sich aus persönlichen Zielen und Projekten (z.B. Gestaltung einer Partnerschaft) zusammen. Entwicklungsaufgaben gliedern also den Lebenslauf und geben Sozialisationsziele vor (Oerter & Montada 1998). Beispiele für Entwicklungsaufgaben in der Jugendphase sind: Seinen Körper zu akzeptieren, eine männliche oder weibliche soziale Rolle zu lernen, einen Beruf wählen, emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsenen zu erreichen, eine Werteskala und ein ethischen System zu errichten und danach zu leben. Diese Aufgaben werden als Grundlage für die zukünftige Entwicklung betrachtet. Bezüglich der zeitlichen Zuordnung geht Havighurst davon aus, dass es innerhalb der Lebensspanne Zeiträume gibt, die für die Erledigung bestimmter Aufgaben besonders geeignet sind. Die Annahme solcher sensitiver Perioden bedeutet nicht, dass bestimmte Prozesse nicht auch zu einem späteren Zeitpunkt in Angriff genommen werden können; der Lern- oder Entwicklungsprozess erfordert dann aber einen wesentlich höheren Aufwand. Darüber hinaus unterscheidet Havighurst zwischen Aufgaben, die zeitlich abgeschlossen sind, und solchen, die sich über mehrere Perioden der Lebensspanne erstrecken. Diese unterschiedlichen Anforderungen bedingen eine Anpassung der Heranwachsenden. Da zu verschiedenen Zeitpunkten im Lebenslauf die Kombination von Anforderungen auf jeder Ebene unterschiedlich ist, lastet in jedem Lebensabschnitt ein bestimmter Satz von Anpassungsanforderungen auf der sich entwickelnden Person. Eine Entwicklungsaufgabe kommt während eines bestimmten Abschnittes im Leben auf, deren erfolgreiche Vollendung führt zu Zufriedenheit und Erfolg bei der Bewältigung folgender Aufgaben, während der Misserfolg zu Unzufriedenheit, zur Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit späteren Aufgaben führt (Havighurst, 1953/1972). Die Entwicklung des Individuums wird insgesamt von zwei Komponenten bestimmt, die immerzu in Veränderung begriffen sind: Der tatsächliche Entwicklungsstand und die soziokulturellen Anforderungen bezüglich gegenwärtig angestrebter oder zukünftiger Entwicklungsstufen. Der erste Schritt zu aktiver Beschäftigung mit der eigenen Entwicklung erfordert, dass der eigene gegenwärtige Entwicklungsstand und die Entwicklungsanforderungen der umgebenden Kultur wahrgenommen werden müssen. Der nächste Schritt besteht daraus, den Abstand zwischen dem eigenen Entwicklungsstand und den soziokulturellen Entwicklungsanforderungen abzuschätzen, um sich selbst Entwicklungsziele zu setzen. Der dritte Schritt beinhaltet Aktivitäten, die auf das Erreichen der Entwicklungsziele gerichtet sind. Schritt eins und zwei erfordern kognitive Aktivitäten, Schritt drei kann nur mit erkennbaren Handlungen erreicht werden. Adaptive Handlungen zwischen dem zweiten und dritten Schritt können zu einer Korrektur der ursprünglich angestrebten Ziele führen. Das Individuum nimmt also eine aktive Rolle bei der Gestaltung seiner eigenen Entwicklung ein. Zugleich verbindet die Entwicklungsaufgabe Individuum und Umwelt, indem sie individuelle Leistungsfähigkeit mit kulturellen Anforderungen in Beziehung setzt. Im Modell der Entwicklungsaufgaben bestimmt und determiniert das Individuum sein Entwicklungsziel selbst, dieses Ziel ist jedoch nicht das Ergebnis des unabhängigen freien Denkens des Individuums, sondern wird durch Merkmale der Umgebung mit beeinflusst. Betrachtet man die Interaktion von Individuum und Umgebung etwas näher, wird deutlich, dass es die Aktivitäten des Individuums sind, die bei dieser Wechselwirkung eine wichtige vermittelnde Rolle spielen. Dies stimmt mit der gebräuchlichen Annahme überein, dass das Individuum der Konstrukteur seiner eigenen Entwicklung ist (Lerner, 1984, 1987). Um die auch heute noch zutreffende Gültigkeit des Konzepts der Entwicklungsaufgaben in unserem Kulturkreis zu untersuchen, haben Dreher & Dreher (1985a, 1985b) mehrere Versuche durchgeführt. Sie legten Jugendlichen in Deutschland den von Havighurst formulierten Fragenkatalog vor und filterten zehn Entwicklungsaufgaben heraus, womit sie zwei weitere Aufgabengebiete einführten, denen die Jugendlichen eine große Bedeutsamkeit zumaßen. Die Themen „Werte“ und „sozial verantwortliches Verhalten“ wurden zu einer Kategorie zusammengefasst, und die Themen „Partnerbeziehungen“, „Selbstkenntnis“ und „Zukunftsplanung“ wurden hinzugefügt.

Tabelle 1: Entwicklungsaufgaben, aufgestellt von Dreher & Dreher (1985a, S.36) nach Havighurst (1953).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Insgesamt bestätigten die Untersuchungen, dass sich Jugendliche der Entwicklungsaufgaben bewusst sind und sich aktiv mit ihnen auseinandersetzen, die eigene Entwicklung wird als Lernen in eigener Sache mit hohem Interesse verfolgt (Dreher & Dreher, ebd.). Dreher & Dreher (1985a) nehmen außerdem an, dass die Orientierung an Altersnormen von Bedeutung dafür ist, wann Jugendliche sich mit einzelnen Entwicklungsaufgaben auseinandersetzen. Es ist dabei zu fragen, ob dieser Zeitpunkt nicht eher vom biologischen als vom kalendarischen Alter abhängt. Beide Werte zeigen für Jungen und Mädchen zwischen einzelnen Individuen gerade beim Eintritt in die Reifezeit deutliche Asynchronien, die sowohl von den Jugendlichen selbst, als auch von den Anderen unmittelbar erlebt werden. Diese Wahrnehmung aber beeinflusst nicht nur die Selbstdefinition der Jugendlichen, sondern auch die Erwartungen, welche die andere an den Jugendlichen richten. Für die Aufgabe „Auseinandersetzung mit dem eigenen Erscheinungsbild“ leuchtet der Bezug zum biologischen Alter unmittelbar ein, für andere Aufgaben ist sein Einfluss immerhin wahrscheinlich. Bereits die Überlegungen im Zusammenhang mit Akzeleration und Retardierung in der körperlichen Entwicklung machen deutlich, dass für die Jugendlichen einer Altersstufe die verschiedenen Entwicklungsaufgaben nicht alle gleich bedeutsam sein müssen.

Auch Coleman (1990) und Hendry et al. (1996) betonen, dass Jugendliche die einzelnen Themen, wenn möglich, nicht gleichzeitig, sondern nacheinander bearbeiten und sich so vor Überforderung schützen. Die Reihenfolge und Intensität, mit der sich Jugendliche den verschiedenen Aufgaben widmen, variiert in Abhängigkeit von ihren individuellen Vorerfahrungen und ihrer aktuellen Situation. Die einzelnen Themen können so auch bei Gleichaltrigen zu einem bestimmten Zeitpunkt unterschiedlich bedeutsam sein. Diese Befunde konnten empirisch von Hendry et al. (1996) und Goossens & Marcoen (1999) belegt werden. Der Übergang ins Erwachsenenalter ist dann möglich, wenn alle jugendaltersspezifischen Entwicklungsaufgaben bewältigt und zugleich - was teilweise Voraussetzung hierfür ist - die psychodynamischen Veränderungen sowie der Prozess der inneren Ablösung von den Eltern abgeschlossen sind, wenn also die „Adoleszenzkrise" bewältigt ist. Die Gewinnung der Identität gegenüber der drohenden Zerstückelung und Diffusion des Selbstbildes und des Selbstverständnisses wird als der Kernkonflikt des Jugendalters verstanden. Das von der (Erwachsenen-) Gesellschaft angebotene Weltbild wird systematisch nach seiner Deutungsleistung abgefragt, wobei Defizite und Leerstellen, Widersprüche und Ambivalenzen Ausgangspunkt und Auslöser für heftige Orientierungs- und Selbstwertkrisen sein können (Erikson, 1981). Die Suche nach der eigenen Identität ist ein phasenspezifisches Charakteristikum des menschlichen Entwicklungsprozesses, das in der gegebenen Form typisch und charakteristisch für das Jugendalter ist und in der Regel in dieser Form auch nur im Jugendalter auftritt (Olbrich & Todt, 1984). Folglich soll es im Weiteren um die Betrachtung des Problems und der Aufgabe einer Identitätsentwicklung und -findung im Jugendalter gehen.

2.3.1. Identitätsentwicklung in der Adoleszenz

Um die Thematik der Identitätsbildung als eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben (vgl. z.B. Cooley, 1902) im Jugendalter sinnvoll beschreiben zu können, ist eine Eingrenzung und Präzisierung des Begriffes der Identität unerlässlich. Um dies wiederum zu leisten, ist zumindest eine kurze Darstellung einiger Forschungsansätze notwendig, die sich mit der Identitätsbildung, insbesondere während der Adoleszenz, beschäftigt haben. Ausgehend von den Arbeiten Eriksons (1968/1981) hat sich das Spektrum der Identitätstheorien (vergleiche z.B. Kroger, 1989) um mehrere neue Ansätze erweitert. Es verbinden sich damit heute Forschungen zur Entstehung von Selbstkonzepten (z.B. Haußer, 1995) mit psychoanalytisch orientierten Theorien der Ich-Entwicklung (z.B. Loevinger, 1977) und „echten“ Identitätstheoretikern (Erikson, 1968; Marcia, 1966, 1988). Waterman (1985) definiert den Begriff so: „Identität bezieht sich auf klar beschriebene Selbstdefinitionen, die jene Ziele, Werte und Überzeugungen enthält, die eine Person für sich als persönlich wichtig erachtet und denen sie sich verpflichtet fühlt“ (S.6). Identität meine insofern mehr als lediglich die Summe von Konzepten über sich selbst; sie hat zahlreiche Funktionen für die Persönlichkeit, gerade in Zeiten rascher Entwicklung und sozialen Wandels (Copersmith, 1967). Hierunter zählen beispielsweise die Wahrung der Kontinuität von der Vergangenheit in die erwartete Zukunft, die Verleihung vom Zielbezug und Sinn im Leben, die Stiftung von Kohärenz des Handelns in verschiedenen Lebensbereichen, schließlich die Möglichkeit, sich von anderen sowohl als selbständiges Individuum abzusetzen als auch sich mit ihnen unter gemeinsamen Zielen zu solidarisieren (Fend, 2000). Identität in diesem Sinne ist auch eines der Kernkonzepte der psychosozialen Entwicklungstheorie, die Erikson (1968/1981, 1994) vertritt, der bekanntlich lebensphasenspezifische Umstrukturierungsprozesse der psychischen Organisation formuliert und jeweils für bestimmt Lebensphasen Schwerpunkte ausgemacht hat. Die Adoleszenz ist für ihn eine schwierige, aber zugleich herausfordernde Phase in der menschlichen Entwicklung, da in kurzer Zeit enorme Veränderungen auf den Jugendlichen einstürmen. Die Geschlechtsreifung bringt einen "neuen" Körper hervor, mit dessen sexuellen Impulsen der Jugendliche lernen muss umzugehen. Gleichzeitig wird ein sozialer Druck in Form der Entscheidung, welche Ausbildung man durchlaufen soll, auf die Jugendlichen ausgeübt. Im psycho-sozialen Moratorium, der jugendlichen Schonzeit, kann der Jugendliche mit verschiedenen Rollen sowie Leitbildern und Verhaltensweisen experimentieren. Jedoch müssen die Jugendlichen Entscheidungen treffen, wie die Berufswahl, die zu einer endgültigen Selbstdefinition und so zur Festlegung des weiteren Lebens führen. Das erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft, weil man aus einer Vielzahl von Rollenmodellen auswählen muss. Misslingt die Aufgabe, ein Bild von sich selbst und seinem Umfeld zu machen, kommt es gemäß Erikson zu einer Identitätsdiffusion. Der Jugendliche wirkt dann zersplittert, ist extrem unsicher in bezug auf einen oder mehrere Aspekte seiner Identität, z.B. seiner Berufswahl oder sexuellen Orientierung. Die Folge einer solch diffusen Identität ist ein Gefühl der Verwirrung. Intoleranz, Überidentifikation und die Angst, den unterschiedlichen Anforderungen nicht gerecht zu werden, sind Reaktionen des Jugendlichen gegen dieses Gefühl. Der Versuch, Halt zu gewinnen durch ideologische Radikalität, Flucht in eine irreale Welt (Drogen, Askese, Sekten, Beschäftigung mit Bizarrem) und das Weglaufen von zu Hause erscheinen dem Jugendlichen als hilfreich, um diese Krise zu überwinden. Mit seiner Diskussion von Selbst und Identität sowie seiner Bezugnahme auf Rollen und Rollenverhalten stellt Erikson eine Brücke zwischen psychoanalytischen und soziologischen Sichtweisen dar. Der Entwicklungspsychologe und Jugendforscher Marcia (1966, 1988) fühlt sich zwar Eriksons Ansatz der Identitätsentwicklung verpflichtet, er bricht jedoch mit zwei dogmatischen Annahmen Eriksons. Marcia will das Modell der Identitätsentwicklung so weit präzisieren und operationalisieren, dass es einer empirischen Prüfung zugänglich wird und damit ein wesentliches Kriterium wissenschaftlicher Theoriebildung erfüllt. Außerdem ist er nicht auf altersgebundene Phasenthematiken und irreversible Krisenlösungen fixiert. Unter diesen Prämissen entwickelte er 1966 ein Instrument zur Erhebung von Identitätszuständen, das „Identity Status Interview“. Während dieses Interviews werden dem Probanden eine Reihe von Fragen vorgelegt, die darauf abzielen, das Ausmaß an Verpflichtung (commitment) in verschiedenen Bereichen, wie Beruf, Religion und Politik, zu erfassen. Marcia fand auf diese Weise vier Formen der Identität, die er als jeweiligen Identitätsstatus bezeichnet.

Tabelle 2: Identitätsformen und jeweilige Charakteristika nach Marcia (1966)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dieser Identitätsstatus kennzeichnet einzelne Bereiche des Lebens, mit denen sich die Jugendlichen auseinander zu setzen haben, hinsichtlich der drei Dimensionen Krise, Verpflichtung und Exploration. Krise beinhaltet das Ausmaß an Unsicherheit, Beunruhigung oder auch Rebellion, das mit der Auseinandersetzung verbunden ist. Verpflichtung kennzeichnet den Umfang des Engagements und der Bindung in dem betreffenden Lebensbereich; Exploration erfasst das Ausmaß an Erkundung des in Frage stehenden Lebensbereichs mit dem Ziele einer besseren Orientierung und Entscheidungsfindung (Marcia, 1966, 1988). Die Komponente der Exploration als entscheidende Strategie der Bewältigung von Identitätsproblemen wird neuerdings stärker betont ( Fend, 1991). Dies liegt nicht zuletzt an der in unserer Gesellschaft vorhandenen Vielzahl von Skripts und Lebensmöglichkeiten, die sich in viele Einzelaspekte (wie z.B. Familie, Freizeit, Beruf) aufgliedern. In der Moderne gibt es keine geschlossene Lebensform mehr, die das Skript des Lebens klar konstituiert, in regelmäßige biographische Abläufe gliedert und die einzelnen Lebensbereiche konsistent integriert. Es wird zur Leistung der sich entwickelnden Person, ein konsistentes Selbstkonzept zu entwerfen. Haußer (1995) sieht das Selbstkonzept - neben dem Selbstwertgefühl und der Kontrollüberzeugung - als eine Komponente der Identität an, die über verschiedene Bereiche und den zeitlichen Verlauf generalisiert bzw. spezifiziert wird, was die folgende Abbildung verdeutlicht.

Abbildung 1: Die Generalisierung und Spezifizierung der drei Identitätskomponenten (Haußer, 1995, S.26)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.3.2. Das Selbstkonzept im Jugendalter

Das Selbstkonzept wird von verschiedenen Autoren wie z. B. Coleman (1990) als zentrale Variable der Adoleszenz angesehen. Nach Linville (1986) setzt sich das Selbstkonzept aus kognitiven Strukturen oder auch Kategorien zusammen, die zur Organisation des Wissens über die eigene Person herangezogen werden können. Sie repräsentieren etwa Persönlichkeitseigenschaften, physische Eigenschaften, Rollen, aber auch Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Vorlieben, Einstellungen, explizite Kategorien- bzw. Gruppenmitgliedschaften usw.. Die Ausbildung solcher Selbst-Aspekte ist eine Funktion der Erfahrung, die eine Person in verschiedenen sozialen Rollen, Beziehungen und Situationen sammelt (Groschek, 1979). Auch Rosenberg (1965) bemerkt, dass Jugendliche im Alter von 15-18 Jahren lebhaft an ihrem Selbstbild interessiert sind. Er begründet die besondere Stellung des Selbstkonzepts in diesem Entwicklungsabschnitt damit, dass das Jugendalter eine Zeit bedeutsamer physischer und psychischer sowie damit einhergehender rollenspezifischer Veränderungen sei. Weiterhin sei die Adoleszenz, besonders die späte, ein Alter, in dem viele grundlegende Entscheidungen getroffen werden müssen.

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Excerpt out of 118 pages

Details

Title
Das projizierte Selbstbild gesunder und diabetischer Jugendliche - eine inhaltsanalytische Auswertung projektiver Narrative
College
University of Bonn  (Psychologie)
Grade
2
Author
Year
2002
Pages
118
Catalog Number
V6428
ISBN (eBook)
9783638139960
File size
1237 KB
Language
German
Notes
An die inhaltsanalytische Auswertung schloss sich eine multivariate Analyse mit Hilfe von SPSS an.
Keywords
Selbstbild, Jugendliche, Auswertung, Narrative
Quote paper
Christina Bitzen (Author), 2002, Das projizierte Selbstbild gesunder und diabetischer Jugendliche - eine inhaltsanalytische Auswertung projektiver Narrative, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6428

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